Fragen an mich selbst

Marcel Ophüls schrieb diesen Text - hier leicht gekürzt - 1987 während des Barbie-Prozesses  ■ D O K U M E N T A T I O N

Klaus Barbie ist für viele ein Anlaß, sich Fragen zu stellen. Die einen fragen die anderen, aber vor allem - und darin liegt das Wesentliche - fragen sie sich selbst. Jeder, der sich der lastenden Aufgabe stellt, eine lange Dokumentation über diesen Mann zu zeigen, über sein Leben und seine VerbRechen, ist es sich schuldig, solche Fragen ins Auge zu fassen und mögliche Antworten anzubieten.

Ist jeder Mensch imstande, solche Verbrechen zu begehen, und würde er sie auch, unter den gleichen Umständen, tatsächlich begehen? Zum Beispiel mein alter Freund Sowieso: Wäre er dazu imstande? Oder jener nicht besonders freundliche Kunde im Supermarkt?

Das ist offensichTlich eine sehr wichtige Frage, denn, wenn man zu ihrer Antwort nichts beiträgt, begreift man nur schlecht, warum Klaus Barbie - oder wer auch immer verurteilt und bestraft werden sollte. Und mehr noch, wenn es nur eine Frage der Umstände, der Erziehung, der Umgebung etc. ist, dann kann man sich fragen, welche denn die Bedingungen sind, die in solche Verbrechen münden, oder weiter, unter welchen Bedingungen man denn sicher sein darf, sich nicht in Klaus Barbie zu verwandeln? Muß man Verhaftungen gesehen oder die Reden Hitlers gehört haben? Wie viele? Muß man von der Endlösung gehört haben? Über

das Wie? Über das Wann?

Was ist dann mit den antifaschistischen Deutschen? Und den 500.000 nicht-jüdischen Deutschen, die in die Konzentrationslager gekommen sind? Und was ist mit den nichtdeutschen Faschisten? Mit den Kroaten, den Ukrainern, der französischen Miliz? Mit all den Opportunisten und Ideologen aller besetzten Länder? Und was ist dort, wo es keine Besetzung gab? Mit all denen, die gar keine Gelegenheit hatten, zu Komplizen solcher Verbrechen zu werden oder zu kollaborieren oder Nazi zu werden, ganz einfach, weil sie noch nicht geboren waren oder weil sie gerade den Juden oder den Zigeunern angehörten? Und diejenigen, die in anderen Zusammenhängen - etwa Kolonialkriegen - ähnliche Verbrechen begehen, sogar in diesem Augenblick?

Kann die Tatsache, daß der Nationalsozialismus nur ein noch repressiveres und noch mörderischeres System als andere Regimes unter anderen Himmeln geschaffen hat, als erschwerender oder als mildernder Umstand geltend gemacht werden? Wenn aber diese Verbrechen nicht aus objektiven Faktoren zu begründen sind, muß man dann nach subjektiven Elementen suchen, etwa im Seelenleben des Individuums? In seinem Temperament? Bestehen sie in ererbten Verirrungen? In besonderen Unzulänglichkeiten? In welchen, genauer gesagt? In Grausamkeit? Beschränktem Geist? Selbstgefälligkeit? Paranoia? Verachtung der anderen? Zynismus? In welchem Maße? Keine dieser Fragen ist wirklich neu oder sehr tiefgehend oder besonders anregend. Ganz im Gegenteil: Man steckt hier in der Sphäre der Banalitäten ohne Antwort, sprich in einer Trübnis ohne Hoffnung.

Aber allem voran, und das muß jedem einleuchten: diese Fragen sind haltlos und verlieren jederlei moralisches Gewicht, wenn man sie nicht erst an sich gestellt hat.

Deshalb: Meine persönliche Antwort auf diese Frage ist Nein! Nein, ich glaube nicht - trotz allem, was einen dazu treibt, das Gegenteil anzunehmen -, daß ich in der Lage sein könnte, unter den gleichen Umständen ähnliche Verbrechen zu begehen. Folglich glaube ich auch nicht, einem Klaus Barbie ähnlich zu sein. Diese Annahme gibt mir Grund zu der Hoffnung, daß auch mein alter Freud Sowieso oder jener nicht besonders freundliche Herr aus dem Supermarkt keine Barbies sind.

Wird man - wer auch immer - in der Lage sein, der Folter zu widerstehen? Wurde dieser oder jener zum Verräter, als er sich in den Fängen der Gestapo und von Klaus Barbie befand? Wie würde es zum Beispiel den Herren Dingsbums und Dingsda ergehen? Oder meinem Nachbarn? Oder dem Schauspieler beim Fernsehen? Oder dem kleinen Freund meiner Tochter?

Vielleicht ist es eine unvermeidliche Frage, aber sie geht wiederum völlig daneben, wenn ihr keine Selbstanalyse vorausgegangen ist. Hier wäre meine persönliche Antwort, daß ich sehr staunen würde, wenn ich ein Held sein sollte. Bis zu diesem Tag habe ich mir selbst nicht genügend Beweise meiner physischen und moralischen Courage geliefert, als daß ich anders auf diese Frage antworten könnte. Auch wenn mich diese Antwort enttäuscht oder traurig macht, glaube ich nicht, daß sie mich - oder andere Leute wie mich - aussätzig stempeln sollte, ich glaube auch nicht, daß sie mich daran hindern könnte, Anspruch auf das gängige Maß menschlicher Achtung zu erheben, oder daß sie mir gar verbieten würde, mich mit diesem Thema in meiner Eigenschaft als Historiker, Journalist und Filmemacher auseinanderzusetzen. Der Zweifel, den man gegenüber sich selbst hegt, sollte einen nicht vollständig paralysieren.

Wie viele Franzosen haben das eine getan? Wie viele Franzosen haben das andere getan? Wie viele haben Barbie und der Gestapo geholfen? Wieviele haben der Resistance und Jean Moulin geholfen? Wie viele hätten es getan, wenn sie vor der Frage gestanden hätten? Wie viele haben nichts getan? Und mein alter Freund Sowieso? Und jener nicht besonders freundliche Herr aus dem Supermarkt?

Eine Frage, die sich von den beiden vorhergehenden unterscheidet. Ich glaube, daß es im Rahmen eines öffentlichen Nachdenkens, sowohl in Frankreich als auch international, wichtig ist, diese Fragen zu unterscheiden, damit man nicht in einen Sumpf unscharfer Klischees fällt und in der Bodenlosigkeit pseudo-philosophischer und selbstzerstörerischer Debatten ersäuft, in der Art von: Sind wir denn nicht alle schuldig? Was ist überhaupt Schuld? usw. Erst weiterdenkend begegne ich einer Variante meiner letzten Frage, und diese war schließlich der Anlaß, mich heute morgen an die Schreibmaschine zu setzen und einer schmerzlichen Feststellung über mich selbst ins Auge zu sehen: Mein Freund Sowieso oder mein Nachbar oder der nicht besonders freundliche Herr aus dem Supermarkt, würden sie mir helfen (oder würden sie ein jüdisches Kind verstecken oder jemanden, der vor der Gestapo geflüchtet ist), auf die Gefahr hin, einem Klaus Barbie in die Finger zu geraten?

Zwar handelt es sich hierbei um eine sehr alte Frage besonders innerhalb der jüdischen Gemeinschaften - aber es ist auch so etwas wie eine neurotische Gedankenspielerei geworden und stellt so eine der zahlreichen mörderischen Konsequenzen dar, die in den Zusammenhang des Naziterrors gehören. Ich bin sicher, daß ich diese faszinierende Frage seit meiner Kindheit irgendwo in einer Ecke meines Geistes mit mir rumtrug, aber ich muß mir die unverzeihliche Wahrheit eingestehen, daß ich sie bis zu diesem Moment, als ich heute morgen aufgestanden bin und schon an mein Frühstück dachte, noch nie an mich selbst gerichtet habe.

Aus dem Französischen von Ralph Eue