Die Verführung von Propheten

Bei allen Unterschieden - eine gewisse Parallelität zwischen den Affären Scorsese und Rushdie ist unübersehbar. In beiden Fällen protestieren - katholische bzw. schiitische -Integristen gegen die Verwendung heiliger Texte für fiktive Erzählungen. Konnte Jesus versucht werden, seiner göttlichen Aufgabe abzuschwören, bevor er am Kreuze starb? So die zentrale Frage des Romans von Nikos Kazantzakis, der Jesus mehr als Menschen denn als Gott darstellt und kürzlich von Scorsese in „Die letzte Versuchung Christi“ verfilmt worden ist.

Die Frage, ob der Prophet Mohammed gegen Versuchung, gegen Irrtum und Böses gefeit war, ist ausführlich in der klassischen islamischen Literatur behandelt worden. Allerdings machte das Schiitentum, das die Figur des Propheten als erbauliches Ideal darstellt, die Frage kaum zum Thema. Aber wie sieht es in Wirklichkeit damit aus? Die Schriftgelehrten sind sich im allgemeinen darin einig, daß der Prophet in dem Moment vollkommen war, als sich ihm Gott über den Erzengel Gabriel offenbarte, also in den letzten 23 Jahren seines Lebens (570-632 n.Chr). Die Sira, also die Lebensbeschreibung Mohammeds nach der moslemischen Tradition, schließt nun nicht aus, daß der Teufel dem Propheten zwei oder drei „satanische Verse“ eingeflüstert haben könnte, auf die Rushdies Roman-Intrige gebaut ist. Angesichts des Widerstands der treuen Polytheisten von Mekka hätte der Prophet „hehren Idolen“ geopfert, insbesondere den Göttinnen Al-Lat, Al-Ussa und Manat.

Selbstverständlich taucht diese Episode des Apostolats Mohammeds in den offiziellen Ausgaben des Korans nicht auf; aber die Sure LIII etwa, die sogenannte „Sternen-Sure“, bestärkt in ihren Versen 19-30 die These, daß der Prophet einen Kompromiß mit dem Polytheismus geschlossen haben könnte. Denn tatsächlich klingt sie wie eine Widerlegung: „Was meint ihr denn, wie es sich mit Al-Lat, Al-Ussa verhält. Und mit Manat, der dritten,“ fragt Mohammed darin. „Das sind bloß Namen, die ihr und eure Väter aufgebracht habt, wozu Gott keine Vollmacht herabgesandt hat. Sie (die Polytheisten. d.Red.) gehen nur Vermutungen nach und dem, wonach ihnen der Sinn steht, wo doch die Rechtleitung von ihrem Herrn zu ihnen gekommen ist.“

Koran-Experten berufen sich bei der Auslegung dieser Stelle vor allem auf Tabari, den wohl größten Kommentator des Früh -Islam (839-923 n.Chr.), der feststellt, daß der Prophet nicht vollkommen immun gegen Versuchungen sein konnte, weil die göttlichen Eingebungen daherkommen wie Widerlegungen von Thesen, die der Böse ihm eingeflüstert hat.

Für Scorseses Film ist die Frage die gleiche: Kann ein Moment des Zweifels in eine Offenbarung Gottes angenommen werden, ohne daß die Grundüberzeugung des Gläubigen dadurch in Gefahr gebracht wird? Und zwar so, daß gegen den Schreiber dieses Zweifels der Bannstrahl geschleudert werden muß?

Auf den Kopf Scorseses wurde noch keine Prämie ausgesetzt, auch wenn ein Attentat auf ein Kino verübt wurde, das den Film zeigte. Darin unterscheiden sich beide Fälle. Nach sechs Jahrhunderten - ebensoviele, wie zwischen dem Leben Jesu und Mohammeds liegen - verbreitet der fundamentalistische Islam wieder den makabren Hauch der Inquisition. Henri Tinc

(aus 'Le Monde‘, 18.2.1989