Perestroika überall

Zu den Ergebnissen der KSZE-Konferenz  ■ K O M M E N T A R

Schewardnadses dramatische Ankündigung des Abrüstungsschrittes hat - leider kann man da gewiß nicht sagen - die Menschenrechtsthematik der KSZE-Folgekonferenz in den Schatten gestellt. Welche Bedeutung, welchen Schub in Richtung einer europäischen Friedenskultur diese Wiener Konferenz bedeutet, zeigen die exstrem kontroversen Äußerungen Osteuropas. Honecker erklärt, die Mauer werde „in hundert Jahren noch bestehen“, solange es die „Gründe“ dafür gebe und beschwört die Aktualität des Kalten Krieges. Schewardnadse sieht im Eisernen Vorhang nur noch „rostige Stäbe“ und fragt offen, „ob die Gründe noch da sind“ - für die Berliner Mauer. Rumänien definiert die Schlußakte wütend als „Rückschritt“. Der polnische Außenminister hingegen sieht nach Wien eine geschichtlich neue historische Situation: nunmehr sei eine „kompetente, selbstkritische Prüfung eigener Rückstände durch alle nötig“. Man werde „die gesamte Gesetzgebung daraufhin prüfen, ob sie mit den Wiener Empfehlungen übereinstimmt“. Das sind keine Meinungsunterschiede mehr, das ist ein offener ideologischer Schlagabtausch. Wenn es einen Geist von Wien gibt, dann spukt er jetzt schon kräftig in Ost-Europa.

Das Menschenrechtsthema ist in diesem Jahrzehnt von Westen nach Osten gewandert und kehrt nun von dort verwandelt zurück. Als Waffe im Ost-West-Konflikt entdeckt und als wirksame Kürzel für die westliche Demokratie ins Spiel gebracht, werden jetzt die Menschenrechte auch mit Perestroika und Glasnost übersetzt. Wien hat gewissermaßen die Prinzipien der sowjetischen Reform internationalisiert. Wann hat es das je gegeben, daß der Erfolg einer internationalen Konferenz der Innenpolitik eines Landes zugeschrieben werden kann?

Kein Zweifel, daß die DDR-Führung sich als vornehmstes Opfer von Wien ansehen muß. Honeckers hilflose Sprüche drücken nicht nur Pankower Senilität aus, sondern bezeichnen einen dauerhaften Erklärungsnotstand neuer Art. Kein Zweifel auch, daß das die deutsch-deutschen Beziehungen beeinflussen wird. Die Routine der deutsch-deutschen Entspannung ist veraltet. Ihr Modell: de facto-Anerkennung der DDR-Führung unter Hintanstellung der undemokratischen Verhältnisse in der DDR, um einen Spielraum für die kleinen Schritte zu eröffnen, zeitigt keine Ergebnisse mehr. Sie konserviert einen Zustand, der der Wiener Schlußakte widerspricht. Auf die Dauer könnte die Bundesrepublik zur einzigen internationalen Legitimationsquelle für die Abwehr von Bürgerrechtsansprüchen durch die DDR-Führung werden. Hier ist das deutschlandpolitische Dilemma der Bundesregierung: sie kann sich nicht zum Interpreten des Geistes von Wien gegenüber der DDR aufschwingen - ohne die aktuellen Verhandlungsthemen in Gefahr zu bringen; sie kann aber auch nicht mehr fortfahren, opportunistisch die Opposition in der DDR ignorieren. Paradoxerweise gibt es nur einen denkbaren Ausweg aus diesem Dilemma: volle Anerkennung der DDR, durch die die Bundesrepublik dann auch ohne Scheu eine DDR -Opposition offiziell anerkennen könnte.

Klaus Hartung