Sündenfall

Salman Rushdies „Satanische Verse“ müssen erscheinen  ■ K O M M E N T A R E

Buchstäblich über Nacht ist das Selbstverständliche zu einer Frage des Mutes geworden. Selbstverständlich ist, daß kein Politiker Macht über das freie Wort haben darf; noch selbstverständlicher müßte sein, daß eine Morddrohung gegen Salman Rushdie, gegen seine Verleger und Leser sofort und vehement eine Welle der Solidarität provozieren müßte. Vor allem aber: Für die, deren Lebensarbeit mit der Produktion des freien Worts verbunden ist, dürfte es keinen Augenblick des Zögerns geben, wenn ein delirierendes Hirn, ausgestattet mit viel Geld, einen Autor weltweit für vogelfrei erklärt.

Doch die erste Reaktion ist eher würdelose Vorsicht. Offenbar wird Nähe und Zielfindung imaginärer Todesschwadronen kalkuliert. Kiepenheuer & Witsch hat auf die Veröffentlichung der Satanischen Verse zunächst verzichtet - in Sorge um Leib und Leben der Angestellten. „Jedes Verständnis“ dafür bescheinigte der Geschäftsführer im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Er hofft, es bleibe ein „Einzelfall“. Aber der ist der Sündenfall. Die Sorge um Leib und Leben der Angestellten opfert Leib und Leben Rushdies. Jeder bedrohte Autor hat den Anspruch an einen Verlag, daß er veröffentlicht wird, daß die Bedrohung selbst kein Grund sein darf, auf Veröffentlichung zu verzichten.

Jetzt wird nach diplomatischen Interventionen, nach wirtschaftlichem Druck gegen Iran gerufen. Alles richtig und doch pervers, wenn die Produzenten des freien Wortes auf das verzichten, was sie selbst und nur sie selbst tun können und müssen. Wenn Kiepenheuer & Witsch die Drohung ernst nimmt, dann muß der Verlag die Solidarität der anderen deutschen Verlage verlangen. Wenn er es nicht tut, dann müssen die anderen Verlage die Veröffentlichung von Rushdies Buch zu ihrer Sache machen. Dieser „Einzelfall“ hat nicht stattzufinden, nicht in dem Lande, wo es schon einmal die Bücherverbrennung gab. Zwar ist nicht daran zu zweifeln, daß sich die Solidarität von Autoren und Verlagen organisieren wird. Aber ein Minimum an Solidarität reicht nicht aus; sie muß so rabiat und überzeugend sein, wie es offenbar die Morddrohung ist. Es geht nicht nur darum, daß Rushdies Arbeit veröffentlicht wird, sondern daß künftige Rushdies auch Verleger finden.

Klaus Hartung