Auschwitz aus 7.000 Metern Höhe

■ „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“ - ein Essayfilm von Harun Farocki

Am Anfang steht die Aufnahme eines Wellenkanals. Man sieht eine Anlage, an der die (künstlich erzeugte) Bewegung des Wassers zu studieren ist. „Unregelmäßig, nicht regellos“, schwemmen die Wellen an Land. Der Blick des Betrachters wird vom Wasser nicht gefesselt, sondern gebunden. Mit dieser Bindung an die Wellenbewegung entsteht gedankliche Freiheit. Die Befreiung, Entbindung des Gedankens angesichts der unendlichen Wellenbewegung, das ist das eine, die Gedankenbewegung wie das Gehen Schritt für Schritt, ist das andere. Farockis Film setzt ersteres voran - ein Vorsatz.

Die US-Bomber-Besatzungen, die im April 1944 in Foggia (Italien) gestartet waren und Ziele in Schlesien anflogen (die BUNA-Werke, IG-Farben) wußten nicht, was sie da fotografierten. Sie machten die erste Aufnahme vom KZ Auschwitz, das nahe neben den bombardierten Benzin- und Gummifabriken gelegen war. Die militärischen Auswertungsexperten entdeckten auf den Fotos Industrieanlangen zur Herstellung von Karbid, Benzin und Buna etc. Auschwitz entdeckten sie nicht, sie hatten keinen Auftrag, danach zu suchen.

Die Fotos sind aus 7.000 Metern Höhe aufgenommen, das Muster des Korns ist so grob, daß man einzelne Menschen nicht erkennen konnte, nur Einheiten, Blöcke, geometrische Formen. Indizien zur Dechiffrierung. Erst nach 33 Jahren unternahmen es amerikanische CIA-Beamte, die Bilder von Auschwitz zu beschriften.

Das Luftbild wurde etwa in der Zeit aufgenommen, in der zwei Häftlingen die Flucht aus dem Lager gelang. Sie bezeugten alles, was sie erlebt hatten, ihr Zeugnis ging in alle Welt, nach London, Washington, an den Päpstlichen Nuntius in Rom. Jetzt gab es Augenzeugen, die Zeichnungen Alfred Kantors brachten die Bilder aus dem Inneren der Lager nach draußen. Ein Bild, dann der Bericht der Flüchtlinge, dann die Frage: Warum wurde Auschwitz nicht bombardiert?

Die Luftaufnahmen der Alliierten halten die Zerstörung fest. Sie dokumentieren die Treffergenauigkeit der Bomben, konservieren Vernichtung. Die Geschichte dieses Bildes von Auschwitz wird erzählt mit vielen anderen Geschichten von Bildern der Welt, vor und nach Auschwitz. Aber alle weisen auf jenes Bild, und Auschwitz ist in jedem einzelnen enthalten. Es bildet den Gravitationspunkt für die Schleifen der Filmteile und zugleich die Projektionsfläche für alle anderen Bilder: Sie tragen die Inschrift des Krieges, der Massenfertigung, des Verfalls der Handarbeit, der Enteignung der menschlichen Sinne und Fähigkeiten. Alfred Kantor war gezwungen zu zeichnen, er zeichnete „fotografisch“ genau, um das Unvorstellbare zu überliefern. Die Apparatur der Fotografie bildet diese Wirklichkeit nicht ab, das Medium ist selbst Resultat der Abstraktion gegenüber den Menschen, sie bringt eine Fremdheit mit sich, die zerstörerisch ist.

„Die Alliierten fotografierten Auschwitz immer wieder. Aber sie sahen nur, wonach sie suchten, sie entdeckten nur, was sie kannten. Sie suchten nach Fabriken, aber eine Todesfabrik wie Auschwitz kannten sie nicht. Soll man eine Hoffnung daraus schöpfen, daß ihnen das Neue entging? Heute fliegen Satelliten um die Erde und decken fotografisch jeden Quadratmeter ab. Es fehlt an Leuten, die diese Bilder auswerten, und es wird schon an Apparaten gearbeitet, die die Bilder automatisch vorsortieren. Aber könnten diese Apparate wirklich etwas Neues sehen? Kann man das Neue überhaupt sehen? Wahrscheinlich braucht man dazu einen anderen Blick auf die Welt.“

Bilder aus extremen Perspektiven kommen in diesem Film zusammen: Aus 7.000 Metern Entfernung kann man, so zeigt der Film, im Schnee Wege erkennen, die durch das Lager Auschwitz führen. Innerhalb des Lagers zeichnet ein Gefangener. Und da sind noch die Aufnahmen der SS-Abteilung, die für die sogenannten Effekten, für die Habe der Gefangenen zuständig war. Eine furchtbare Gleichzeitigkeit der Bildproduktion.

In diesem Film sind die Bilder ein Material, dem nicht vorab ein bestimmter Sinn oder eine Deutung zuteil wird, die 'Schreibweise‘ von Bilder der Welt und Inschrift des Krieges fördert Spannungen und Gegensätze zutage, sowohl in den Filmschnitten als auch innerhalb eines Bildes. Die Bilder bleiben auf Distanz, fremd, da sie in unterschiedlichem Zusammenhang eingeordnet sind, wiederholt erscheinen, wie um falsches Deuten zu verhindern. Man begegnet ihnen mit Mißtrauen; der Film löst seine Motive und Einstellungen aus ihren herkömmlichen, oft rhetorischen Einbindungen heraus und untersucht ihre Zusammensetzungen, ihre spezifische Geschichte. Er versetzt sie gewissermaßen in einen Raum der Möglichkeiten - und entfaltet so eine allgemeine künstlerische Methode (die mit konventionellem Dokumentarismus nichts zu tun hat). Die besondere Anordnung der Bilder treffend, sucht der Film sich in ihnen seine eigenen Denkwerkzeuge zu schaffen. Die Bilder sind Schauplätze des Gedankens, Ausgangspunkt und Projektionsfläche, und es sind großenteils 'gegebene‘ Bilder, deren so oft vergessener Sinn aus der Komposition hervortritt.

„Man muß keine neuen, nie gesehenen Bilder suchen, aber man muß die vorhandenen Bilder in einer Weise bearbeiten, daß sie neu werden“. Sagt Harun Farocki.

Jörg Becker

Harun Farocki: Bilder der Welt und Inschrift des Krieges, Kamera: Ingo Kratisch, Trick-Kamera: Irina Hoppe, Ton: Klaus Klingler, BRD 1988, 16 mm, Farbe, 75 Min.