Magisches Hinterland

■ „Landschaft im Nebel“ von Angelopoulos im 'Forum‘

Eine enge Bahnhofshalle. Im Gegenlicht zwei Kinder, Hand in Hand. Zielstrebig laufen sie auf den Bahnsteig. Der letzte Zug nach Deutschland fährt in wenigen Minuten. Sie zögern, Pfiff, da preschen sie vor. Zu spät. Schon oft waren sie da, sind nie eingestiegen, erst am nächsten Abend tun sie es. Die Mutter, die nicht in Erscheinung tritt, hat erzählt, daß der Vater in Deutschland wohnt. Die Kinder sehnen sich nach ihm. Deutschland ist für sie gleich nördlich von Griechenland, „jenseits des Flusses“. Ernste Kinder sind es, poesievolle Kinder, und sie reden nicht viel. Die Geschichte ihrer Suche nach dem Vater spielt immer oder irgendwann, der Ort: ein kaltes und bleiches Griechenland, trostlose Vorstädte und bedrohliche Industrieviertel. Der Regisseur Theo Angelopoulos führt uns in ein Märchen.

Voula und Alexander haben keine Fahrkarte, deshalb müssen sie den Zug bald wieder verlassen und versuchen, auf der Straße weiter nach Norden zu gelangen. Und sie nehmen wieder die Bahn und müssen abermals aussteigen...

Landschaft im Nebel ist ein Film über Stationen. Die Kinder werden erwachsen auf dieser Reise. Fremd blicken sie auf die noch fremdere Welt. In einer kalten Nacht sehen die beiden ein sterbendes Maultier, im Hintergrund zieht eine betrunkene Hochzeitsgesellschaft durch die verlassene Gegend. Da endlich beginnt der Kleine zu weinen. Es ist wie eine Erlösung.

Irgendwo in den Bergen werden sie von Orestes mitgenommen, als guter Geist wird er helfen beim Erwachsenwerden. Orestes ist jüngstes Mitglied einer Wanderschauspielertruppe. (Ein Selbszitat: Die Wanderschauspieler, 1975).

Angelopoulos erklärt nicht, sondern zieht in Bann. Ein Film zum Eintauchen. Der letzte Rest Distanz schmilzt spätestens beim wohlberechneten Oboeneinsatz. Dann fühlt man sich wirklich in einen kalten Zauberwald versetzt, denn in dieser Welt gibt es noch Magie: die Kinder sind gerade auf einem Polizeirevier, als der erste Schnee fällt. Die Beamten rennen auf die Straße und schauen zum Himmel, verzückt, versteinert. Nur die Kamera bewegt sich spielerisch um diese winterlichen Statuen, bis die befreit fliehenden Kinder in das Bild einbrechen und sie ihnen folgt.

Später werden Voula und Alexander von einem Lastwagenfahrer mitgenommen. Ein frivoler und böser Mensch, das sieht man gleich. Während der Bruder schläft, zerrt der Mann das Mädchen in den Laderaum und vergewaltigt es. Eine grausam lange Einstellung auf die heruntergelassene Plane, tonlos. Dann kommt der Fahrer hervor, kurz darauf Voula. Mit nackten Beinen und einer blutigen Hand. Leise und unspektakulär vollzieht sich das und ist gerade deshalb brutal. Aber auch dies war nur eine weitere Station.

Man könnte dem Film vorwerfen, daß er hier nicht tiefer gründet, aber Angelopoulos interessiert sich nicht für Psychologie und auch nicht für Spätschäden. Und so führt er uns weiter ins magische Hinterland.

Als die Kinder wieder einmal aus einem Zug fliehen müssen, taucht, deus ex machina, Orestes auf und nimmt sie auf dem Motorrad mit. Sie fahren zum Strand, dort steht eine Musikbox, Orestes will mit Voula tanzen. Unendlich zart führt er sie, doch nach dem ersten Schritt läuft sie davon, panisch. Sie hat sich in ihn verliebt.

Später findet Orestes an einer anderen Stelle im Meer eine steinerne Hand. Im Morgengrauen wird sie von einem Hubschrauber in die Höhe gezogen und verschwindet unendlich langsam in einem blauen Himmel, der erstmals Sonne verheißt. Von unsichtbaren Fäden wird diese Götterhand an ihren Platz im Olymp gezogen. Angelopoulos liebt Details. Er zwingt die Zeit stehenzubleiben. Auch die Menschen. Immer wieder erstarrte Götzen in gelbem Ölzeug. Bald vertraut, doch stets bedrohlich. Sie stehen neben ihren Fahrrädern, rollen auf einem kleinen Wagen Bahngleise entlang... Untote, Verzauberte? Keiner kommt irgendwoher, niemand geht irgendwohin. Nur Orestes muß zum Militär. Vielleicht.

Ein anderer Soldat, der Voulas ruhigem Blick nicht standhalten kann, überwindet seinen Geiz und gibt ihr Geld für die Bahnfahrt zur Grenze, als sie ihn darum bittet. Meisterhaft knüpft der Regisseur das Lächeln der Kinder über die kostbare Fahrkarte an das Entsetzen, als sie die nötigen Pässe nicht vorweisen können und wieder aussteigen müssen. Mit einem Boot gelangen sie bei Nacht und Nebel über einen Fluß und wähnen sich am nächsten Morgen in Deutschland. Voula hat Angst, da erzählt der kleine Bruder die Geschichte, die sie ihm früher immer erzählte: „Im Anfang war die Finsternis...“

Durch dichten Nebel wird langsam ein Baum sichtbar. Diesen Baum hatte Orestes zuvor auf einem gefundenen Filmstreifen zu sehen vorgegeben. Wenigstens ein Traum wurde wahr. Ein grüner Baum. Die Farbe ist ungewöhnlich intensiv, gehört schon zu einem nächsten Film. Einem Film jenseits von Griechenland.

Petra Kohse