Allen armen Teilen gerecht werden

■ Ulf Erdmann Ziegler und Ina Hartwig im Gespräch mit Thomas Virnich, einem Meister in der Kunst des Mitnehmens

taz: Uns ist aufgefallen, daß die Formen Ihrer Objekte eigentlich nicht aus Entschlüssen resultieren - wie, zumindest augenscheinlich, bei den meisten Skulpturisten. Wenn Serra sich nicht entschließen kann, den Stahl schräg oder gerade zu stellen, dann kann er sein Objekt nicht bauen. Sie setzen sich einem Spielballsystem von Zufällen aus.

Thomas Virnich: Das trifft genau meine Arbeit, daß ich nicht mit Ideen und Entschlüssen arbeite. Ich entdecke Dinge, beim Gehen, beim Laufen, beim Denken, beim Arbeiten wie ich zum Beispiel die Teile eines ehemaligen Ruderbootes namens „Vespucci“ in Florenz am Ufer des Flusses Arno fand. Ich sehe sofort die ganze Geschichte: den Fluß, die Teile ... Holz war immer Natur, aber vom Menschen benutzt worden, konstruktiv; ich sehe, wie die Teile wieder fast natürlich werden, da war ja Schlamm drauf, bin davon fasziniert und nehme sie mit. Das sind auch immer Entschlüsse, aber diese Entschlüsse sind offen. Da kommt direkt ein Freund von mir, sagt: Das mußt du so auslegen.

Als objet trouve.

Objet trouve, land art ... das mache ich genau nicht. Mein Entschluß ist nur „mitnehmen“.

Haben Sie denn jedes einzelne Fundstück am Ende tatsächlich verwendet: in der Berliner Ausstellung „Zeitlos“, jetzt im Bonner Kunstverein?

Ich habe jedes Teil verwendet ...

Hätten Sie aus der Masse der Fundstücke auch einzelne Teile heraussuchen können? Die guten ins Töpfchen ...?

Na, ich finde, gerade „Vespucci“ lebt von der liebevollen Arbeit mit allen Stücken. Eben nicht, daß ich entscheide: dies ist nun besonders schön, weil es an ein U -Boot erinnert oder an die Arbeit eines anderen Künstlers. Ich wollte allen armen Teilen gerecht werden. Und nicht nur den „schicken“.

Es sind dann noch mehr Teile entstanden, denn beim Blei -Reingießen brachen die auch. So wurden die auch handlicher, nicht?

Was war die Leitidee mit dem Blei - ummanteln, beschweren?

Erst einmal habe ich die Teile gezeichnet; wie man das macht, wenn man etwas schön findet: um es zu behalten. Ich könnte sie auch in Acryl gießen lassen - aber Kunststoff ist mir unsympathisch.

Neulich war ich auf einer Etrusker-Ausstellung, wo es Bleifiguren zu sehen gab, die so vermodert waren, daß sie wie Erde aussahen. Ich habe Fotos von den Ausgrabungen gesehen: Nur der Fachmann sieht, daß das Figuren sind. - Die „Vespucci„-Teile, nun, ich wollte sie irgendwie festhalten. Und habe gedacht'jetzt gießt man das einfach mal in Blei ein. Damit gibst du dem Ganzen ein Gewicht.

Einen Körper.

Richtige Körper gab das ja auch nicht! Das ist wichtig. In keinster Weise wollte ich „Skulpturen“ machen: Körper, Raumprobleme ... Sondern nur die Teile festhalten. Ich behaupte ja, daß jedes Teil in der Natur schön ist.

Und am Blei ist es die amorphe Qualität, die Sie anspricht? Daß es wie Naturmaterial erscheint?

Blei wirkt, gegossen, ja wie erstarrte Lava. Ich wollte ein Material nehmen, das nicht so bestimmbar ist. Mit Blei kann ich nicht machen, was ich will: zum Beispiel dünne Formen nicht.

Blei hat etwas Ungeschicktes, nicht? Von seinem lateinischen Namen kommt ja auch unser Adjektiv „plump“.

Ja. Wenn man Gold nehmen würde, würde das aussehen wie Goldschmuck: unglaublich kompliziert bearbeitet. Man sieht ja auch so, daß das gearbeitet ist, aber nicht, daß das sehr präzise gearbeitet ist.

Nebenbei: die Schiffe haben immer mit Blei zu tun. Der Kiel, der nach unten zieht, ist aus Blei. Assoziationen, die mir erst später gekommen sind. Aber das Schiff ist dann gar nicht mehr so wichtig. Es entsteht eine fremde Welt von Objekten. Die wirken, wenn sie sich anhäufen, immer natürlicher. Als wär‘ das ein zerrotteter Baum, wo alles herumliegt. Wird noch mehr Natur ...

Aber das ist ja nur Schein.

Ja, „natürlich“, das ist ein Schein: für eine Vorstellung.

Sie haben es ja bei den Holz/Blei-Objekten nicht belassen. Sie haben diese Teile mit Blech ummantelt und in die Blechformen Ton gegossen. Die sind nun gänzlich amorph, haben kaum noch Ähnlichkeit mit den Fundstücken, die ja noch deutlich das Artifizielle, das Handwerkliche an sich hatten. Wenn Sie diese Teile im Forst auslegen, wird sie niemand mehr finden.

Wahrscheinlich nicht ...

Sie brauchen also, wie die etruskischen Figuren, den musealen Raum, um zu zeigen: der Zufall ist Absicht. Sie brauchen den Kunstbetrieb, wie der Kunstbetrieb Sie braucht.

Ich würde ja gern solche Tonteile im Wald finden; aber weil ich sie nicht finde, stelle ich sie her. Ich kann nicht mehr machen, als daß man auch mehr guckt, was man so sieht.

Dazu, meinen Sie, könnten Sie schon beitragen?

Ja. Daß man dann auch anders guckt. Aber eigentlich wollte ich meine Vorstellung, als ich die „Vespucci“ fand, beleben. Wie kann man „beleben“ übersetzen?

Dieser Plastikbecher, zum Beispiel, ist für mich nicht spannend, weil es davon Tausende gibt. Wenn es davon nicht mehr als zwei gäbe, wäre das eines der spannendsten Objekte auf der ganzen Welt. Wenn man also zum ersten Mal zwei gleiche Teile hätte. Wenn wir aber zwei Tonbecher haben, dann sind die tatsächlich ungleich, weil sie mit der Hand gemacht sind. Wenn ich nun Materialien nehme, die sich nicht ganz fügen, habe ich quasi sicher das Ergebnis des Nicht -Gleichen.

Die Bildhauer hatten immer Spaß daran, noch einen Nackten abzubilden, weil das so schwer war. Die hatten die Scheiß-Meißel, den dicken Stein. Jetzt kannst du ein Teil in Carrara abgeben und sagen: Das hätte ich gern nochmal. Das ist ein rein technisches Phänomen geworden, jemanden abzubilden in Stein. Die Wiederholung ist langweilig geworden.

Vor ein paar Jahren haben Sie „Autos“ gebaut, „Flieger“ und „Bomber“. Dann haben Sie für die Objekte Hüllen gebaut, und „Kisten“ in mehreren Etagen. Nun haben Sie sich vom Inventar des Kinderzimmers gelöst?

Ja, ich habe für die Objekte archetypische Architekturen gebaut. „Du hast das Ding und machst da drum einen Raum.“ Simpler geht's nicht.

Ich habe ja angefangen - ich habe früher gemalt -, indem ich Bilder aufgeklappt habe. Dann habe ich mich stark für die Papierfaltungskunst der Japaner interessiert. Tolles japanisches Denken, aus einem Blatt Papier Räume zu machen!

Beim Aufbau der Ausstellung „Zeitlos“ im Sommer letzten Jahres haben Sie festgestellt, daß dort so viele „Kisten“ ständen: von Sol LeWitt, Vercruysse, Franz West, Imi Knoebel, Reinhard Mucha. Über sich selbst sagten Sie, Sie hätten „die Kiste verinnerlicht“ - ein Scherz?

Das war ganz, ganz ernsthaft. Die Kiste ist bei mir aus einer inneren Notwendigkeit entstanden; eben bei den Objekten, die ich verpackt habe. Ich habe erst etwas gemacht und darum eine Kiste. „Verinnerlicht“ - im bildhauerischen Sinne. Ich habe ja nicht die Kiste als Kiste gewollt. Die Kiste ist gekommen, um die Sachen tatsächlich zu halten.

Das Bauen als konstruktiven Vorgang haben Sie abgelegt. Im Gegensatz zu - als Beispiel - LeWitt?

Das ist ein intellektueller Vorgang für ihn. Er setzt sich mit der Architektur auseinander. Das tue ich auch, aber nach meinen Bedürfnissen. Ich hatte tatsächlich das Bedürfnis, meine diffizilen Objekte zu ordnen. Ich mache es wie einer, der aufs Land kommt, das anfängt zu bearbeiten und dann bemerkt, wie es regnet. Dann mache ich mich daran, etwas zu bauen.

Ich wollte, immer alles sollte künstlerischer Natur sein. Verschönern oder verstärken. Die Vorgänge sollten ja sichtbar sein. Sie sollen so gut sein, daß man sie alle zeigen kann.

Thomas Virnich: Bonner Kunstverein, noch bis zum 5.2.89; danach: Museum Wiesbaden, 5.3. bis 7.5.89, und Heidelberger Kunstverein, 14.5. bis 25.6.89.