Quadratur des Wirtschaftskreislaufs

■ Das offizielle EG-Szenario über Konzentration und Konzernzusammenschlüsse im EG-Binnenmarkt: Der größenwahnsinnige Cecchini-Bericht

Teil 2: Ulli Kulke

Wenn in der DDR der Kraftomnibusfahrer T. aus seiner Arbeitsbrigade im Erzgebirge nach Rostock versetzt wird, so genügt ihm zum Einkauf der Wohnungsausstattung eigentlich schon die Angabe, ob er nun in eine „Zwei-“ oder „Dreiraumwohnung“ einziehen wird, auch wenn der Wohnkomplex noch gar nicht gebaut ist. Der Hausbau ist genormt, landauf, landab erfreut sich das Volk derselben Grundrisse, so praktisch ist das. Der Ökonom nennt die entsprechende Einsparung architektonischer Arbeitsstunden „Senkung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben“. Der Trick: Die Anwendung einmal bewährter Wohnungsentwürfe in großem Maßstab oder - in der internationalen Wirtschaftssprache „Economies of Scale“.

„Economies of Scale“, das ist es denn auch, wovon die Architekten des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes träumen. Dem Farbenfabrikanten in Süditalien soll auch der Absatzmarkt offenstehen, der sich ergibt, wenn etwa eine Stadt in Nordjütland sich entschließt, ihre Zebrastreifen neu überpinseln zu lassen. Am Angebot zum Transport dieser Farbe sollen dann die Stadtväter nach Möglichkeit auch ein kleines griechisches Fuhrunternehmen beteiligen, damit es endlich groß wird: „Economies of Scale“. Den dann größten Markt der Welt mit 320 Millionen Menschen sollen dann auch die größtmöglichen Konzerne beliefern.

Hochoffiziell ist dieser Traum im vergangenen Jahr geworden, als der Italiener Paolo Cecchini im Auftrag der EG -Komission einmal so richtig in allen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern stöbern und alle Stellen heraussuchen durfte, in denen die betriebswirtschaftlichen Vorteile von Großbetrieben angeführt sind, die sich EG-weit nach der Einführung des Binnenmarktes zu Sylvester 1992/93 bilden sollen. Die Vorteile zählte er danach offenbar im EG-Maßstab zusammen, und machte daraus in der ihm eigenen Logik volkswirtschaftliche Vorteile - und zwar auf Öre und Pfennig. Das unter dem Titel „Cecchini-Bericht“ zirkulierende offizielle 6.000seitige EG-Dokument „Europa 92 - Der Vorteil des Binnenmarktes“ ist ein Dokument von ökonomischem Größenwahn, etwa zu vergleichen mit weiland dem Traum vom großartig und total überwachten Sonnenstaat des BKA-Chefs Herold, der den perfekten Frieden auf Erden bescheren sollte.

Die Lage heute: Kleine Märkte, kleine Unternehmen - weit entfernt von den „Economies of Scale“. Kostenpunkt gegenüber dem idealen Europa Cecchinis: „mindestens 200 Milliarden Ecu“. Cecchini verrät auch, wie er zu diesem ziemlich runden Ergebnis kam, obwohl „wissenschaftlicher Ansatz und Methode eine Reihe von Problemen“ aufwarfen: „Die Bandbreite der Kostenvorteile wurde auf 174 bis 258 Milliarden Ecu geschätzt“ - man bleibe also etwas unter der Mitte und setze ein mindestens davor, dann paßt's.

Die Studie untersucht beispielsweise die Kosten, die sich daraus ergeben, daß die öffentlichen Auftraggeber bei Ausschreibungen heute Unternehmen im eigenen Lande bevorzugen: „Die Abschottung im öffentlichen Auftragswesen führt dazu, daß europäische Unternehmen in vielen Schlüsselbranchen weder die notwendige Größe noch Spezialisierung erreichen, die ihnen die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt sichern würde.“ Checchini führt einige Schlüsselbranchen an, und in diesem Kapitel wird denn auch ausnahmsweise deutlich geschrieben, daß als Kehrseite des „Wachse!„-Appells stets die Drohung „...oder weiche!“ steht.

In der Heizkesselbranche sollen nach Errichtung des Binnenmarktes von derzeit 15 nurmehr vier Unternehmen übrigbleiben, Elektrische Lokomotiven werden nur mehr in drei oder vier statt 16 Firmen montiert. Der Bereich Öffentliche Telekommunikations-Schaltzentralen, einer der derzeit am spektakulärsten umkämpften Märkte soll nur mehr von zwei Anbietern anstatt sieben beschickt werden - vor allem weil hier die Forschungs- und Entwicklungskosten besonders hoch sind. Um diesen Markt balgen sich derzeit vor allem Siemens und die britische General Electric Company (GEC) einerseits sowie Plessey andererseits in gegenseitigen Übernahmeschlachten (siehe Tagesthema 12.1.). Ein freier Markt in der Telefon-Endgerätebranche würde dann eben „die teuren Produkte und ihre Hersteller vom Markt verdrängen“, heißt es lapidar. Beim Markt digitaler Telekommunikations -Systeme hat der Anhänger der „Economies of Scale“ gar eine komplette Absurdität ausgemacht: „In vielen Mitgliedsländern konkurrieren sogar mehrere Anbieter um einen Abnehmer.“

Die Lokomotiven sollen eben von den Orkney-Inseln bis Sizilien eine einheitliche Fa?on haben wie die Zweiraumwohnungen vom Erzgebirge bis nach Rügen. Dementsprechend viel versprechen sich die Binnenmarkt -Strategen von einer Vereinheitlichung der Normen für alles nur denkbare Technische.

Mit einem Schimmer von Hoffnung auf Vielfalt wenigstens in der bisweilen doch so landschaftsprägenden Baubranche wird das Kapitel „Baumaterialien“ eingeleitet: „Schon wegen ihres Gewichts erscheinen Ziegelsteine, Kalk, Mörtel, Glas und andere Baumaterialien für weite Transportwege ungeeignet.“ Aber die Ernüchterung kommt schon im zweiten Absatz: „Auch dieses Mal trügt der Schein. Die Untersuchung der Marktsituation verdeutlicht, daß der grenzüberschreitende Handel in dieser Branche bereits beachtliche Ausmaße erreicht.“

Wohin die Reise gerade in dieser Branche geht, zeigten die traditionellen „3-Ziegler-Tage“ am vergangenen Mittwoch. Ziegelverband-Geschäftsführer Wolfgang Mack meinte, daß auch für die heimische Ziegel-Industrie der Konzentrationsprozeß jetzt erst richtig losgehe, der in den Nachbarländern längst in Gang sei. Die Branche sei hier „immer noch mittelständisch“ strukturiert, obwohl die Zahl der Betriebe seit Mitte der siebziger Jahre von 1.800 auf 280 zurückging.

Verringerung der Anzahl von Unternehmen bedeutet für Cecchini keinesfalls Einschränkung des Wettbewerbs, sondern das genaue Gegenteil. Dahinter steckt die Annahme, daß für den Fall eines einheitlichen EG-Marktes und richtig großer Konzerne jegliche wettbewerbshemmenden Dinge wie besondere Beziehungen, Querverbindungen, nationale Pfründe oder unterschiedliche regionale Anforderungen und dergleichen auf den Faktor null gebracht werden können. Alle Verbraucher, Anbieter und Regierungen tragen dazu bei, daß die perfekte Wirtschaft nicht gestört wird.

Die Abnahme der Unternehmenszahlen läuft dabei beileibe nicht nur auf Zusammenlegung hinaus. Der Elektronikkonzern Philips, bereits in der Vergangenheit groß im Geschäft bei Firmeneinkäufen in der EG, hofft jetzt auf Vereinheitlichung der Produktion nach Beseitigung des Normenwirrwarrs. Wenn erst nicht mehr 36 verschiedene Stecker an die Geräte für EG -Länder montiert werden müssen, will der Konzern 60 seiner bisher 180 EG-weit operierenden Fabriken dichtmachen und bis zu 20.000 Arbeitsplätze abbauen. Wie das geht, hat der französische Konzern Thomson demonstriert, der nach dem Aufkauf bundesdeutscher Unterhaltungselektronik-Unternehmen erstmal ans Firmenschließen und Rausschmeißen ging. Aber keine Angst vor Arbeitslosigkeit, auch die davon Betroffenen haben ihren Vorteil an den „Economies of Scale“. Dem erwerbslosen Griechen steht künftig ein Arbeitsmarkt bis nach Portugal oder Dänemark zur Verfügung. Der bisherige Zustand der EG lief nämlich darauf hinaus, daß „die abweichende Sozialgesetzgebung die Mobilität der Arbeitnehmer erheblich eingeschränkt“ hat (Cecchini).

Hecht jagt Hai

EG-offiziell beschwichtigt Cecchini, auch die kleinen Unternehmen. Auch sie haben ihre Chance zur Teilhabe am großen Geschäft. Während es an der einen Stelle brachial wie wahr heißt: „Die kleinsten bzw. unwirtschaftlichsten Unternehmen müßten verschwinden oder in größeren Gesellschaften aufgehen“, wird an anderer Stelle der Binnenmarkt gerade den jetzt schon Gebeutelten schmackhaft gemacht: „Da kleine und mittlere Unternehmen unter dem derzeitigen Zustand an Europas Binnengrenzen am meisten leiden, haben sie vom Wegfall der Formalitäten die größten Vorteile zu erwarten.“ Hinter dieser Erwartung von ein bißchen mehr Gerechtigkeit auf der Welt steckt zwar einerseits die richtige Erkenntnis, daß bislang kleine Unternehmen größere Schwierigkeiten als größere bei der Planung von grenzüberschreitenden Unternehmens-Kooperationen oder Firmenübernahmen hatten. Wenn die Grenzen fallen, werden ihnen Firmenübernahmen im Zweifel tatsächlich leichter gemacht. Gleichzeitig werden sie jedoch auch leichter Opfer der „Großen“. Cecchinis Logik: Einem Hecht die Jagd auf kleine Fische ausgerechnet im Haifischbecken anzuraten.

Wie auch immer, in wundersamer Weise sollen von der Verringerung und Vergrößerung der Firmen Europas sowohl Verbraucher als auch die Konzerne selbst profitieren. Von einem gewaltigen „Angebotsschock“ ist da wiederholt die Rede. Cecchini selbst bringt allerdings bisweilen schockierende, weil unauflösbare Widersprüche in seinem Angebot unter. Einerseits werden sich nach Cecchini „unter dem wachsenden Wettbewerbsdruck“ nach den geöffneten Schlagbäumen „die Marktpreise den Produktionskosten nähern“

-sprich gewaltig purzeln. Der Anteil, der für den Unternehmer übrig bleibt, verschwindet danach tendenziell. König Kunde freut sich. Doch nur eine Seite später kommt die Beruhigung für die gewinnorientierten Unternehmer: „Skeptiker befürchten, der zu erwartende Wettbewerbsschub in Europa werde Gewinnspannen dahinschmelzen lassen. Bei anpassungsfähigen Unternehmen dürfte jedoch das Gegenteil eintreten.“ Die Quadratur des ökonomischen Kreislaufes.

Kosteneinsparungen allerorten mithin, die in Europa flächendeckend Produktionsanreize bieten, und somit - nach Cecchini sofort - die Chance zu höherer Beschäftigung bei mehr Kaufkraft, höheren Gewinnen und absoluter Transparenz auf allen Märkten. Die totale Grenzfreiheit als höchstes Stadium der Marktwirtschaft.

Industriellen-Angst

Gewaltige Friktionen werden den europäischen Markt erschüttern. Und davor haben auch jene Angst, denen Cecchini Gutes tun will (und die ihn offenbar auch nur interessieren; Cecchini hatte für sein Traktat lediglich Unternehmer befragt). Eine Industriellentagung in London Ende November vergangenen Jahres stand ganz im Zeichen der Angst vor Fabrikschließung und Massenarbeitslosigkeit. Sir John Harvey -Jones, einstiger Vorsitzender des Chemiekonzerns ICI, äußerte die Befürchtung, daß in den kommenden zehn Jahren die Hälfte aller europäischen Fabriken geschlossen und die Hälfte der Firmen verschwinden oder durch Fusionen aufgesogen würden. Und ausgerechnet Percy Barnevik, Chef des schwedisch-schweizerischen Schwermaschinenkonzerns Asea Brown Boveri sowie derzeit einer der wildesten europäischen Firmenjäger, wies darauf hin, daß es für die Gemeinschaft nicht leicht sein dürfte, Branchen mit Überkapazitäten umzustrukturieren, und gleichzeitig den eigenen Markt für Wettbewerber aus Japan und Korea zu öffnen. Ein unvermeidlicher Kapazitätsabbau - nach der Zusammenlegung von Kapazitäten - werde Arbeitslosigkeit nach sich ziehen, die nur schwer abzubauen sein werde, „dies sind die harten Fakten hinter den schönen Worten für höhere Produktivität und mehr Wettbewerb“.

Die Ahnung, daß die EG die anstehenden Friktionen nur durch scharfen Protektionismus durchstehen kann, erhielt erst kürzlich Nahrung aus hochoffizieller Richtung: Der Vorsitzende des US-Kongreßausschußes, Senator Paul Sarbanes, will aus dem Munde von EG-Kommissionspräsident Jacques Delors gehört haben: „Wir bauen nicht einen Binnenmarkt auf, um ihn hungrigen Ausländern zu überlassen.“ In sich logisch sind solche Befürchtungen schon allein aus der Erfahrung der Stahlindustrie in der EG, der gerade zu Zeiten gewaltiger Umstrukturierungen besonders durch billige Konkurrenz aus Drittländern zugesetzt wird.

Und wenn die Umstrukturierung vor allem auf Fusionen setzt, so ist das - mal abgesehen von Cecchinis Fable fürs Große noch lange keine Garantie für den Erfolg. Beispiele für Flops gibt es zur Genüge, auch in den Umstrukturierungsbranchen: Der Estel-Konzern aus Hoesch und Hoogovens wurde wieder aufgesplittet, wie auch Citroen-Fiat oder die Flugzeugunternehmen VFW und Fokker, auch wenn hier aufgeteilt wurde, um an anderer Stelle mit MBB erneut zu vereinen.

Fusions-Flops

Inwieweit beim Firmen-Monopoly in der EG nicht nur kleine Unternehmen, sondern auch schwächere Regionen unter die Räder kommen - für dergleichen Überlegungen ist bei einer so aufs Große und Ganze ausgerichteten Studie wie dem Cecchini -Bericht wenig Raum. Zwar weiß auch der Autor: „Eine gerechte und regionale Streuung der Erträge der Marktintegration wird ein Schlüsselfaktor für den Erfolg des Binnenmarktes sein.“ Die neuesten Theorien helfen jedoch sogleich zurück zum Optimismus: „Allerdings sollte der Einfluß der negativen Kräfte der Marktintegration auf das gesellschaftliche und geographische Gleichgewicht der Gemeinschaft nicht überschätzt werden, wie jüngste handelstheoretische Untersuchungen zeigen“.

Ein anderer EG-offizieller Bericht - eher praxisorientiert

-sieht hier weniger Chancen. Tommasao Padoa-Schioppa, stellvertretender Generaldirektor der Banca d'Italia kam im Auftrag der EG-Kommission zu dem Ergebnis, daß gerade das Einreißen der Zollschranken das regionale Wohlstandsgefälle keinesfalls einebnen wird. Im Gegenteil, um unter den neuen Voraussetzungen die Grundinfrastruktur der benachteiligten Regionen auf 80 Prozent des EG-Durchschnitts zu bringen, wären genau doppelt soviel Mittel jährlich nötig (30 Milliarden Mark), als im gesamten Regionalfonds zur Zeit vorhanden sind.

Aber was sollen all die Prozentrechnungen? Alles wird besser, und wer könnte das bezüglich Europas besser ausdrücken als Bundeskanzler Helmut Kohl: „Der Kuchen, der zur Verteilung ansteht, wird insgesamt größer - und das ist entscheidend.“