Forschung als Wühlarbeit

■ Was ist feministische Wissenschaft? Auf dem UNiMUT-Kongreß der streikenden StudentInnen war dies eine der zentralen Fragen / Wir dokumentieren hierzu den Redebeitrag der Berliner Professorin Christina Thürmer-Rohr / Sie skizziert noch einmal die Essentials feministischer Kritik an den herrschenden Wissenschaften und den politischen Impuls der Frauenforschung

Christina Thürmer-Rohr

Die Frage, was feministische Wissenschaft und Wissenschaftskritik sei, ist nicht in einem kurzen Statement zu beantworten; sie ist überhaupt nicht zu beantworten mit allgemeinverbindlichen Definitionen und Festlegungen. Feministische Wissenschaft hat zunächst ihren Boden in einem Unrechtsbewußtsein von Frauen, sie hat einen außerwissenschaftlichen, nämlich politischen Impuls, sie setzt eine Haltung der Kritik und des Widerspruchs gegenüber dem Skandal der Geschlechterverhältnisse voraus, der sich in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen in unterschiedlicher Weise spiegelt. Feministische Wissenschaft greift die Geltungsberechtigung von Normen an, die die Männergesellschaft im allgemeinen und ihre Wissenschaften im besonderen tragen. Sie stellt damit die erwünschte Loyalität mit dem Mann und seinen Herrschaftsansprüchen in Frage, seine Herrschaft auch noch in ihren abgetakelten Formen und in den Formen des Attentats auf alles, was tatsächlich oder vermeindlich zu seinem Untertan gemacht werden kann: Frauen, arme Länder, „Natur“. Feministische Wissenschaft ist somit nicht ein wissenschaftliches Spezialgebiet, das anderen Spezialgebieten hinzuaddiert werden könnte, sondern immer auch Gesellschaftskritik und Herrschaftskritik egal, in welchen Fachdisziplinen sie angesiedelt ist.

Mit der ersten Sommeruniversität für Frauen in Berlin 1976 (Frauen und Wissenschaft) geriet vielen Frauen innerhalb und außerhalb der Universität erstmals ein Faktum ins Bewußtsein, das heute schon fast seine Sprengkraft verloren hat, weil wir es immer und immer wieder gehört und gesagt haben: daß nämlich Frauen sowohl als Gegenstand der Wissenschaft als auch aus den höher qualifizierten wissenschaftlichen Berufen weitgehend ausgeschlossen sind; sie sind weder Subjekt noch Objekt von Wissenschaft. Seither hat sich einiges geändert, aber diese Veränderungen sind weniger institutionelle als personengebundene Veränderungen.

Vor allem ist in den letzten zehn bis 15 Jahren eine große Menge feministischer Literatur entstanden: Lesestoff, großenteils erarbeitet von Frauen auf den Schleudersitzen wissenschaftlicher Berufe - im Mittelbau, mit Kurzzeitverträgen, in Forschungsprojekten ohne längerfristige Perspektive -, Lesestoff, der eine entscheidende politische Funktion bekommen hat als allgemeiner „Bildungsstoff“ für Frauen, der allerdings von den wissenschaftlichen Herren größtenteils nicht zur Kenntnis genommen wird. Die „offizielle“ Landschaft des Wissens ist kaum berührt worden, der Androzentrismus scheint ungebrochen: Ein Denken und Forschen, das sich entwickelt hat aus der Sicht und im Interesse einer selbstherrlichen Position der Sieger.

Die Universität ist weiterhin eine der rigidesten, ängstlichsten und aggressivsten Einrichtungen, wenn es um die Verteidigung der männerbündischen Privilegien und um die Verteidigung des patriarchalen Denk-Erbes geht und darum, Frauen als denkenden Wesen Wort, Raum und Geld zu geben. Wert-Demontage

Der Grad der Abwehr ist eigentlich gar nicht so verwunderlich. Denn feministische Wissenschaft ist, wäre sie präsent und unübersehbar, nicht nur eine eingebildete Bedrohung; sie bedeutet eine umfassende Wert-Demontage, wie sie der Mann im allgemeinen nicht gewohnt ist, sofern sie nicht von ihm selbst vorgenommen wird.

1. Feministische Wissenschaft streitet dem Mann das Recht ab, ein Privileg auf bezahltes Denken, auf bezahlte geistige Arbeit zu besitzen. Sie fordert darüber hinaus ein Denken, das sich „autonom“, das heißt unabhängig von seiner geistigen und persönlichen Gängelung entwickeln kann und somit außerhalb seines Einflußbereichs und seiner Kontrolle liegt. Sie fordert nun sogar 50 Prozent der wissenschaftlichen Arbeitsplätze für Frauen - eine geradezu märchenhafte Perspektive - und eine konsequente und rigorose Personalpolitik. Sie fordert eine kontinuierliche wissenschaftliche Weiterqualifizierung von Frauen, damit eine wie auch immer angesetzte Quotierung nicht an formalen Qualifikationsmängeln scheitert. Sie fordert feministische Forschung in allen Fachbereichen und die Hälfte der Mittel, Räume et cetera - Geld statt Almosen. Das sind Forderungen, die eine Universität meines Wissens bisher noch nie vernommen hat. Aufdeckung der Lügen

2. Nicht weniger bedrohlich müssen den Männern die inhaltlichen Forderungen vorkommen, sofern sie sie ernst nähmen. Feministische Wissenschaft bezichtigt viele der vorliegenden Theorien und Annahmen über den Menschen und seine Gesellschaften der Lüge. Die herrschenden Wissenschaften haben es, besonders was Frauen betrifft, mit der Wahrheit nicht sonderlich ernst gemeint. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, stand über dem Hauptportal der Freiburger Universität, die ich vor dreißig Jahren mit ziemlicher Ehrfurcht in meinem ersten Semester betrat. Das war 50 Jahre, nachdem die ersten Frauen deutsche Universitäten betreten durften, und 60 Jahre, nachdem eine der ersten deutschen Studentinnen in Zürich (einem internationalen Sammelplatz von Frauenrechtlerinnen und Feministinnen um die Jahrhundertwende) in ihr Tagebuch schrieb: „Wir brauchen neue Bücher (...) Ich will die alten Bücher nicht mehr, sie lügen, sie verleumden uns. Sie sind von Leuten geschrieben, die uns nicht kennen.“ Welche Wahheit also? Wessen Wahrheit wird uns frei machen?

Feministische Wissenschaft besteht auf einer einfachen Wahrheit, die kaum ein Mann ertragen kann und hören will und die in der erwähnten ehrwürdigen Behauptung, die Martin Heidegger in goldenen Buchstaben anbringen ließ, mit Sicherheit nicht gemeint war, nämlich der, daß Aufschlüsse über die Welt und Einsichten in sinnvolle, gerechte und nicht schädigende Lebensmöglichkeiten ihrer Bewohner niemals allein erarbeitet und erdacht werden können aus der Perspektive eines Geschlechts, das seit Jahrtausenden die Macht über Hirne und Körper anderer, die Macht über Wissen und Entscheidungen, Urteile und Vorurteile in Händen hält, ohne zu erfahren oder zur Kenntnis zu nehmen, wie es sich auf der anderen Seite lebt.

Die Deformation des Mannes als Machtträger, der sich in seiner Machtanmaßung weiterhin sicher und bestätigt fühlt, macht ihn untauglich zum alleinigen Wahrheitssucher was immer das heute heißen mag. Die Schäden, die er mit unentbehrlicher und tatkräftiger Hilfe seiner Wissenschaften angerichtet hat, sind heute unschwer als eine Folge seiner Machtüberschätzung zu erkennen.

Feministischer Wissenschaft geht es darum, in den verschiedenen Disziplinen diejenigen Machttaten und -übergriffe offenzulegen, die zur Schädigung ihrer Objekte geführt haben beziehungsweise zukünftig führen werden, um patriarchale Taten, die Gewalt in physischer, in psychischer, in technologischer, in geistiger, in politscher, in institutioneller und ähnlicher Gestalt in die Welt bringen und in der Welt lassen. Damit wird auch die Zusicherung der Lüge bezichtigt, diese Wissenschaften dienten dem Wohl ihrer „Objekte“ und der Mann könne wissen, was dieses Wohl sei.

Feministische Wissenschaft läßt sich somit nicht reduzieren auf ein „frauenspezifisches“ Insel-Dasein, auf eine bloße Zutat, die die traditionellen Gegenstandsbereiche mit dem un - oder falschbeackerten Gegenstand „Frau“ auffülle. Vielmehr erhebt sie den Anspruch, vom historischen Ort der gesellschaftlich Ausgegrenzten aus, der Frauen, zur Realität der Männergesellschaft und ihrer Wissenschaften mit wissenschaftlichen Mitteln Stellung zu nehmen und damit eigene Weltansichten und Weltbilder zu entwickeln und in die Welt zu bringen: zu Realität werden zu lassen. Verschärfte Einblicke

3. Wenn feministische Wissenschaft die Frau selbst zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht, mag sie zunächst am unverfänglichsten erscheinen. Denn wenn sie sich in die Geschichte, die Produkte, die Psyche einzelner Frauen oder in sich selbst als exemplarischem Subjekt der Forschung vertieft, stört sie zunächst die Kreise der möglichen Widersacher nicht. In der Tat geht es hier weniger um Wissenschaftskritik - auch wenn in solchen Analysen immer wieder irreführende, untaugliche oder manifest falsche Theoreme über Frauen zurückgewiesen werden müssen - als um die Erarbeitung neuen Wissens über die Lebensrealität von Frauen. Hier geht es sozusagen um das eigenständige „Kennenlernen“ der Menschen, die Frauen sind, unabhängig vom Blick einer simplizifierenden und verzerrenden Geschlechterideologie: um das Ausgraben vergessener Arbeiten, Lebensformen und Überlebensversuche, um das Analysieren von unverstandenen Verhaltensmustern, um das Präsentieren von sozialer und psychischer Realität von Frauen in ihren verschiedenen historischen und gegenwärtigen Lebenszusammenhängen. Diese Arbeiten können also ein Wissen über Frauen schaffen, das in wenigen Studiengenerationen vor den jetzigen Studentinnen im Rahmen der Wissenschaften vom Menschen nicht existierte.

Aber auch in vorwiegend subjektbezogenen Recherchen kann niemals ausgeblendet werden, unter welchen Bedingungen welche Frauen wie geworden und gemacht worden sind beziehungsweise sich nicht haben machen lassen. Insofern ist auch die Analyse individueller Lebensgeschichten oder des Mikrokosmos der Einzelpsyche immer auch ein Beitrag zur Kritik an gesellschaftlichen Strukturen, die die einzelne Frau stellvertretend für andere schädigen oder anpassen, einschränken und behindern oder - Rebellion gegen jene freisetzen. Eine solche Arbeit ist nie wertneutral, sie folgt immer auch dem Motiv der Selbstveränderung der untersuchenden, reflektierenden, nachdenkenden Frau. Und die Veränderungen ihres Blicks, die Verschärfungen ihres Einblicks sind selten im Interesse einer Gesellschaft, die Frauen gern lassen möchte wie sie sind oder waren - es sei denn, sie verändern sich zur jeweils erwünschten Version der „neuen Frau“ - und die das Interesse der Frau lieber auf die Mitglieder des anderen als auf die des eigenen Geschlechts gerichtet sieht. Die Mittäterschaft der Frau selbst am eigenen Funktionieren in den Systemen der Gewalt, der Vereinnahmung, der Kleinhaltung, zu analysieren, auf den Begriff zu bringen, ist ein Weg, auch über wissenschaftliche Arbeit die Fähigkeit zum gehorsamen Mit-Agieren zumindest schwerwiegend zu irritieren. Leidenschaftliches Interesse

Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Universität dazu dienen soll oder dienen könnte, der Gesellschaft ein Bewußtsein ihrer selbst zu geben, Bewußtsein zu reflektieren und zu kritisieren, dann wird der zutiefst anachronistische Charakter der Institution überdeutlich, ja grotesk. Klaus Heinrich hat vor einiger Zeit von der Geistlosigkeit der Universität und der totalen Enterotisierung der Beziehung zwischen den Universitätsmitgliedern und ihrer Institution gesprochen. Dem ist, zumindest die Mehrheiten betreffend, wohl nicht zu widersprechen.

Aber ich denke, daß die historischen Neuankömmlinge, die Frauen, zwar nicht gerade ein erotisches Verhältnis zu dieser Institution gefunden haben oder dieses vermissen, aber ein erotisches Verhältnis zur eigenen und zur gemeinsamen inhaltlichen Arbeit: Lust und Neugierde auf die eigenen Ent-Deckungen und diejenigen der anderen. Wir haben im Unterschied zu vielen Männern noch Fragen, und diesen wollen wir nachgehen. Forschen heißt fragen und heißt fordern, ersuchen, verlangen, wühlen. Forschen in diesem alten Sinne heißt unerbittliches Wissenwollen, ist Wühlarbeit, und wer diese aufnehmen will, braucht ein starkes, ein eigenes Motiv, einen leidenschaftlichen Anlaß. Frauen in der Männergesellschaft und Männeruniversität haben Anlaß zur Frage, ein Verlangen nach Aufklärung, in dem ein existentielles Interesse an der Welt und an sich selbst zum Ausdruck kommt.

Ich bin der Meinung, daß eine Veränderung der gegenwärtigen Misere nur von Studentinnen vorangetrieben werden kann. Die wenigen durch die qualitativen und quantitativen Anforderungen feministischer Arbeit meist zunehmend ausgelaugten und überforderten Professorinnen und Mitarbeiterinnen können das kaum. Studentinnen sind mittlerweile zu einer „Menge“ geworden, die mit ihren Forderungen unübersehbar werden, sofern sie sie unablässig präsentieren. Und die inhaltlichen Argumente, die diese Forderungen stützen, sind in Hülle und Fülle von ihren Vorgängerinnen erarbeitet worden.