Die EG reicht bis hinter Madagaskar

Nach Reunion bringen die Jumbos Milch und Obst und keine Touristen / Strände des französischen Departements wenig attraktiv / „Natürlich sind wir Europäer“  ■  Aus Reunion Dirk Asendorpf

Von Paris dauert der Flug 15 Stunden. Doch wer sich vorher noch kurz im Duty-Free mit Zigaretten und Alkohol eindecken will, hat Pech gehabt: Es ist ein Inlandsflug. Der Jumbo-Jet landet nach gut 10.000 Kilometern wieder, wo er gestartet ist: in Frankreich.

Der südlichste Punkt der Europäischen Gemeinschaft findet sich auf keiner Europakarte. Das französische Departement Reunion liegt 800 Kilometer östlich von Madagaskar am Wendekreis des Steinbocks. Die 70 Kilometer lange und 50 km breite Insel hat ihre Existenz einem Vulkan zu verdanken, der vor zwei bis drei Millionen Jahren aus dem Indischen Ozean auftauchte und mit seinem 3.070 Meter hohen Gipfel die Insel überragt. Knapp 600.000 Menschen leben heute in Reunion, zu je einem knappen Drittel die Nachfahren afrikanischer Sklaven, Indischer PlantagenarbeiterInnen und weiße Franzosen, auf Kreolisch „Zoreille“ genannt, weil sie durch die von der Tropensonne knallrot verbrannten Ohren auffallen. Eine Minderheit von 20.000 Chinesen hat ihre buddhistischen Pagoden neben die arabischen Moscheen, hinduistischen Tempel, katholischen Kirchen und anderen Kultstätten gebaut, die es zuvor schon auf der Insel gab.

Auf dem Flugplatz der Hauptstadt St. Denis angekommen, werden BesucherInnen Reunions auf einem großen Plakat begrüßt: Herzlich willkommen in der Europäischen Gemeinschaft. „Natürlich sind wir Europäer“, staunt auch Fran?ois über die dumme Frage des Deutschen, ob er Afrikaner sei. Von Juli bis Dezember schneidet er im Akkord Zuckerrohr; außerhalb der Erntesaison bezieht die Familie Sozialhilfe. Im Garten hinter ihrer knallblauen Hütte wachsen Gemüse und Früchte. An einem großen Jackbaum hängen kürbisgroße Früchte. Geschmort liefern sie zusammen mit Reis die nahrhafte Grundlage für ein „Carry“, wie es überall in Reunion auf den Eßtischen steht.

Während es der tropischen Inselvegetation an Exotik nicht mangelt, versetzt einen der Einkauf im Supermarkt zurück in den Norden. Monoprix heißt nicht nur so wie auf dem kalten französischen Festland - von den ReunionerInnen zärtlich bedauernd „la Metropole“ genannt - der Laden sieht auch rundrum genauso aus: Fleischportionen unter Zellophan unter Neonlicht, Milchtüten abgefüllt in den Vogesen, Wein von der Rhone und Bonbons aus Belgien. Der einzige Unterschied zum Einkaufszentrum in Brest oder Nantes: Fast alle Produkte tragen einen kleinen blauen Aufkleber „Transportiert mit Air France“.

Zwei bis drei Jumbo-Ladungen Milch, Mehl, Fleisch, Obst und Gemüse landen täglich in Reunion - Gesamtwert 1,7 Milliarden Franc jährlich. Das ist wesentlich mehr, als der Wert der über den kleinen Hafen der Insel exportierten Güter: Vanille (immerhin zehn Prozent der Weltproduktion), Geranium-Öl für die Parfum-Herstellung und vor allem Zuckerrohr. Zwei Drittel des bewirtschafteten Bodens ist mit den bis zu vier Meter hohen Stangen bepflanzt, von denen weltweit mehr wachsen, als verbraucht werden. Ähnlich wie Kuba innerhalb der RGW wird auch Reunions Zucker von der EG subventioniert. Und so fördert die Knochenarbeit auf den Zuckerrohrplantagen, zu der bis zum Jahr 1848 afrikanische SklavInnen mit der Peitsche gezwungen wurden, keineswegs die wirtschaftliche Unabhängigkeit der kleinen Tropeninsel.

Doch an Unabhängigkeit möchte dort sowieso lieber niemand denken. Selbst die Kommunistische Partei - mit 35 Prozent zweitstärkste politische Kraft in Reunion - spricht höchstens von größerer Autonomie gegenüber der Pariser Zentralregierung. Zu abschreckend ist das Elend der Bevölkerung im Nachbarland Madagaskar, in dem 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von Frankreich der durchschnittliche Monatslohn bestenfalls für die täglichen drei Reismahlzeiten langt.

Viele ReunionerInnen nutzen lieber ihren lila Paß mit der Aufschrift „Europäische Gemeinschaft“, um ein paar Monate im Jahr in der kalten „Metropole“ Francs zu verdienen, um sie im Rest des Jahres unter der warmen Sonne des indischen Ozeans wieder auszugeben. „1992“ ist das Stichwort, das auch Fran?ois sofort einfällt: „Europäischer Binnenmarkt, das heißt Arbeitserlaubnis überall innerhalb der EG, ausländische Investitionen und mehr Tourismus bei uns.“

Noch gibt es auf Reunion keine großen Hotels. Für den europäischen Pauschaltourismus ist die Reise zu teuer und die reichen SüdafrikanerInnen und europäischen Globetrotter gehen den französischen Preisen lieber aus dem Weg und verbringen auf der Nachbarinsel Mauritius ihren billigen Dritte-Welt-Urlaub. Außerdem halten Reunions Strände nicht, was die Reklamevorstellungen von einer Tropeninsel versprechen. Scharfkantige Lava ragt an vielen Stellen aus dem schwarzen Sand und die Wellen haben im offenen Ozean oft soviel Anlauf genommen, daß sie sich drei bis vier Meter hoch auftürmen und zum Baden keine Chance lassen. Der größte Teil der tropischen Berglandschaft schließlich ist nur zu Fuß über steile Pässe zugänglich.

Ebenfalls nicht gerade tourismusfördernd sind die Zyklone, die Reunion regelmäßig gerade in der Hauptsaison, dem Süd -Sommer zwischen Dezember und April, überqueren. Die bis zu 300 km/h schnellen Wirbelstürme blasen und spülen mit sintflutartigem Regen Straßen, Häuser und Berghänge weg. Das Meer steigt um zwei bis drei Meter und saugt die schmalen Strände von der Küste ab. Erst Ende Januar verschüttete ein Zyklon die Küstenautobahn, die die Hauptstadt St. Denis mit dem Hafen der Insel verbindet.

Dabei war die zwölf Kilometer lange vierspurige Straße, die unterhalb eines senkrecht aufsteigenden Felsmassivs auf Stelzen ins Meer gesetzt wurde, mit Baukosten von 250 Millionen Franc immerhin die teuerste Autobahn der Welt und sollte dafür auch zyklonfest sein. Doch regelmäßig muß zumindest eine Fahrtrichtung wegen Steinschlag gesperrt werden. Die Autos stauen sich dann bis ins Zentrum der Inselhauptstadt. Mit immerhin 8.000 neu zugelassenen Wagen und 15.000 bestandenen Führerscheinprüfungen pro Jahr gilt Reunion auch als „größte Garage Frankreichs“.

Doch auch öffentliche Busse umrunden die Insel im Halbstundentakt. „Zwischen unserer Bevölkerung und der in Frankreich besteht kein grundlegender Unterschied; es gibt weder ein sprachliches, ein kulturelles, noch ein nationales Problem“, betont Reunions KP-Chef Verges die Einheit der Grande Nation zwischen Calais am Atlantik, Martinique in der Karibik und Reunion auf halber Strecke zwischen Südafrika und Australien. Tatsächlich sind die BewohnerInnen der vier subventionierten „Übersee-Departements“ im Durchschnitt nicht ärmer als die Kleinbauern der Bretagne und allemal reicher als die EG-Nachbarn in Makedonien.

„Nana qui nana, et nana qui nana point“, zitiert Fran?ois das Sprichwort seiner Muttersprache Creole, „es gibt Leute, die haben Geld und andere, die haben keins.“ Unter den Palmen des südlichsten Departements der EG haben sie trotzdem alle genug zum Leben. „Wir fühlen uns nicht nur als Europäer, wir sind auch Reunioner“, ergänzt Fran?ois. „Schneeschauer und Temperaturen um Null Grad“, meldet unterdessen die per Satellit übertragene Stimme der Nachrichtensprecherin im Radio, „es ist jetzt 10 Uhr.“ Fran?ois muß nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, daß es tatsächlich in Reunion schon 13 Uhr ist. Und er muß nicht in den Himmel sehen, um zu wissen, daß am südlichsten Zipfel Europas die Sonne jetzt genau senkrecht über ihm steht.