Zwischen Rudis Reste Rampe und dem Südpol von Neukölln

Im „grauen Bezirk“ Neukölln holten die „Republikaner“ die meisten Berliner Stimmen / Purer Zufall, daß nur in einem Stimmbezirk jeder Fünfte die REPs wählte / „Parteien machen hier seit Jahren keine Politik“ / Auch jetzt streiten sie erstmal um Posten / Keine billigen Wohnungen, zu wenig Kitas und Schulen, „zuviele Aussiedler“ und jede Menge Romanhefte  ■  Aus Neukölln Petra Bornhöft

Etwas dick und nicht mehr ganz jung sind sie beide, der SPD -Landesvorsitzende Walter Momper und die Angestellte Margret. Sie hat ihn, den künftigen Regierenden, gewählt und arbeitet „in der Filmbranche“. Sagt Margret, ohne weiter ins Detail zu gehen. Zum gleichen Zeitpunkt ist Walter mit der Filmbranche beschäftigt - Sekt trinkenderweise bei der „Berlinale“ im Zoo-Palast. Der liegt weit weg, „in Berlin“ hinter der Gedächtniskirche. 18 Kilometer östlich sitzt Margret, wie fast jeden Abend, vor Bier und Schnaps im rustikalen „Birkenstübchen“. Seit 20 Jahren lebt sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem 21stöckigen Wohnregal der Gropiusstadt, Neuköllns Trabantenstadt.

Die Wahlen? Blöde Frage, Margret weiß, daß in dieser Gegend in einem Stimmbezirk jeder Fünfte die „Republikaner“ gewählt hat: in der Agnes-Straub-Straße - sie besteht aus drei Hochhäusern und einem Parkdeck- haben von den 408 Wählern 21 Prozent bei den REPs ihr Kreuz gesetzt. Über die Hälfte der Anwohner faßt die Statistik unter die Kategorie „Arbeiter“. Nur 14 von 100 Erwachsenen verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung.

Auch ohne jemals von diesen Zahlen gehört zu haben, kann Margret eine Erklärung für das Wahlergebnis in ihrer Nachbarschaft präsentieren. Kurz, aber merklich schüttelt sie ihre - für Neukölln angeblich typische Bienenkorbfrisur und kolportiert als Antwort auf die Frage einen „beliebten Witz“. Der geht so: Sitzen ein Franzose, ein Russe, ein Deutscher und ein Pole im Zugabteil. Schmeißt der Franzose eine Flasche Champagner aus dem Fenster. „Warum tust du das?“ Er antwortet: „Ham wir doch genug davon.“ Schmeißt der Russe ein Rinne Eier und drei Dosen Kaviar raus. „Ham wir doch genug davon.“ Dann fährt der Zug durch einen Tunnel. Danach fehlt der Pole im Abteil. Antwortet der Deutsche: „Ham wir doch genug davon.“

Ein schneller, abschätzender Blick auf die regungslosen Fremden und dann schwenkt die Erzählerin den Schaum im Bierglas, nimmt einen Schluck und meint: „Ist schon schlimm, was die Leute sich hier erzählen.“ Das mußte gesagt werden, schließlich hängt Margrets Herz (wenigstens ein bißchen) an der Sozialdemokratie. Der „Witz“ ist weder neu noch beschränkt sich sein Verbreitungsgrad auf Berlin. „Bei uns erzählen sich die Leute sowas nicht erst seit gestern“, beendet Margret die Unterhaltung und wendet sich der Knobelrunde am Tisch zu. Interessiert haben die Neuköllner Ansichten niemanden außerhalb des Bezirks.

„Neukölln stößt einem zu“

Direkt an der Mauer, im Südosten der Halbstadt gelegen, wird der mit 300.000 Menschen bevölkerungsreichste, heterogene Bezirk von Parteien und City-naher Avantgarde gemieden. Wer von den Metropolen-Bewußten trotzdem im kleinbürgerlich -spießigen Neukölln wohnt, der tut's nicht freiwillig. Wohnen zwischen „Rudis Reste Rampe“ an der Einkaufsmeile Karl-Marx-Straße und der Schrebergartenkolonie Südpol „stößt einem zu“, heißt es. Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger (17.000), SäuferInnen, Arme - zehntausende am Rand, verteilt auf Neubaughettos und steinalte Mietskasernen.

Den Gegensatz bilden vereinzelte Viertel mit erhaltener Plüsch- und Plum-Kultur in Eckkneipen und Tante-Emma-Läden. Bei „Kreuzberg-Geschädigten“ Ausländern (insgesamt 42.000) und jungen Deutschen steht der Neuköllner Norden mit billigen Wohnungen und einer „funktionierenden Alternativstruktur“ (AL) relativ hoch im Kurs. Im Süden von Neukölln mit vielen Billig-Eigenheimen stehen laut Prospekt 80 Milchkühe für die dörfliche Vergangenheit auf den buchstäblich skandalös bebauten Rudower Feldern. Gesehen haben wohl die wenigsten BerlinerInnen jene Tiere. Der Wunsch des Bezirksamtes, das nahezu restlos betonierte Neukölln-Mitte der achtziger Jahre mit der Bundesgartenschau und einer neuen Badeanstalt wieder zum Ausflugsziel für alle Berliner zu machen, hat sich nicht erfüllt.

Selbst im Wahlkampf reizte die Politiker selten eine Reise nach Neukölln. Besonders die Gropiusstadt mit ihren 50.000 Menschen umgingen die Politiker, denen man hier nachsagt, „daß sie das Viertel abgehängt und vergessen haben“. Stammkunden der „Familiengaststätte Ideal-Pavillon“ am Fuße des höchsten, genossenschaftlichen Bettenberges in den Hochhäusern bekamen einmal Verzehrgutscheine für vier Mark von der SPD, zählten bei der CDU-Veranstaltung null Interessierte und berichten von „zwei bis drei Infoständen“. Den CDU-Wahlkreiskandidaten Eberhard Diepgen sichteten Anwohner einmal vor dem U-Bahnschacht. Auch die „Republikaner“ führten keinen besonderen Wahlkampf.

Und doch wurde Neukölln ihre Hochburg. Fast überall liegen die Stimmergebnisse über dem Landesdurchschnitt von 7,5 Prozent. In 102 von 233 Stimmbezirken triumphierten die REPs wie bei der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung (Kommunalparlament) mit zweistelligen Werten. Und das besonders in Diepgens und in dem etwas weiter entfernten Neuköllner Wahlkreis von SPD-Chef Walter Momper.

„Das liegt an die Aussiedler“

In der Gropiusstadt sind die Abstände zwischen den weiß -grauen Blocks so gering und die Häuser so hoch, daß die Sonne etliche Wohnungen nur im Sommer und dann am späten Nachmittag erreicht. 50.000 Polizisten, Arbeiter und Angestellte schlafen und essen hier. „Für eine Seniorenfreizeitstätte haben wir da keinen Platz“, konstatiert das Bezirksamt. Ein Jugendzentrum ist wegen Asbests geschlossen. Schlecht geht das Geschäft mit gebrauchten Romanheften im Einkaufszentrum, „weil die Leute so anspruchsvoll sind“, erklärt die Verkäuferin an ihrem Stand. Der Umsatzrückgang hat indes weniger mit dem Inhalt der Hefte für vier Groschen zu tun. „Die Leute können es nicht leiden, wenn da 'n Knick drin ist oder einer auf dem Umschlag mit Kuli gemalt hat.“ Nagelneue Polstermöbel und was der Mensch sonst so braucht, kaufen die Gropiusstädter bei Woolworth. Etwa ein geblümtes Kaffeeservice für 27 Mark 95 - ohne Kanne, „wofür brauch ick 'ne Kanne, wir ham doch ne Kaffeemaschine“, entscheidet die Ehefrau gegen ihren auf Vollständigkeit bedachten Mann.

Der Grundstein für die Silos wurde 1962 gelegt. „Ein Jahr nach dem Bau der Mauer auch ein Zeichen für den Überlebenswillen der Berliner“, heißt es in einer aktuellen Broschüre des Bezirksamtes. Ein derart gepflegter „Frontstadtgedanke“ kehrt sich jetzt besonders gegen diejenigen, die aus der DDR und Osteuropa in den Westen umsiedeln. „Daß hier soviele für die 'Republikaner‘ sind, liegt an die Aussiedler“, analysiert die Serviererin Petra (31) im Lokal „Ideal-Pavillon“. Ihr Urteil ist unerschütterlich und hat gleichwohl mit der Realität nur wenig zu tun.

Zwar können weder das Statistische Landesamt noch das Bezirksamt präzise Angaben machen, doch die wenigen Zahlen sind bemerkenswert: Von den 42.000 Ausländern in Neukölln sind 2.700 Polen. „Aktenmäßig im Betreuungsbereich Sozialhilfe“ führt das Sozialressort 354 „Ausländer aus Ostblockstaaten“. Diese verschwindende Menge interpretiert der zuständige Referent gleichwohl als „Überflutung, wo denn noch der Riesenschwarm von Ausländern aller Völkerscharen zukommt“, die sich an Sozialleistungen gütlich tun: 2.800 Menschen. In der Neuköllner Statistik über Aussiedler/Umsiedler/Asylbewerber („da wuselt allet durcheinander“) stehen 1.100 Personen.

Gegen die täglich ansteigende „Überflutung“ wehrt sich der Rathaus-Beamte mit den Worten: „Wohin, spricht Zeus, die Erde ist vergeben.“ Mit dieser Ansicht in der Verwaltung läßt sich Politik machen. Sie deckt sich überdies ziemlich mit der Stimmung von sozialdemokratischen Wählern in der Gropiusstadt.

Den Zeigefinger erhoben, erzählt die Serviererin Petra in der Kneipe, sie sei 1961 mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern aus der DDR umgezogen. „Für uns war's nicht leicht. Aber heute kommse mit nüscht uffm Arsch rüber und melden sich krank. Wofür soll ick denn noch arbeiten, wenn die 50 bis 100 Mark Tagegeld fürs Krankfeiern kriegen? Und denn die Polen - möchten in der Heimat sterben und können noch nich mal Deutsch. Soweit kommt et noch.“ Persönlich kennt niemand aus der Runde am Tisch - drei Polizisten und ein Koch - einen Polen. Doch man ist sich einig: „Wo du hinkiekst, überall genuch Elend, aber die Aussiedler werden immer dicker und überall bevorzucht.“

Erbost erzählen die Älteren, daß die Genossenschaft Ideal „alle frei werdenden Wohnungen für die Aussiedler beschlagnahmt hat“. Die Diskutanten geben nicht preis, ob sie selbst von dem Problem betroffen sind. Aber sie „kennen genug Familien“, die hier als junge Paare vor 15, 20 Jahren eingezogen sind. Inzwischen sind die Kinder erwachsen und suchen eine eigene Wohnung. Sind sie ausgezogen, wollen die Eltern sich verändern - innerhalb von Gropiusstadt, ihrem Zuhause. Weil ihnen 978 Mark für 90 Quadratmeter Sozialwohnung zu teuer sind, möchten sie im Viertel umziehen. „Wir wollten damals nicht her, weils hier kein Hinterland, kein Wasser und kein Wald jibt. Aber jetzt, nach 20 Jahren, wollen wir nicht mehr weg, das ist unsere Heimat und wir sind stolz, Gropiusstädter zu sein“, schwärmt Polizeibeamter Manne mit glänzenden Augen. Er verläßt die Gropiusstadt in der Regel nur, wenn er Dienst hat. „Nach Berlin“, damit meint er Spandau, fährt Manne mal zum Kegeln mit einem befreundeten Klub.

Die anderen halten's genauso. Tradition und Ordnung sind feststehende Werte für sie, die alle SPD gewählt haben, immer. Zögernd räumt Manne indes ein, erstmals nicht CDU, sondern SPD gewählt zu haben, „weil wir hier den Senat bis zum Halse satt haben“, auch wenn der oberste Polizeidienstherr, Innensenator Kewenig, „fähig und in Ordnung ist“. Mehr noch als über die eigene Wahlentscheidung redet die Gruppe über die der anderen. Auffallend oft wird verallgemeinert: „So wie die 'Republikaner‘ denken alle, wir hatten keine Möglichkeit, es anders klarzumachen.“ Ausdrücklich spricht Manne in der „Wir„-Form. Auch sein Kollege gegenüber bezeichnet den REP-Erfolg als „Kundgebung des Volkes. Daß die über fünf Prozent gekommen sind, wollte ja keiner.“ Kein kritisches Wort über die REPs. Vielleicht gehört Manne zu den nicht wenigen Neuköllnern, die ihre drei Stimmen auf SPD, CDU und „Republikaner“ verteilt haben.

Die Antifas

im feindlichen Gebiet

Daß der deutsch-nationale Ton in der Gropiusstadt schärfer geworden ist nach den Wahlen, spürten diejenigen PolitikerInnen, die sich bisher als einzige Gedanken über praktisch-politische Konsequenzen machen: die organisierten „Antifas“ vom „Krümelladen“ und eine Friedensinitiative aus dem Norden Neuköllns. Sie verließen ihr gewohntes Terrain an der Grenze nach Kreuzberg und organisierten zwei Wochen nach der Wahl ein „Kiezpalaver“ im Gemeindesaal der Martin-Luther -King-Kirche, mitten in feindlichem Gebiet.

An jenem Abend sind die meisten Fenster der Gropiusstädter erleuchtet. Ein gewohntes Bild, zu dem auch die dunklen Asphaltwege gehören. Ungewöhnlich indes die vielen Bomberjacken zwischen Parkdecks, im U-Bahnschacht und um die Kirche herum. Sie gehören der sich stets aus der Alk- und Drogenszene erneuernden stadtbekannten „Wutzky-Terror-Bande“ (WTB) aus der Wutzkyallee in der Gropiusstadt an.

Reichskriegsfahne, Rempeleien. „Wir waschen unsere Panzer mit dem Blut der Antifaschisten.“ Die 250 Teilnehmer des Kiezpalavers schließen die Gang von der Diskussion im karnevalsgeschmückten Saal aus. Drinnen wird das Programm der REPs dargestellt, über „Deklassierung und Angst vor Deklassierung“ in Trabantenstädten geredet. Es ist zu hören, daß „der antifaschistische Kampf eingebettet werden muß in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Lösung der sozialen Probleme“. Plötzlich klirrt eine Außenscheibe des Doppelfensters. „Das waren die WTB-Faschisten.“ Aufgeregtes Stimmengewirr, Angst, beruhigende Worte und die Bitte, konkrete Vorschläge für die Arbeit in Gropiusstadt zu machen. Ein Grauhaariger mit Bart, mutmaßlicher Alt-68er, fordert, „die großen Parteien hierher einzuladen und sie konkret unter Druck zu setzen, hier für bessere Verhältnisse zu sorgen“. Vor den damit verbundenen „Illusionen“, glaubt eine Organisatorin, eindringlich warnen zu müssen: „Die großen Parteien haben doch gar kein Interesse, von der AL ist auch kaum etwas zu erwarten. Wir müssen Basisarbeit machen und antifaschistische Initiativen gründen.“

Offenbar ermutigt durch den Steinwurf und das Stichwort „Parteien“ springen fünf Kids auf. Sie waren kurz vorher nach knapper Diskussion in den Saal reingelassen worden. „Einheimische“ kennen die Jungs aus dem weiten WTB -Dunstkreis. Ihr Wortführer, ein schmächtiger, langhaariger Junge von vielleicht 15 Jahren, brüllt: „Die Parteien solln mal in die richtigen Ecken gehen. Wir Jugendlichen werden hier jeden Tag von den Türken angemacht mit 'Deutsche raus‘ und so. Ganz richtig, was die 'Republikaner‘ fordern: vorbestrafte Türken müssen raus.“ Alte und junge politische Pädagogen bleiben mit ihren Argumenten erfolglos. Selbst der Schlosser von der MLPD - mit der Berufsangabe leitet der Werktätige den ersten Satz ein, die Parteizugehörigkeit folgt im dritten Nebensatz des zweiten Beitrags - macht keinen Eindruck auf die Bengel. „Wir kriegen was auf die Fresse, Ihr Erwachsenen nicht. Aber wir verteidigen uns, soviel Stolz haben wir als Deutsche.“

Wieviele Türken in der Gropiusstadt leben, ist nicht herauszufinden. Auf den Straßen sind wenige zu sehen. Während der Veranstaltung weist ein Türke darauf hin, daß die faschistischen Grauen Wölfe, analog zu deutschen Rechtsradikalen, bestrebt sind, die Stimmung anzuheizen.

Die meisten Diskutanten geben auf, aber ein Typ in der Ecke will „an die Wurzel“, versucht's mit aktiver Sozialforschung: „Wie ist Eure soziale Situation? Welche Erziehung habt Ihr gehabt?“ Mit festem Blick nimmt er den jungen REP-Fan ins Visier: „Du hast finanzielle Probleme, bestimmt. Du bist nicht zufrieden, ich weiß es.“

Etwas ungehalten beendet eine Frau vom Podium den „unsinnigen Versuch, hier fünf Leute vom Rassismus zu bekehren“. Nach Ansicht des MLPD-Schlossers „hilfst du denen nur mit bleibender Arbeit“, etwa im Jugendzentrum, das im Sommer eröffnet wird (das frühere ist wegen Asbests geschlossen). Am Ende der Versammlung steht eine Terminvereinbarung für das nächste Treffen in zwei Wochen im türkischen Kulturzentrum an der Grenze zu Kreuzberg.

SPD-Politik veränderte

den Bezirk

Dann werden „konkrete Aktionen“ auf der Tagesordnung stehen. Schon jetzt fixes Datum ist die Konstituierung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Rathaus Neukölln Anfang März.

In diesem Bau im Zentrum, Karl-Marx-Straße, kilometerweit von der Gropiusstadt entfernt und so gemütlich wie ein Landgericht, verschanzen sich die Lokalpolitiker. Der hohe Rathausturm gilt ihnen als Wahrzeichen der Größe. Stolz erwähnt das Presseamt die „Türhalle im pompejanischen Stil“. Fachleute schreiben, der pompejanische Stil sei „ein Spezifikum bürgerlicher Berliner Bauart: vorne Pomp und hinten jarnischt“. Nach vierjähriger CDU-Herrschaft (die Partei verlor fast 13 Prozent) wird die SPD wieder regieren, so wie sie es seit 1946 gewohnt ist. Für die Betonberge diverser „Aufbauprogramme“ nach dem Krieg zeichnen die Sozialdemokraten verantwortlich, während das kurze CDU -Zwischenspiel außer der Restaurierung von Schloß Britz kaum Spuren hinterlassen hat. Befragt nach verbliebenen Reizen, Besonderheiten Neuköllns, fällt dem künftigen Bürgermeister Frank Bielka (SPD) spontan nichts ein. Er überbrückt das Nachdenken mit langanhaltendem Lachen: „Neukölln ist ein grauer Bezirk.“ Damit er so richtig schön und ans Berliner Verkehrsnetz angebunden wird, planen die lokalen Sozialdemokraten gemeinsam mit der CDU seit Jahren an der Verlängerung einer Autobahn durch Neukölln. Standhaft kämpfen die Sozis dabei gegen den Widerstand auch in der eigenen Berliner Gesamtpartei.

Die scheint ihnen ohnehin ferner zu stehen als die CDU. Übereinstimmung nicht nur bei den staubfreien Trockenblumensträußen in sozial- und christdemokratischen Büros des Rathauses. Von der „Fortführung des weitgehenden Konsenses“ in der Kommunalpolitik redet Jugend- und Sportstadtrat Bielka. Ein Stockwerk tiefer erklärt Sozialstadtrat Hans-Dieter Mey, in der „Marschrichtung besteht Übereinstimmung mit der SPD“.

Daß beide Parteien sich so nahe gekommen sind wie viele ihrer WählerInnen, liegt an dem bundesweit bekannten Konservativismus der Neuköllner SPD. „An denen kommt man rechts nicht mehr vorbei“, erinnert sich ein Ex-Juso, der anno dunnemals in seiner ostfriesischen Heimat von den „erzreaktionären Genossen an der Karl-Marx-Straße“ gehört hatte. Dazu lacht Herr Bielka langanhaltend, umfaßt kurz beide Armlehnen, um dann ein Beispiel für Neuköllner Humor zu geben: „Empfinden Sie mich als rechten Menschenfresser?“

„Rechts von der Mitte“, lautet die eigene Standortbestimmung. Ein Ausdruck für Veränderungen im Bezirk, dessen historische und politische Identität oft zitiert wird, aber real verschwunden ist. Man erinnert sich gern an den Arbeiter- und Soldatenrat 1918, Erich Mühsams Wohnung in der Hufeisensiedlung oder Herbert Wehners Rede vor der Anarchistischen Vereinigung in der Ziethenstraße, Käthe Kollwitz‘ Zeichnungen von Kindern der Rütli-Schule. Oder daß die Nazis bei den Wahlen 1933 weniger als ein Drittel der Stimmen in Neukölln ergatterten. Danach vermerken Geschichtsbücher, Zeitgenossen und Bildbände jede Menge Trümmer, jede Menge Neubauten - zuletzt in den sechziger Jahren mit der extremen TBC-Rate in den Hinterhöfen des Rollberg-Kiezes begründet.

Gründlich „saniert“ haben manche Leute sich und Neukölln in den vergangenen Jahrzehnten. Für das „infrastrukturelle Nord -Süd-Gefälle“, die „generellen Versorgungsengpässe“ zwischen den Filtertüten- und Herzschrittmacherfabriken sei der CDU -Senat verantwortlich, schimpft SPD-Stadtrat Bielka. Sein Kollege von der anderen Partei, Sozialstadtrat Hans-Dieter Mey, hat sich besser vorbereitet auf das Gespräch, kommentiert Block für Block mögliche Ursachen der REP -Wahlergebnisse: Hier im Rollbergviertel „verunsichern Banden die Bevölkerung“, dort „ärgern sie sich über Betonberge“, im Süden warten die Menschen seit Jahren auf versprochene Kitas, an anderer Stelle „wohnen 200 Ausländer in einem Haus“, überall fehlen Schulräume (asbestfreie).

Für besonders wichtig hält es die CDU, künftig im Neuköllner Norden den drohenden „Kreuzberger Sickereffekt“ zu verhindern. Sie will „Anreize schaffen, daß wir da vernünftige Leute halten und hinbekommen“, und nicht weiter vornehmlich junge Leute und Ausländer aus dem modernisierten, teuren Kreuzberg einwandern. Diesem Trend der letzten Jahre hat die AL offenbar knapp 20 Prozent der Stimmen im Norden und erstmals einen Stadtratsposten zu verdanken.

Der konkreten BVV-Arbeit kann der Erfolg der Öko-Partei nicht geschuldet sein. In der letzten Legislaturperiode gelang es der AL, „ein Kackhaus in Rudow durchzusetzen“, faßt die Finanzverantwortliche Ulla Vonnekold (60) „vier Jahre Masochismus“ zusammen. Wie die AL Neukölln vor Ort auf das Wahlergebnis reagieren wird, ist derzeit noch genauso nebulös wie bei den anderen Parteien. Alle drei verhandeln vorrangig über die Besetzung der Stadtratsposten. Ist dieses Werk vollbracht und Bürgermeister Bielka im Amt, soll's an die Arbeit gehen - „ohne Schnellschüsse“ (SPD) und „nicht im Eiltempo“ (CDU).

Ex-NPD-Chef

verläßt Neukölln

Die erste Sitzung der BVV wird vom Alterspräsident, einem Rentner der „Republikaner“, eröffnet. Drei Abgeordnete stellt die Partei (10,2 Prozent), der vierte ihnen zustehende Sitz wird leer bleiben, weil Rudolf Kendzia den Stuhl im Abgeordnetenhaus vorzieht und der damals 20köpfige Kreisverband keine Nachrücker auf die Liste gesetzt hat. Ein Kreisbüro existiert noch nicht. Das Gespräch vor Ort verweigern die neuen Parlamentarier.

Statt dessen steht Landesgeschäftsführer Kendzia unter der Deutschlandfahne in der Spandauer Parteizentrale zur Verfügung. Der 50jährige mit den Stoppelhaaren und einer Brille für extrem Kurzsichtige kann auf reichlich politische Erfahrung zurückblicken: Mitgliedschaft in der (aufgelösten) Deutschen Partei, sieben Jahre CDU-Wirtschaftsrat, zwei Jahre NPD-Vorsitz in Berlin bis 1969 mit nachfolgender Verbandstätigkeit für den Fußballverein VfB Neukölln. Von den Alt-Nazis und Neo-Faschisten in der NPD trennt Kendzia „die Zusammenarbeit mit der arg rechten DVU des Herrn Frey“. Über Probleme und konkrete Politik in Neukölln schweigt der Mann. Nur soviel ist klar: „Die Aussiedler und DDR-Leute sind Deutsche und kein Problem in der Gropiusstadt oder woanders.“ Margrets „Witz“ vom Polen, den ein Deutscher aus dem Zugfenster wirft, kennt er nicht. Wohl die „Wutzky -Terror-Bande“. Bei dem Namen huscht für Sekundenbruchteile ein Lächeln über die Mundpartie. Doch Rudolf Kendzia betont, daß unter den bislang registrierten 887 Berliner REP -Mitgliedern „keiner von denen ist. Die haben mit uns personell nix zu tun.“ Und politisch? Schweigen.

Auf Veranstaltungen wollen die REPs „aus Sicherheitsgründen weitgehend verzichten“. Aber auch Walter Momper, Berlins Regierender Bürgermeister in spe, suchte vergangene Woche „das Gespräch mit dem Bürger“ nicht in der Gropiusstadt, sondern vor dem Rathaus Neukölln.