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Ins sozialdemokratische Paradies

SPD verleiht sich ein neues Grundsatzprogramm / Grün-feministisches „Bad Godesberg“ als neue Wegmarke / Mit neuen Herausforderungen und mit neuen Mehrheiten in die neunziger Jahre  ■  Von Kurt Zausel

Beim heutigen Treffen des SPD-Parteivorstandes in Bonn soll das neue Grundsatzprogramm eine weitere Etappe vorangebracht werden. Nachdem es bis vor kurzem wegen des von Oskar Lafontaine angezettelten Streites um die Sonntagsarbeit noch so aussah, als wenn die Beratungen über das Grundsatzprogramm sich bis ins Jahr 1990 hineinziehen würden, hat sich die Partei jetzt eines besseren besonnen. Exakt im 30.Jahr nach „Bad Godesberg“ wird sich die SPD ein neues Grundsatzprogramm geben. Sollte heute dem Drängen verschiedener Bezirke nach mehr Zeit für Diskussionen nachgegeben werden, dürfte der Parteitag am 18. und 19.Dezember durchgeführt werden. Ein der taz vorliegender Entwurf, der noch, wie man hört, von Sprachsensibilist Walter Jens höchstpersönlich redigiert und dann in einigen Wochen der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, gibt ersten Aufschluß, wohin die Reise gehen soll.

Die Verfasser des neuen Grundsatzprogramms standen nicht allein vor der schwierigen Aufgabe, die Erfahrungen sozialdemokratischer Regierungsvergangenheit verarbeiten zu müssen, sondern auch die veränderten Problemkonstellationen und Herausforderungen des auslaufenden 20.Jahrhunderts so zu verarbeiten, daß neue Mehrheiten gewonnen werden können. Der Textentwurf verrät eine tiefgreifende sozialdemokratische Identitätskrise, die weit über den durch die Medien geisternden Streit zwischen „Markt-“ und „Planwirtschaft“ hinausgeht. Ökologische, sozial- und beschäftigungspolitische Interessen sollen mit Kapitalinteressen an rentablen Verwertungsfeldern und Nutzungsformen von Arbeitskraft in Übereinstimmung gebracht und die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft neu gestaltet werden. Federn gelassen haben nicht allein die vielzitierten „Traditionalisten“, sondern auch die „Modernisierer“ um Lafontaine.

„Grünes Bad Godesberg“

Die vom Godesberger Programm übernommene konventionelle Kompromißformel: „Wettberwerb so weit wie möglich - Planung so weit wie nötig“ ist wie ehedem nichtssagend. Bereits in der Vergangenheit bestand die SPD darauf, daß der Markt weder Vollbeschäftigung herstellen noch Verteilungsgerechtigkeit bewirken kann und deshalb der Staat kompensierend einzugreifen hat. Neu hinzugekommen ist jetzt die Erkenntnis, daß der Markt auch die Umwelt nicht schützen und nicht anstelle der Gesellschaft über grundlegende Techniken und Wachstumsfelder entscheiden kann. Die als überlebensdringlich angesehene „ökologische Erneuerung“ der bundesdeutschen Ökonomie reicht von der Produktidee über den Produktionsprozeß bis zum Verbrauch und der Wiedergewinnung verbrauchter Rohstoffe. Tarife, Steuern, Abgaben und Normen sollen der Zielverwirklichung ebenso dienen wie die Einführung und Verschärfung von Zulassungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfungen vor allem im Bereich der chemischen Industrie sowie ein neues Haftungsrecht japanischer Machart, bei dem die Beweislast umgekehrt werden soll. Schließlich soll das Recht zur Verbandsklage eingeführt, die Stellung der Umweltschutzbeauftragten gestärkt und die Mitbestimmung auf den Feldern des Gesundheits- und Umweltschutzes ausgeweitet werden.

Wie die Ökologie wird auch die Technik dem Primat der politischen Gestaltung unterworfen: „Technische Weichenstellungen betreffen uns alle. Daher dürfen sie nicht allein Gewinninteressen überlassen bleiben.“ Entsprechend dem ethisch begründeten Postulat, wonach Technik „fehlerfreundlich und rückholbar, von fehlbaren Menschen beherrschbar und durch zukünftige Generationen revidierbar“ sein muß, sollen Strukturen einer demokratischen Bürgerbeteiligung eingeführt und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ausgebaut werden.

Daß dies alles nicht so konsistent und zielstrebig gemeint sein kann, wie es geschrieben steht, hat bereits Arbeitgeberpräsident Murrmann verdeutlicht, der dem neuen Grundsatzprogramm die höhere Weihe des „neuen Realismus“ verliehen hat.

Wie es dem Charakter des Grundsatzprogramms einer „linken Volkspartei“ entspricht, hat es vielfältige Interessen zu bedienen. So heißt es etwa im Anschluß der Forderung nach einer 30-Stunden-Regelarbeitswoche: „Kürzere Arbeitszeit bedeutet nicht automatisch kürzere Maschinenlaufzeit.“ Und: „Der Samstag soll nicht zum Regelarbeitstag, Sonntagsarbeit nur in zwingenden Ausnahmefällen geleistet werden.“ Aller Vieldeutigkeiten zum Trotz verweisen die Abschnitte zum Arbeitsverständnis auf die hartnäckigen Anstrengungen, den festgelaufenen Tanker SPD wieder flott zu bekommen.

Neu entdeckt und programmatisch bearbeitet wird das Verhältnis zwischen formeller und informeller sowie Familienarbeit: „Wir wollen die Ungleichbewertung der verschiedenen Formen der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten überwinden und die verschiedenen Arbeiten zwischen Männern und Frauen gleich verteilen“. Dazu soll neben der Verkürzung der Wochenarbeitszeit die Einrichtung eines Sabbat-Jahres und die Möglichkeit zur Unterbrechung der Erwerbsarbeit für Aufgaben wie Kindererziehung, Krankenpflege und Weiterbildung ebenso dienen wie die Einführung einer einkommensabhängigen Grundsicherung und des Rechts auf Wiedereingliederung im Falle von Erziehungs- und Pflegezeiten. Der auf drei Jahre gestreckte bezahlte Elternurlaub soll selbstredend auf die Altersversorung angerechnet werden.

Daß die so entstehende freie Zeit nicht der Freizeitindustrie überlassen werden soll, versteht sich bei den Sozialdemokraten programmatisch von selbst: „Zum menschlichen Leben gehört aber auch Muße, Spiel und Unterhaltung, Reisen und Wandern, Liebe und Geselligkeit, Traum und Besinnung.“ Es wird sich noch zeigen, wer diesen Weg ins sozialdemokratische Paradies mitzugehen bereit sein wird.

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