Ein leerer Kühlschrank und ein totes Kind

■ Vor einem Jahr tötete Frau W. ihre jüngste Tochter, legte ihr einen Teddybär in den Arm und rief die Polizei / Gestern verhandelte das Landgericht und hörte viel über Armut und Unglück / Urteil am nächsten Montag

Die Frau auf der Anklagebank hat vor einem Jahr ihre achtjährige Tochter mit einem Kissen erstickt. Vorher hat sie das Kind gebadet und gekämmt, sich zu ihm ins Bett gelegt, bis es eingeschlafen ist. Dann ist sie lange im Wohnzimmer auf und ab gegangen und hat überlegt, wie sie es töten soll. Nachher hat sie dem toten Mädchen den Teddybär in den Arm gelegt. Der Tathergang steht fest, den hat die Frau selbst der Polizei angezeigt. Das haben auch die Untersuchungen des Gerichtsmedizin-Professors bestätigt, der zu konkretisieren weiß: „Der Vorgang des Erstickens nimmt gewöhnlich drei bis fünf Minuten in Anspruch.“ Warum die Frau ihr drittes Kind, ihre Tochter Patricia, getötet hat, versuchte gestern unermüdlich die II. Strafkammer des Landgerichts Bremen aus der Frau herauszufragen. Auskunft geben mußten auch ihre wenigen Bekannten bis hin zum zuständigen Sachbearbeiter vom Sozialamt. Das Urteil soll erst am Montag gesprochen werden.

38 Jahre war die Frau zur Tatzeit alt. Die eigene Kindheit faßt sie mit den Worten zusammen: „ganz normal“. Mit ihren Eltern versteht sie sich bis heute „gut“. Das einzige Nicht -ganz-Normale im Elternhaus erwähnt sie am Rande: Ihre ältere Schwester begeht mit 23 Jahren Selbstmord.

Mit zwanzig Jahren lernt die

Frau einen schwarzen GI kennen, den sie mag und heiratet. Sie bekommt ihre erste Tochter, geht mit ihrem Ehemann in die USA. Nach ein paar Monaten in der Fremde stirbt der Ehemann an einem Gehirntumor. Ein Schicksalsschlag, den sie, wie sie sagt, „nicht richtig verarbeitet“ hat.

Sie kehrt zurück nach Bremerhaven, lebt von der Witwenrente, bekommt ein zweites Kind. Sein Vater meldet sich in die USA ab. Sie versucht dem Vorsitzenden Richter ihre katastrophale Lage mit kargen Worten zu erklären: „Da saß ich dann eben mit zwei Kindern alleine.“

Sie kriegte „Ärger mit dem Jugendamt“. Ihre beiden Kinder kommen von einem Tag auf den anderen in Pflegefamilien, „die haben mich nicht gefragt“, ihre älteste Tochter sieht sie nur noch einmal kurz wieder: „Die wollte keinen Kontakt mehr zu mir.“

Am 27. Januar 1981 kommt ihr drittes Kind, die Tochter Patricia, zur Welt. Auch der Vater dieses Kindes geht wieder nach Amerika.

Den nächsten Schicksalsschlag umschreibt die Frau so: „Als der Dollar sank, kamen die Schulden.“ Ihre Witwenrente von 554 $ reicht nicht mehr aus, die teure Monatsmiete von über 800 Mark zu bezahlen. Sie verschuldet sich: Beim Vermieter, bei Quelle und beim Bücherbund, bei der KKB-Bank und bei den Stadtwerken.

Später, im Gefängnis, werden die Schulden zusammengezählt, sie belaufen sich auf 45.000 Mark. Sie versucht ihr Glück bei den Behörden. Aber das Sozialamt will ihr erst helfen, wenn sie eine neue, billigere Wohnung gefunden hat. Die Schuldnerberatung kann ihr nicht helfen, da ihr Einkommen zum „Schulden-Regulieren“ einfach zu gering ist. Das Jugendamt schickt ihr noch eine Rechnung obendrauf: 10.750

Mark soll sie zurückzahlen. Als diese Rechnung ankommt und der Vermieter fristlos kündigt, dauert es noch zehn Tage, bis die Frau an einem Sonntag abend zum Kissen greift. Sie sagt: „Ich hatte Angst vor dem Montag, wenn Patricia ohne Frühstück aus dem Haus geht und mir das Jugendamt dieses letzte Kind auch noch wegnimmt.“

Die Frau hat täglich eine Flasche Weinbrand getrunken und

am Monatsende gehungert. Für das KInd jedoch hat sie gesorgt, ihm Kakaogeld für die Schule mitgegeben und Groschen für Süßigkeiten. Eine Zeugin: „Patricia hat unheimlich gerne gegessen. Wenn ihre Mutter mal für sie gekocht hatte, hat sie sich so gefreut - dann kriegte sie richtig große strahlende Augen.“

Über sich sagte die Angeklagte: „Es kamen immer viele Leute zu mir, die mir ihr Leid

klagten. Aber niemand wollte von meinen Problemen wissen.“ Alle Nachbarinnen und Freunde haben von der „immer netten, freundlichen“ Frau Sätze gehört wie: „Ich habe keine Lust mehr. Ich bringe mich um und meine Tochter auch.“ Und alle sagen diese ZeugInnen vor Gericht Sätze wie: „Wir haben das nicht für voll genommen.“ und „Niemand hat geahnt, daß es so weit kommen könnte.“

Barbara Debus