Der Surrealismus

■ Ein Dali-Text aus dem Jahr 1935 über die symbolische Sprache des Unbewußten

Isidore Ducasse, Comte de Lautreamont, sagte prophetisch: „Die Poesie muß von allen gemacht werden: nicht von ein paar wenigen.“ Diese vermessene Behauptung, die ohne Umschweife die Zerstörung und den vollkommenen Verruf dessen, was wir im allgemeinen „künstlerisches Talent“ nennen, ins Auge faßt, ist wissenschaftlich untermauert worden durch die sensationelle Entdeckung des Unterbewußten durch Freud.

In der Tat: Das Unterbewußte bietet sich uns zur Analyse dar, als sei es selbst der Grund nicht nur für die Poesie, sondern für jede künstlerische Schöpfung überhaupt.

Die symbolische Sprache des Unbewußten ist die einzige wirklich universelle Sprache, die allen Menschen gemeinsam ist, da sie nicht von einem bestimmten Stand der Kultur oder der Intelligenz abhängt, sondern auf den großen Lebenskonstanten ruht und aus ihnen folgt: dem Sexualtrieb, dem Todestrieb, der körperlichen Erfahrung des Raumes als Rätsel usw. usw.

Deswegen stellt der Surrealismus, der sich die systematische Erkundung dieser unbekannten und dunklen Welt des Unterbewußtseins zum Ziel gemacht hat, eine Tendenz und eine Richtung dar, die spezifisch und wesentlich verschieden sind von den übrigen künstlerischen Tendenzen dieser letzten Jahre. Diese Tendenzen stützten sich immer - sogar in den Fällen rein negativer Bedeutung, wie im Dadaismus -, stützten sich immer, wiederhole ich, auf eine verstandesmäßige ästhetische oder antiästhetische (das läuft aufs gleiche hinaus) Basis. Das will heißen, daß, außer durch die genannte verstandesmäßige Basis, solche Tendenzen unzugänglich sind.

Der Surrealismus hingegen hängt von keiner verstandesmäßigen Basis ab, da er, wie ich schon gesagt habe, auf den großen Lebenskonstanten ruht (...).

Der Surrealismus ist nicht noch eine künstlerische Richtung mehr. Der Surrealismus stellt eine Revolution des Lebens und der Moral dar. Wenn der Surrealismus die üblichen Verfahren der künstlerischen Aktivität, Malerei, Poesie usw. benutzt, so nur, um sie in den Dienst der Wünsche, Leidenschaften und Bilder zu stellen, die verkannt, geheim, verboten und oft grausam durch das Gewissen des Menschen verurteilt sind. Wir Surrealisten benutzen die künstlerischen Verfahren als ein Mittel des Ausdrucks und der Mitteilung der Welt der konkreten Irrationalität; aber wir machen aus diesen Ausdrucksmitteln keinen Selbstzweck, wie das die Ästheten tun. Gerade aus diesem Grunde verachten wir keineswegs die akademischsten, anachronistischsten und die künstlerisch in Verruf gekommenen Techniken und Verfahren, wenn diese die wirksamsten für die Mitteilung unserer Visionen sind.

Im Leben des Menschen stehen zwei wesentliche Prinzipien gegeneinander, deren grimmiger Antagonismus uns zur Zeit unaufhebbar erscheint:

Lustprinzip gegen Realitätsprinzip.

Das Lustprinzip wird durch die Welt der unterbewußten Wünsche, „die irrationale Welt“, repräsentiert.

Das Realitätsprinzip wird durch das ganze System der Zwänge des praktisch rationalen Lebens repräsentiert: die Logik, die ästhetischen und kulturellen Systeme aller Arten, „geistige Gefängnisse aller Arten“.

Die Lust ist der legitimste Wunsch des Menschen. Wir Surrealisten beabsichtigen die Befreiung des Unterbewußten vom Realitätsprinzip, die Emanzipation der Phantasie, die Freiheit der Phantasie. Das bedeutet eine drohende Gewissenskrise, die wir Surrealisten, so behaupte ich, in wichtigen intellektuellen Meinungssektoren bereits zum Ausdruck gebracht haben.

Der Surrealismus ist kein Scherz, wie manche meinen.

Der Surrealismus ist ein wirkliches Gift.

Der Surrealismus ist das gefährlichste Phantasiegift, das bis heute gefunden wurde.

Der Surrealismus ist wahnsinnig ansteckend. Achtung: „Ich habe Surrealismus!“

In New York sind bereits einige Personen durch die wunderbaren und belebenden Wunden des Surrealismus traumatisiert worden.

Surrealismus: reiner psychischer Automatismus, durch den man den wirklichen Ablauf des Denkens aufzuzeichnen sucht. Diktat des Denkens unter Ausschluß jeglicher Verstandeskontrolle, unabhängig von ästhetischen oder moralischen Vorurteilen.