Von Schlitzohr zu Schlitzohr

Mit undiplomatischer Blumigkeit feiert Genscher Andreottis Siebzigsten / Lobeshymne auf den Europäer und Staatsmann, auf Italiens prominenteste Skandalnudel  ■  Aus Rom Werner Raith

Es ist, wie's eigentlich nur im „Wahlverwandten“ sein kann: „Der mit den Ohren“ hat sein Pendant gefunden - „den mit den Ohren“. Bundesdeutschlands Freidemokrat Hans-Dietrich Genscher, einst von Herbert Wehner wegen seiner Lauschwerkzeuge als Oberhorcher etikettiert, und Italiens Christdemokrat Giulio Andreotti, von Karikaturisten vornehmlich wegen ebenfalls gewisser Auffälligkeiten mit DraculaSpitzohren verzeichnet, mußten sich nicht erst suchen: sie haben sich gefunden, seit langem, und nicht nur weil sie berühmt für die Wahrnehmung auch leisester Vibrationen sind. Gefunden haben sie sich vor allem dort, wo sie sich beide am wohlsten fühlen: im Zentrum der Macht. Denn die, so ein berühmter Ausspruch Andreottis, „verschleißt nur den, der sie nicht hat“. Der Satz hat Genscher so gut gefallen, daß er ihn soeben in einen Jubel -Artikel aufgenommen hat, der den Siebzigsten des italiensichen Amtsbruders feiert. Ziemlich überrascht hatten die Redakteure der italienischen Tageszeitung 'La Repubblica‘ vorige Woche vernommen, daß der deutsche Außenminister „aus Anlaß des Geburtstages Giulio Andreottis

-seines Kollegen und persönlichen Freundes - uns seinen Wunsch ausgedrückt hat, in unserer Zeitung seine Grüße zu überbringen“. Und so feiert ihn der Deutsche - unbekümmert um die Realität dieses schillerndsten aller italienischen Politiker - als „Europäer“, „Staatsmann“ und noch wegen diverser anderer Eigenschaften: „Er ist ein Meister der geschliffenen Feder, ein Schriftsteller aus Passion, der hohen Intellekt mit großer persönlicher Bescheidenheit verbindet.“ Und: „Seine weit gespannte humanistische Bildung macht ihn zu einem kultivierten Interpereten der politischen Ziele, die wir gemeinsam verfolgen.“ Kurz: „Der Staatsmann Andreotti hat uns gezeigt, daß Mensch und Menschlichkeit am Anfang und am Ende aller politischen Bemühungen stehen müssen. Dafür sind wir ihm dankbar.“ Amen. Da müssen wir uns wohl oder übel anschließen. Denn wie könnte bei solcher Engelscharakteristik etwa der Einwand stören, daß Andreotti vom Beginn seiner Ministerkarriere (seit 1954 siebzehnmal Minister und fünfmal Ministerpräsident) eine Art Ehrengast in nahezu allen Affären des Landes war. Nicht weniger als zwei Dutzend Parlamentskommissionen haben sich mit ihm befaßt, als Hauptperson oder jedenfalls als Mitwirkendem. Schon in den fünfziger Jahren gab es den ersten Skandal, als Andreotti als Schatzminister einen Bankchef ungestört walten ließ, der Zehntausende von Pensionären um ihr Geld brachte; im Mafia-Ausschuß mußte er sich wegen seiner engen Beziehung zu den sizilianischen Dunkelmännern ebenso verantworten wie in der Kommission um den bankrott gegangenen Bankier Michele Sindona (der später im Gefängnis an Gift-Kaffee starb); und im Zuge des „Maxi„-Prozesses in Palermo ging die Anklage Vorwürfen nach, Andreotti habe mit Hilfe verschlüsselter Botschaften den gerade nach Palermo entsandten Präfekten dalla Chiesa praktisch „zum Abschuß freigegeben“.

Vielleicht wird es dann doch nicht so sein, daß - wie Genscher schreibt - sich „am Geburtstag Andreottis seine italienischen Landsleute mit ihm freuen“.

'La Repubblica‘ kamen da wohl auch Zweifel. Die Original -überschrift Genschers „Herzlichen Glückwunsch, Giulio Andreotti“ änderte sie jenenfalls in „Die siebzig Jahre Andreottis“. Und in den Vortext schrieben die Redakteure vorsichtshalber hinein, daß Genschers Suada - „jenseits einer Wertung des Regierungsmannes Andreotti“ - vor allem die freundschaftliche Aufmerksamkeit eines großen europäischen Landes der italienischen Politik gegenüber“ ausdrücke. Deutlicher konnte die Ohrfeige für den Festschreiber wirklich nicht ausfallen.