Liebe, Flucht und Tod

■ „Raggedy“ - mehr als ein Antikriegsmärchen

Ein paar klapprige Panzer, ein lächerlicher LKW-Konvoi und ein Soldatenlager wie aus dem Dreißigjährigen Krieg: Das soll Krieg sein?

Nach den opulent-bizarren Szenarien des Vietnam-Krieges made in Hollywood besitzt Raggedy den nostalgischen Charme einer Puppenstube - und da werden keine Bomben geworfen. Dem Regisseur Bob Hoskins geht es nicht um den Krieg als optische Sensation, sondern als Symbol für Bedrohung und Angst.

Der Schauplatz ist fiktiv - irgendwo in Europa, eher Osteuropa, irgendwann in diesem Jahrhundert, eher zu Anfang. Tatsächlich gedreht wurde der Film in der Tschechoslowakei, weil es dort für wenig Geld unberührte Landschaft und uralte Militärfahrzeuge gab. In einem Wald - noch richtig belaubt stolpert Thomas über Jessie, und sie verlieben sich ineinander - fast wie Hänsel und Gretel. Aber eben nur fast, denn Thomas ist ein desertierter Soldat, der völlig verwirrt und in Frauenkleidern als „rawney“ - eine Art magische Hexe

-auf der Flucht ist. Das Anderssein ist seine einzige Chance, nicht kämpfen zu müssen.

Anders ist auch Jessie: Sie ist Zigeunerin, ihre Sippe zieht durchs Land, meistens auf der Flucht vor den Soldaten. Mit deren Krieg wollen sie nichts zu tun haben, sie sind rauh, aber herzlich - der Gegenentwurf zur kriegerischen Restgesellschaft.

Bob Hoskins Raggedy ist mehr als ein Antikriegsfilm, es ist ein phantastisches Märchen mit einer Love-Story unter den Außenseitern der Außenseiter. Und es bleibt ein Märchen und wird nicht zum Alptraum. Eigentlich fehlt nur noch das Knusperhäuschen, so wird hier gemenschelt, aber - das ist das Erstaunliche - ohne jede Peinlichkeit. Vielleicht liegt das daran, daß Hoskins uns nicht die großen Menschheitskatastrophen auf der Leinwand serviert, sondern sich um so simpel Elementares bemüht wie Freude, Liebe, Haß, Humor, Trauer und Verzweiflung, Solidarität und Freundschaft. Thomas und Jessie lieben sich, aber ihr Kind läßt die Zigeunersippe zwangsabtreiben. Thomas, erst als magischer Glücksbringer willkommen, wird verstoßen, dann wieder aufgenommen. Am Ende werden die Alten sterben, aber die Jungen werden überleben. So unaufdringlich und doch so überzeugend ist Kino selten.

Die Geschichte ist uralt, sie wurde Bob Hoskins mal von seiner Großmutter erzählt. Hoskins, bisher nur als hervorragender Schauspieler des neuen englischen Kinos bekannt, macht mit seinem Regiedebut aus dieser Geschichte und aus ganz einfachen Empfindungen ein Märchen, das wirklich ans Herz geht.

Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin! Was sonst bei Kriegs- oder Antikriegsfilmen nicht vorkommt, hier könnte es passieren: Dieser Film zeigt das Leben trotz Krieg, und dieser Krieg tobt um uns herum - ohne Bomben.

Lutz Ehrlich

Bob Hoskins, Raggedy, mit Bob Hoskins, Dexter Fletcher, Ian Dury, Zoe Nathenson. GB 1988, 102 Min.