Vom Wir zum Ich

■ Theatertage der Bundesrepublik in Moskau

Barbara Sichtermann

Dieser Flughafen heißt Scheremetjewo II“, sagt Sascha, der Dolmetscher, während er meine Reisetasche über die Schulter schwingt. „Neuerdings haben wir einen Scheremetjewo Nummer III. So nennt das Volk den Roten Platz, seit Rust dort gelandet ist.“ Er lacht fröhlich, und während ich überlege, ob ich einstimmen soll, ist er schon bei der Beschreibung des Hotels, das meiner wartet. Es ist so groß, daß man nicht von links und rechts, sondern von Osten und Westen spricht, wenn man sich die Wege weist. Fast 6.000 Betten umfaßt das Kreml-nahe „Rossija„; während der Allunionskongresse müssen sämtliche Delegierten darin Platz finden.

Im Januar dieses Jahres war die Riesenherberge Hauptquartier eines anderen Völkchens: westdeutsche Bühnenkünstler. Die ersten Theatertage der Bundesrepublik Deutschland in Moskau, veranstaltet von der kleinen, aber effektiven Münchner Produktionsfirma Hahn&Molitor, führten dem sowjetischen Publikum zehn Inszenierungen aus den Theatermetropolen Hamburg, Frankfurt, München und Berlin sowie aus der prominenten Provinz - Bochum, Freiburg und Wuppertal - vor, darunter Heiner Müllers Germania - Tod in Berlin (Bochum), Shakespeares Troilus und Cressida (Münchner Kammerspiele), Pina Bauschs Nelken (Wuppertal) und Tschechows Drei Schwestern von der Berliner Schaubühne. Eingefaßt wurde die Gastspielkette in Vorträge, Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen und Studioabende. Ein solcher Massenimport bundesdeutscher Theaterkunst war einmalig für die Sowjetunion und ein Abenteuer für die etwa 800 Komödianten, Techniker und Journalisten, die sich da auf der Suche nach Ruhm und Orientierung im „Rossija“ wiederfanden.

Als ich anreiste, sammelte das Festival seine Kräfte für den Schlußakt. Die Berliner waren abgeflogen, die Münchner packten gerade, aber Astrid Jacob mit ihrem Tucholski-Brecht -Programm und die Brüder Hirth mit dem Rockerstück Reinschlagen waren eben gelandet, die freie Penthesilea-Truppe und der Hamburger Clavigo wurden erwartet. Noch summten das Büro im „Rossija“ und das Moskauer Publikum vor Erwartung, und doch war schon genug geschehen für eine erste Bilanz.

Das Festival fand sein Echo, die Vorstellungen waren gut besucht, man spendete Applaus und rote Nelken, kein Stück fiel durch. Doch die Begegnungen neben und nach dem offiziellen Teil, für die als Rahmen ein Klubprogramm und das Restaurant im „Haus der Schauspieler“ bereitstanden, sie wollten sich nicht recht ereignen. Die Veranstalter russischerseits der jüngst gegründete unabhängige „Verband der Theaterschaffenden“ - blieben mit ihren Stäben und den jeweils präsenten Ensembles weitgehend unter sich. „Wo gibt es eine so sensationelle Bühnenbeleuchtung wie in Troilus und Cressida?“ fragt ein Münchner. „Wir hatten erwartet, daß sich die Russen auf unsere Anlage stürzen würden, aber nichts da. Niemand hat gefragt: Wie macht ihr das?“ Der eigens für deutsch-sowjetische Theaterdiplomatie hergerichtete Klub im „Haus der Schauspieler“ zog allerhand Gelichter an, das auf Devisen und Bier scharf war. Die Prominenz blieb zu Hause. Das ist, klagen die Pessimisten, die andere Seite von Glasnost. Kaum öffnet man dem Austausch die Tür, schlüpfen die Schieber hinein. Eine verrenkte Dialektik des Fortschritts bringt die Nachteile vor dem Gewinn.

Und das Programm? Die Moskauer waren keineswegs einhellig begeistert. Sie vermißten die Gegenwart als dramatischen Stoff - ein Mangel, der ihnen selbst zu schaffen macht. Drei Schwestern, diese hinreißende Eule, die man da nach Athen getragen hatte, sie zeigte, wie weise sie immer noch ist. Aber hatte man das nicht vorher gewußt? „Unsere Theater suchen einen neuen Ton, einen Stil, wie die Zeit ihn verlangt“, sagt Herr Bartaschewitz, der das Theaterwissenschaftliche Institut leitet und dem Komitee angehörte, das in Westdeutschland die Auswahl traf, „und weil wir uns damit schwer tun, gucken wir über die Grenzen. Gewiß, das Museum gehört zum Theater dazu - Goethe, Kleist, Tschechow - aber was uns wirklich interessiert, ist die Gegenwartsdramatik. Wo ist die in der Bundesrepublik?“ Beeindruckt hat ihn Shepards Liebestoll (Hamburger Schauspielhaus), auch Michael Seyfrieds Reinschlagen. Und Astrid Jacobs Brecht-Interpretation zieht er der von Gisela May vor. Damit hat der russische Kopf des Festivals eher die kleinen Shows hervorgehoben als die Prestigeprojekte. Das Neue sucht er am Rand und im Experiment. Ob die Bolschoi-Ballettmeister sich die Nelken angesehen haben? „Wenn ja, dann mit Abscheu. Aber“, er lächelt, „das ist der Sinn der Sache.“

Wie überall kämpfen auch die russischen Theatermacher mit ihrer Tradition. Sie lieben sie, sie hassen sie, sie kommen von ihr nicht los. „Wir sind es gewohnt, 'Wir‘ zu sagen“, erklärt ein Theaterkritiker, „und jetzt fällt uns das 'Ich‘ so schwer.“ Das gilt für alle - Dramatiker, Regisseure, Schauspieler. Während das russische „Wir„-Theater in der Provinz und im Bolschoi-Museum mit seiner mehr oder weniger pompösen Bestandspflege weitermacht, findet im Theater an der Taganka eine Geburtstagsrevue für den russischen Biermann, Vladimir Vysotzky, statt, der 1980 verfemt und verzweifelt starb. Das Publikum applaudiert endlos, bis eine alte Dame die Bühne besteigt und sich würdig verbeugt, während es Blumen regnet: Vysotzkys Mutter. Sie sammelt die Blumen ein und legt sie vor der Gitarre nieder, die im Bühnenhintergrund an einer Stellwand lehnt. Die Leute schweigen, einige weinen. Auch der Stoff, aus dem vielleicht einmal das Perestroika-Theater gewebt sein wird, hat schon seine Tradition.

Die übrigens reicht weit zurück. In den Diskussionen mit der sowjetischen Theaterwelt, von unermüdlichen DolmetscherInnen manchmal mühsam zusammengehaltene Veranstaltungen, stehen die Russen mit gerunzelten Brauen da und bekunden Unzufriedenheit mit dem Status quo an ihren Bühnen. Doch irgendwann kommen sie auf die Vergangenheit, und dann fangen sie Feuer. „Nach der Revolution...“, damals, in den 20er Jahren, da hatte man experimentiert, da hatte man erkannt, daß... Sie wüßten schon, wo sie anzuknüpfen hätten, die neuerungswilligen Theatermacher, aber einstweilen wissen sie nur das Datum. Die Ästhetiken von damals sind verschollen, die Botschaften verstummt, die Leute tot. Wo sind die Erben?

Auf einer winzigen Bühne in der Vorowskogo-Straße probt der Meister Anatoli Wassiljev Sechs Personen suchen einen Autor. Die Schauspieler sitzen auf wackligen Stühlen um ihn herum, die Scheinwerferkabel führen über den Flur, alles wirkt ärmlich und improvisiert; die Intonation der Schauspieler jedoch, die da Pirandellos grüblerische Prosa anstimmen, übertrifft an Feinheit alles Blattgold des Bolschoi. Wassiljev geht auf Tournee in den Westen, aber nie so lange, daß es seiner Inspiration schaden könnte - und die wartet hier auf ihn, in dieser kleinen dunklen Moskauer Seitenstraße. Auch wegloben an ein größeres Haus läßt er sich nicht, denn das hieße unweigerlich mehr Verwaltung, Verantwortung und Anpassung. Hier, im Keller der Vorowskogo -Straße, sind sie beisammen, die Bedingungen von „nach der Revolution“: einfachste Mittel und höchste Konzentration und eine somnambule Erhabenheit über das Bestechliche im Menschen.

Das Büro im „Rossija“ wird in wenigen Tagen aufgelöst, der Münchner Stab feiert Abschied. Mittenzwischen Dagmar und Jochen Hahn, die mit Partner Hans Molitor diese Theatertage im Alleingang organisiert haben. Es war ihre Idee und ihr Verhandlungsgeschick. Der für die Gastgeber langfristig interessanteste Artikel, den die Hahns nach Moskau gebracht haben, hat mit Theater gar nichts zu tun und heißt Privatinitiative.

Auf dem Flughafen ist wieder Sascha zur Hand. Prüfend läßt er seinen Blick übers Gewimmel gleiten. „Glasnost bringt es mit sich, daß immer mehr Leute zu uns reisen“, sagt er, „man wird im Ernst einen Scheremetjewo Nummer III bauen müssen. Das Areal ist schon ausgewählt. Und denken Sie, mein Onkel ist empört. Er hat nämlich dort in der Nähe eine kleine Datscha.“ Ich fange an von der Startbahn West, und schon wieder sind wir mitten in der Dialektik des Fortschritts.