DIE AUFGEHOBENE ZEIT

■ Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot

W.H. Fox Talbot könnte wohl als eine Art des britischen Gentleman gelten, der Zeit seines Lebens finanziell unabhängig, als Universalgelehrter, als Amateur, das heißt als Liebhaber seine privaten Studien betrieb.

Seine erste Veröffentlichung datiert mit elf Jahren zu einem Thema aus der Botanik. Seine weiteren Arbeiten bewegen sich auf dem Feld der Mathematik, der Chemie und Physik und machen ihn mit seinen herausragenden Leistungen zu einem angesehen Mitglied der scientific community seines Zeitalters. Ausbildung und Erziehung führen zu einem frühen Hang naturwissenschaftlicher und mathematischer Orientierung. Später widmet er sich aber auch der Altphilologie und Assyrologie und bemüht sich um die Entzifferung der Keilschrift. Weder Schriftsteller noch Künstler veröffentlicht er eine Sammlung schottischer Sagen und erfindet das erste wirkliche photographische Verfahren, den Negativ-Positiv-Prozeß und läutet damit eine neue Epoche ein: die der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes. Aber er ist nicht nur Erfinder, sondern auch selbst Photograph, konstruiert eine Reisekamera, verbessert die Verfahren und bringt das erste mit Photos illustrierte Buch heraus. Sein Titel: The Pencil of Nature. Er kommentiert und analysiert das neue Medium und antizipiert immerfort Ideen, die sich später anderenorts ausformulieren werden. Photographie als Erinnerungshilfe

Im Alter von acht Jahren, im Jahre 1808, tritt Talbot mit der Mahnung an seine Eltern heran, keine seiner schriftlichen Aufzeichnungen zu vernichten. Schon im zarten Alter also zeigt sich hier die Bemühung um das Festhalten des Flüchtigen, der Gedanken. Die Schrift als Erinnerung des Geistes wird ihm zum Instrument der Aufbewahrung der Zeit.

1833, während seiner Hochzeitsreise, versucht Talbot mittels einer Zeichenhilfe, der Camera obscura, bei der ein projiziertes Bild abgezeichnet werden mußte, eine Ansicht des Comer Sees festzuhalten. Sein mangelndes zeichnerisches Talent läßt ihn zu dem Urteil kommen, seine Bilder böten „wenig, das über ein bloßes Erinnerungsstück hinausreichte“. „Wie bezaubernd aber wäre es“, so Talbots Gedanke bei dieser Gelegenheit, „könnte man diese natürlichen Bilder dazu veranlassen, sich dauerhaft einzudrücken und festgehalten zu bleiben auf dem Papier.“

1834 macht Talbot sich an die Arbeit und schon 1835 war, wenn auch in primitiver Form, der Negativ-Positiv-Prozeß entwickelt. Talbot hatte damit ein Verfahren entwickelt, auch den sinnlichen Eindruck des Auges, den Abdruck der Natur durch eine objektive Technik der Erinnerung festzuhalten. Die Analogie von Kamera und Auge trägt ein Stück weit, was die optisch-mechanischen Funktionen von Blende und Linse angeht. Der Vorgang des Sehen selbst ist anderer Natur. Als Anfang 1839 die Daguerrotypie in Frankreich offiziell bekannt gemacht wurde, beeilte sich Talbot, nur drei Wochen später in der Royal Society sein photographisches Verfahren vorzustellen. Gegenüber der Daguerrotypie hatte es den Vorteil der beliebigen Vervielfältigung. Der Titel seines Referats: Some Account of the Art of Photogenic Drawing, in dem es heißt: „Wenn mit diesem Vorgang auch kein Bild entsteht, das dem Bild des Zeichenstiftes ähnelt, es daher nicht geeignet sein kann, die Zeichnung zu ersetzen, so könnte der Künstler doch in die Lage kommen, Erinnerungen zu sammeln.“

Als Naturwissenschaftler ist für Talbot die Photographie denn auch zunächst ein Mittel im Dienst der Erforschung der Natur. Und noch heißt das zum Beispiel, in der Beschäftigung mit der Botanik „stets ein Weniges an Schönheit“ zu finden. Wozu die Sprache nicht in der Lage ist, die Differenzierung des Einzelnen zur Bestimmung des Besonderen, das leistet in „unnachahmlicher Treue“ die photographische Zeichnung. So sind es auf dem Papier fixierte Photogramme von Pflanzen, die als erste gelungene Ergebnisse zur Photographie gelten. Damit fing Talbot an zu experimentieren. Die Photographie ist ein Mittel zur Morphologie der Pflanze. Mit dem Pencil of Nature schreibt die Natur sich selbst als Repräsentation. Fluch des Fortschritts

Die Welt wird als Bild verfügbar, indem sie inventarisiert werden kann. Es genügt nunmehr schon das Bild, um einen bestimmten Gegenstand als solchen zu identifizieren. Talbot zeigt im Pencil of Nature, seinem Buch über die Photographie, anhand von photographischen Illustrationen Aufnahmen von Glas- und Porzellanwaren. Er erstellt ein Inventar. Die Gegenstände sind senkrecht zur Blickachse in einem Regal aufgereiht, so als wolle er die Sachlichkeit seiner Intention darlegen. Ich zeige etwas, also brauche ich es nicht zu beschreiben. Später wendet Talbot die Photographie an, um Hieroglyphen aufzuzeichnen.

Gerade die Verfügbarkeit des Objekts durch die photographische Praxis hat eine Seite hin auch zum überwachenden Blick, dem Blick des Polizeiphotos. Es ist der gleiche Blick wie der einer Wissenschaft, die ihr Material ruhigstellen, ja totstellen muß, um ihm sein Abbild zu rauben.

Talbots Frau nennt die kleinen Kameras, die rings um den Wohnsitz der Talbots aufgestellt werden, Mausefallen. Und wirklich: was da nach zwei bis drei Stunden der Agonie eingefangen wird, ist tot, mausetot. Es ist dieses Paradox der Photographie, daß das, was der Zeit entrissen worden ist, um ewig zu währen, tot sein muß. Die Zeit der Aufnahme und was in ihr lebte ist unwiderbringlich vorbei. Roland Barthes nennt denn auch als Wesen der Photographie den Satz: „Es ist gewesen.“ Der Mann auf dem Umschlag des Ausstellungskataloges, mit geschlossenen Augen im Sessel ruhend, sieht aus, als könnte er tot sein. Er könnte aber auch nur schlafen. Hubertus von Amelunxen, der Autor des gut gemachten Kataloges, spricht halb mit Talbots Worten, wenn er schreibt, „Portraits lebender Menschen“ sind äußerst „reizvoll“, aber in der Aufnahme überaus schwierig. Denn lebende Menschen verändern ihren Standort in einer derartigen Lebhaftigkeit, daß sie dem Leben einhaltenden, mortifizierenden Blick der Kamera entgehen. Nur in vorweggenommener Totenstarre „einige Sekunden lang in absoluter Bewegungslosigkeit“ verharrend, ist dem „Menschen sein Abbild garantiert“. Die angehaltene Zeit

Was sich im Laufe der Zeit in die Emulsion des Photopapiers einschreibt, ist die Spur der Zeit. Die aufgehobene Zeit, das ist auch die verräumlichte Zeit, die Transformation der vierten Dimension der Zeit in die Zweidimensionalität des Photos. Über eine Ansicht des Pariser Boulevard des Capucines von ungefähr 1843 erklärt Talbot die dunkle Spur auf der Straße als den Weg, den ein Wagen nahm, der die Straße sprengte. Die Aufnahme erfolgte am Nachmittag, trotzdem sieht man in dem Bild keinen Menschen. Sie haben sich verflüchtigt. Die Zeit reichte nicht aus, auch ihre Spur in die photographische Schicht einzugraben. Das Leben der Menschen ist kurz und flüchtig. Was bleibt, ist ihr Werk, die Stadt. Es ist, als wollte die Photographie hier die Nichtigkeit der menschlichen Existenz vorführen.

Die Zeitlichkeit des photographischen Verfahrens und die Tatsache, daß da wirklich etwas sich vor der Kamera befunden haben muß, wovon das Photo zeugt, sind Quelle für eine eigene Art der Einbildungskraft. Die Photographie stiehlt der Zeit eine Spanne, vielleicht nur einen Augenblick, und davon profitiert die Phantasie, da sie aus dem Davor und Danach eine Geschichte macht, einen Film erfindet. Das Photo ist potentiell immer Standbild eines imaginären Kinos. Vielleicht hat Talbot anderes im Sinn gehabt als Naturwissenschaftler, als er dem Betrachter des Boulevard des Capucines im beigefügten Text aus dem Pencil of Nature die tatsächlichen Ereignisse erklärte, ja ihn sogar anleitete, die Photographie unter seiner Anleitung zu lesen. Er lenkte den Blick auf den Wald von Kaminen auf den Häuserdächern und erklärte, es wäre ein heißer Tag gewesen. Entzauberung

Talbot war am Tatsächlichen interessiert. Darum übersetzt er die Photographie in eine Erzählung. Mehr konnte er nicht machen, um ihr Authentizität zu verleihen. Er gibt sein Wort, denn auch auf einer Photographie sieht man nicht alles. Die Erzählung ist aber auch der Versuch, das Photo in die Kontinuität der Zeit einzubinden. „Die Sonne schickt sich gerade an, die Häuserzeile mit dem Säulenschmuck zu verlassen... Soeben ist die Straße mit Wasser besprengt worden...“ Talbot berichtet immer getreu den Tatsachen, auf der Suche nach der Wahrheit. Auf die Idee, den Film zu erfinden, ist er nicht gekommen, aber dafür mußte er sich noch mit der Surache begnügen.

Talbot scheint überhaupt der Phantasie mißtraut zu haben. Sein zweites Photobuch Sun Pictures of Scotland von 1845, zeigt Landschaftsszenerien, die in Sir Walter Scotts Romanen eine Rolle spielen. Das Werk zeigte 23 sogenannte Talbot-Typien ohne Text. Die Unternehmung war ein Flop. Die exakten Abbildungen des „Loch Katrine“ konnten mit der Imagination des Lesers von Scotts Ritterepos Lady of the Lake nicht konkurrieren. In der Geburtsstunde des Mediums stand Talbots Glaube an die Entzauberung der Wirklichkeit mittels Photographie, heute ist daraus das glatte Gegenteil geworden. Die Flut der Bilder verstellt uns den Blick auf die Realität und tritt an deren Stelle. Freiheit für die Malerei

Talbots photographischer Stil ist alles andere als malerisch zu nennen. Schon die Motive sind profan. Lacock Abbey, sein Zuhause also, seine Hausangestellten, Familie, Skulpturen, Bäume, ein Heuhaufen, ein Besen an der Hauswand. Talbot rechtfertigte sein Vorgehen so: „Wir können die Holländische Schule der Malerei als glaubwürdige Autorität dafür anführen, Szenen des alltäglichen und des Familienlebens zum Gegenstande unserer Darstellungen zu machen.“ Offenbar ging es Talbot gerade um die besonderen ästhetischen Möglichkeiten des neuen Mediums, Details oder den „flüchtigen Glanz von Licht und Schatten“ exakt und schnell aufzeichnen zu können und nicht zwischen Bildwichtigem und Unwichtigem im Bild zu unterscheiden, wie es der Maler tut, wobei die Wichtigen sorgfältiger ausgeführt werden.

Talbots Verwendung der Photographie enthält schon viel von dem, was erst das dem malerischen Stil emanzipierte Auge des 20. Jahrhunderts möglich wurde. Man denke da zum Beispiel an die Sachlichkeit eines Renger-Patzsch. Bemerkenswert auch noch die Einheit von Naturforschung, technischem Erfassen der äußeren Wirklichkeit und ästhetischer Perspektive, mit der Talbot zu Werke ging.

Diese jetzt in der Nationalgalerie ausgestellten Inkunabeln der Photographie, darunter 80 Originale, sind am richtigen Ort, ist doch die Erfindung der Photographie der Einbruch in die Moderne der Kunst schlechthin. Von nun an war die Malerei nicht etwa tot, sondern von ihrer Pflicht entbunden, Abbild sein zu müssen.

Roland Berg

Die Ausstellung Die Aufgehobene Zeit, Photographien von W.H. Talbot, ist bis zum 2.4. 1989 in der National-Galerie zu sehen.