Israel igelt sich in Scheinwelt ein

Nationaler Autismus bestimmt die Politik von Jizchak Schamir nach mehr als einem Jahr Intifada / Seit Arafat weltweit Anerkennung erfährt und selbst die USA gesprächsbereit sind, kommen immer aggressivere Anschuldigungen gegen die PLO aus Israel / Statt Verhandlungswillen zeigt Schamir Kampflust  ■  Aus Jerusalem Henryk M.Broder

Drei Tage brauchte der sonst um keine Antwort und keine Reaktion verlegene israelische Ministerpräsident, um die Sprache wiederzufinden, die ihm die Entscheidung von US -Außenminister Shultz verschlagen hatte. Am 14.Dezember vergangenen Jahres beschlossen die USA, Gespräche mit der PLO aufzunehmen, am 17.Dezember gab Jizchak Schamir bekannt, was er von diesem Schritt des größten Verbündeten hält: Die USA hätten sich von der „weltweiten Mode der Symphatie für die terroristische Körperschaft mitreißen“ lassen, „und Moden können manchmal verrückt sein“. Zugleich mit dieser Bewertung kündigte Schamir als eine der ersten Aufgaben der neuen Regierung eine „diplomatische Offensive“ zur Belebung des Friedensprozesses an. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem nicht „neue Schritte“, „neue Maßnahmen“, „neue überraschende Vorschläge“ von Schamir oder von einem seiner Berater in Aussicht gestellt werden. Aber aus dem Zylinder kommt kein rosa Elefant heraus, nichtmal eine kleine weiße Maus läßt sich sehen. Die Einzelheiten der versprochenen diplomatischen Offensive, schrieb ein mit den Strukturen des Ministerpräsidentenbüros vertrauter Journalist, seien so geheim, „daß sogar Schamirs engste Vertraute im dunkeln tappen“, einer von ihnen habe kürzlich vermutet, „Schamir selbst weiß nicht, was er im Sinn hat“. Es sei fraglich, witzelte der Journalist, ob Schamirs neue Initiative „auch ohne ein sehr starkes Vergrößerungsglas erkennbar wäre“.

In der Tat läßt sich auch mit Hilfe eines sehr kräftigen Teleskops kaum ein positives Zeichen der Reaktion seitens der israelischen Regierung auf die neuesten Ereignisse zwischen Stockholm, Genf und Washington finden. Die anfängliche Sprachlosigkeit ist inzwischen überwunden, an ihre Stelle ist ein Mechanismus getreten, der in Israel als Ersatz für Politik dient. Es handelt sich um eine Art nationalen Autismus. Mit dieser psychologischen Wunderwaffe gelingt es den Entscheidungsträgern immer wieder, sich (und einen großen Teil der Bevölkerung dazu), davon zu überzeugen, daß man selbst unbedingt im Recht ist und alle, die diese Ansicht nicht teilen, gemein oder gefährlich oder beides zugleich sind.

Schamir: „USA haben

Intifada legitimiert“

Der nationale Autismus, der so hilfreich und tröstlich ist, fängt bei der Sprachregelung an - die besetzten Gebiete heißen „Judäa“, „Samaria“ und „Gaza“, die Palästinenser in den besetzten Gebieten werden „die arabischen Einwohner von Eretz Israel“ genannt - und er hört mit makabren Fehleinschätzungen der Situation auf. Zum Jahrestag des Ausbruchs des Aufstands in den besetzten Gebieten am 9.Dezember erklärte Schamir gegenüber Siedlern, die vor seinem Amtssitz für ein härteres Vorgehen der Armee gegen die „Unruhestifter“ demonstrierten, die Intifada sei so gut wie vorbei; er habe großes Verständnis für die Leiden der Siedler. Am Tag zuvor waren sieben Palästinenser bei Zusammenstößen mit der Armee angeschossen worden, am Tag nach dem Schamir-Statement wurden zwei Palästinenser von der Armee erschossen und 24 verletzt, über den ganzen Gaza -Streifen wurde ein Ausgehverbot verhängt, das heißt 600.000 Menschen durften ihre Häuser nicht verlassen. Teile der Westbank wurden zu militärischen Sperrbezirken erklärt, off limits für Jounalisten. Ende des Jahres wurde die Dezember -Bilanz bekannt: 31 Tote und über 400 Verwundete - es war der blutigste Monat seit Ausbruch der Intifada. Aber für Jizchak Schamir gab es keinen Anlaß, seine Meinung, die Intifada sei so gut wie vorbei, zu revidieren oder einen Moment über die Leiden der Palästinenser nachzudenken.

Das Prinzip der Selbsttäuschung, gepaart mit unerschütterlicher Selbstgerechtigkeit, führt in eine Scheinwelt, die ihre eigene Logik hat. „Die Amerikaner werden bald merken, daß sie einen schweren Fehler gemacht haben“, erklärte Schamirs „Medienberater“ Avi Pazner zum Entschluß der USA, mit der PLO Gespräche aufzunehmen. Sie könne „überhaupt nichts Neues“ in Arafats Erklärungen entdecken, sagte die Likud-Abgeordnete Sara Doron. „Seit 100 Jahren versuchen sie, uns zu vernichten, und daran hat sich nichts geändert.“ Durch die Aufnahme der Gespräche mit der PLO, sagte Ministerpräsident Schamir, hätten die USA „den Kampf gegen den Terror aufgegeben und die Intifada legitimiert, die ihrerseits gleichbedeutend mit Terrorismus“ wäre. Und der neue Außenminister Moshe Arens sagte bei seiner Amtseinführung, die PLO sei „verantwortlich für die schlimmsten Grausamkeiten, welche die Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gesehen hat“.

Das alles ist so gemeint, wie es gesagt wird, es handelt sich nicht um Propaganda, sondern um den authentischen Ausdruck eines real vorkommenden Bedürfnisses, sich an einen Status quo zu klammern, der ins Wanken gekommen ist. Moshe Arens reichen die Verbrechen, welche die PLO wirklich begangen hat, nicht aus, er muß den Feind jenseits von Zeit und Raum dämonisieren, als habe er weder etwas von Kaiser Bokassa noch von Pol Pot oder Idi Amin gehört. Der Superlativ - schlimmste Grausamkeiten seit dem Zweiten Weltkrieg - ist gerade gut genug. Zum Verlust der Maßstäbe kommt die Umkehrung von Ursache und Wirkung. Jizchak Schamir klassifiziert die Intifada, den Aufstand der Palästinenser gegen die Besatzung, als Terrorismus, aber nicht die Besatzung selbst, weil es in seiner Terminologie den Begriff Besatzung gar nicht gibt, zumindest nicht, was die israelische Präsenz in Judäa, Samaria und Gaza angeht. Besatzungsmächte waren bis 1967 Jordanien und Ägypten, aber nicht Israel seitdem.

Die selbstkreierte Wirklichkeit hat mit der Realität so viel gemeinsam wie ein Filmatelier mit einem richtigen Haus. Man kann es sich aber in den Dekorationen wohnlich einrichten, wenn man nicht zu genau hinter die Fassade schaut. Der stellvertretende Außenminister (und ehemalige UN -Botschafter) Benjamin Netanjahu hat behauptet, hinter dem Anschlag auf den PanAm-Jumbo über Schottland stecke die PLO

-ohne auch nur den Hauch eines Belegs für seine Behauptung zu liefern. Der Wunsch, daß es so sein möge, war der Vater des Gedankens. Es wäre das ideale Argument gegen die Naivität der Amerikaner gewesen, die Arafats Abkehr vom Terror ernst genommen haben. Um eine Fiktion zu retten, wird notfalls die Wirklichkeit nachgebessert. Der Militärgouverneur von Bethlehem hat die Geschäftsleute der Stadt aufgefordert, ihre Läden zu Weihnachten festlich zu dekorieren, nachdem die Stadtverwaltung aus Solidarität mit den Opfern der Intifada beschlossen hatte, auf Weihnachtsdekorationen und Festlichkeiten zu verzichten. Das Tourismusministerium und die Zivilverwaltung für die besetzten Gebiete brachten Chöre aus den USA, der Schweiz und Spanien nach Israel und ließen sie Heiligabend in Bethlehem auftreten. Der Anschein der Normalität sollte unbedingt aufrechterhalten werden, „business as usual“ hieß die Parole, auch wenn nur ein Bruchteil der Besucher, die sonst um diese Zeit nach Bethlehem kommen, der Inszenierung beiwohnte.

„Geographie der Angst“

breitet sich aus

Wo weder Mühen noch Kosten gescheut werden, eine Fiktion der Wirklichkeit herzustellen, da muß der politische Autismus auch die Erfahrung der wirklichen Wirklichkeit zu vermeiden versuchen. Spätestens mit dem Ausbruch der Intifada ist Israel de facto zu den Grenzen von 1967 zurückgekehrt. Vorbei die Zeit der Ausflüge in die judäische Wüste oder in die Hügel von Samaria, man fährt auch am Schabbat nicht mehr auf die Gemüsemärkte von Bethlehem und Ramallah. Dahin ist die Selbstverständlichkeit, mit der man früher die unsichtbare „grüne Linie“ überquerte, nun regiert „die Geographie der Angst“. Wer von Jerusalem nach Beersheva möchte, wählt nicht den kürzesten (und schöneren) Weg über Hebron. Aus Angst, einen Stein abzubekommen, nimmt man lieber einen langen Umweg durch das israelische Kernland in Kauf. Schon wer in die Jerusalemer Altstadt zum Einkaufen geht, gilt als Held oder als lebensmüde. Während also einzelne Israelis aus Sicherheitsgründen die Territorien meiden, während die Siedler auf dem Weg in ihre Settlements die Sicherheitsgurte lösen und die Schußwaffen entsichern, wird amtlicherseits weiter an der Maxime festgehalten, die Territorien seien für die Sicherheit des Landes unverzichtbar. Kleine Widersprüche dieser Art fallen nicht weiter ins Gewicht, wo ein größerer Widerspruch alle logischen Kontrollen unbeanstandet passiert: Wenn die Israelis das Recht haben, sich vor den Palästinensern zu fürchten, warum haben dann die Palästinenser kein Recht, Angst vor den Israelis zu haben? Schließlich steht eine israelische Armee in Nablus und kein palästinensisches Heer in Natanya.

Der Realitätsverlust, der solchem Autismus entspringt, stützt sich auf einen unausgesprochenen Konsens. Wie in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern droht auch hier die Gefahr, daß die Fiktion einstürzt, wenn der ihr zugrunde liegende Konsens angekratzt wird. Dem muß vorgebeugt werden. Ein Reserveoffizier der israelischen Armee, der eine Einheit in Ramallah kommandierte, im Zivilberuf Computerfachmann an der Universität, wurde zu 14 Tagen Gefängnis von einem Militärgericht verurteilt, weil er während seiner Dienstzeit zwei Erzieher in Ramallah getroffen und mit ihnen auf eigene Faust „verhandelt“ hatte, wie die Jugendlichen der Stadt ihren Protest gegen die Besatzung artikulieren könnten, ohne daß es zu einer Konfrontation zwischen der Armee und den Demonstranten kommt. Der Reservist wurde gemaßregelt und ins Gefängnis geschickt, die anderen Offiziere wurden gewarnt, Kontakte mit den Palästinensern zu suchen. „Das letzte, was unsere Regierung möchte“, sagt der Reservesoldat, „ist ein Beweis dafür, daß es vernünftige Leute auf der palästinensischen Seite gibt, mit denen man reden kann.“

Dieselbe Erfahrung machte auch eine Gruppe von Israelis, die unter der Führung des Knesset-Abgeordneten und Reserveoffiziers Ran Cohen das Dorf Beit Sahour bei Bethlehem besuchte. Sie wollten nicht als Besatzer, sondern als Nachbarn kommen, um damit symbolisch die Koexistenz zwischen Israel und dem Staat Palästina vorwegzunehmen. Die Einwohner von Beit Sahour hatten nichts dagegen, die israelischen Sicherheitsbehörden schon. Die Armee sperrte die Zufahrtswege nach Beit Sahour und erklärte das Dorf zu einem militärischen Sperrgebiet. Die Israelis kamen dennoch, über Feldwege und Seitenstraßen, der Bürgermeister von Beit Sahour proklamierte „den ersten Waffenstillstand der Intifada“, die Einwohner waren begeistert und empfingen die Gäste aus Israel mit Beifall und Lachen. Als die Armee merkte, daß sie gefoppt worden war, mußten die Israelis das Dorf binnen fünf Minuten verlassen, die Autokennzeichen der Besucher wurden notiert. Aber das war noch nicht alles. Als das jordanische Fernsehen über das Treffen berichtete (ausländische Kamerateams waren mitgekommen), wurde in der Westbank der Strom abgeschaltet. Die Palästinenser sollten nicht erfahren, daß es Israelis gibt, die nicht als Besatzer zu ihnen kommen. Im israelischen Fernsehen war über das Treffen überhaupt nicht berichtet worden.

Suche nach dem Erhalt

des Status quo

Während in der israelischen Öffentlichkeit langsam, aber kontinuierlich das Bewußtsein zunimmt, daß der jetzige Status quo nicht endlos fortgesetzt werden kann, daß Israel den Palästinensern entgegenkommen muß, daß die Entscheidung der USA, mit der PLO zu sprechen, den ersten Schritt in Richtung auf einen Palästinenserstaat bedeutet, legt die Regierung auf die Erhaltung und Fortsetzung des Status quo den allergrößten Wert. Die einzige Beweglichkeit, die sie dabei zeigt, liegt in der Wahl der jeweiligen Argumente. Waren noch vor ein paar Monaten die Gesprächsangebote einzelner Palästinenser nicht glaubwürdig, weil ihnen kein Beschluß der PLO zugrunde lag, so sind die Beschlüsse der PLO jetzt nicht glaubwürdig, weil ihnen die Äußerungen einzelner Funktionäre widersprechen. So rum oder andersrum es ist einfach „niemand da, mit dem man reden kann“.

„Ich weiß, was Schamir denkt“, sagt Yehoshafat Harkabi, früher Chef der Spionageabwehr und jetzt Professor für Middle East Studies an der Jerusalemer Universität, „er möchte die Palästinenser ermüden und mit dem Bau der Siedlungen demonstrieren, daß Israel nicht beabsichtigt, die besetzten Gebiete aufzugeben.“ Genau dies ist der Fall. Alles andere ist Spiegelfechterei, Spiel um Zeit. Schamir, der vor zehn Jahren gegen das Camp-David-Abkommen war, plädiert heute für dessen Durchführung, wohl wissend, daß er ein totes Pferd ins Rennen schickt. Moshe Arens hat unmittelbar nach der Übernahme des Außenministeriums die „vordringlichste Aufgabe“ seiner Politik definiert, es gelte, „die weltweite Offensive zum Halten zu bringen, deren Ziel es ist, Israel in die Grenzen von 1967 zurückzustoßen“. Und der Likud-Abgeordnete Benny Begin, Sohn von Menachem Begin, hat Mitte Dezember mit lobenswerter Offenheit in einem Zeitungsartikel geschrieben, es sei völlig unerheblich, wie moderat Arafat sich äußert, es komme nur darauf an, „ob wir einen arabischen Staat westlich des Jordan zulassen oder nicht“.

Der Autismus, der die israelische Politik bestimmt, reicht weit zurück. Ein Volk, dessen prägende Erfahrung die Verfolgung und das Alleinegelassenwerden ist, vertraut nur noch sich selbst. „Die ganze Welt ist gegen uns“, hieß ein beliebter Schlager in den fünfziger Jahren in Israel. Es wird auch leicht übersehen, daß die arabische Propaganda den Israelis 30 Jahre lang eingehämmert hat, man werde sie ins Meer treiben oder dahin zurückschicken, woher sie gekommen sind. Erst mit dem Sadat-Besuch in Jerusalem 1977 hat eine Wende in der arabischen Politik begonnen, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Der äußere Belagerungszustand kann leichter gelöst werden als der innere. Die alte Furcht erweist sich als beständiger als die politischen Parameter. Man hat sich an einen Zustand gewöhnt, unter dem man leidet, den man aber trotzdem nicht aufgeben möchte - lieber ein bekanntes Übel als ein unbekanntes Risiko.

Israel, sagt Yehoshafat Harkabi, müßte sofort Verhandlungen mit der PLO aufnehmen, je länger er wartet, um so mehr würden sich die Bedingungen verschlechtern. „Aber ich glaube nicht, daß Israel irgendeine Initiative ergreifen wird. Diese Nation denkt verkehrt. Die Menschen wissen nicht, in was für einer Welt sie leben. Sie sind blind. Dieses Volk ist dumm. Das Land ist voller Idioten.“