Ein langer Film gegen das Töten

■ Krzysztof Kieslowskis Film „Ein kurzer Film über das Töten“, Gewinner des Europäischen Filmpreises und einer der besten Filme seit langem, läuft nun endlich auch in Bremen: Was so alles geschieht

Was mich immer wieder fasziniert, ist die Wirkung eines beliebigen Ereignisses auf den Verlauf eines Menschenlebens. Was für eine Wendung nimmt es, wenn etwas anderers als erwartet oder geplant passiert? Ich glaube nicht an Schicksal, aber an den Zufall. Es gibt Schlüsselmomente, wo Entscheidungen getroffen werden, wo Entwicklungen ihren Lauf nehmen.

Der Kurze Film über das Töten gehört in eine Reihe von zehn Filmen über die zehn Gebote, die Krzysztof Kieslowski 1987/88 für das polnische Fernsehen realisierte. Die Spielfilmauskoppelung von Der kurze Film... lief 1988 im Wettbewerb des Filmfestivals in Cannes und sorgte für eine Sensation: die billigste polnische Produktion (65.000 Mark) verdrängte die aufwendigen europäischen Filme, Kieslowski bekam den „Großen Spezialpreis der Jury“. 1988 sorgte Kieslowski für eine weitere Überraschung: Der kurze Film... bekam beim Europäischen Filmfestival den „Felix“ für den besten europäischen Film.

Eine tote Ratte liegt in einer Pfütze, eine erhängte Katze baumelt an einer Teppichstange. Einem Taxifahrer fällt ein Scheuerlappen auf den Kopf. Die ersten Bilder in Ein kurzer Film über das Töten. Der Taxifahrer wäscht seinen Wagen, flirtet mit einem Mädchen. Zu gleicher Zeit schlendert der 21jährige Jacek durch Warschau, steht vor einem Kino, schaut sich die Plakate an. Er fragt die Frau an der Kasse nach dem Film. „Ach, wissen Sie, der ist langweilig“, sagt sie. „Ist das ein Krimi?“ „Nein, ein Liebesfilm“. Jacek geht weiter, schaut einem Portraitmaler bei

der Arbeit zu und erkundigt sich nach einem Taxistand. Auch in Polen bildet man an Haltestellen Schlangen. Jacek will nicht warten, geht weiter.

Zu gleicher Zeit bestreitet ein junger Anwalt seine Assessorprüfung. Er kann den Prüfern nicht genau sagen, warum er Anwalt werden will. Aber er weiß, daß Straftaten eine abschreckende Wirkung haben sollen, daß der Staat ein Exempel statuiert durch Einschüchterung. Er besteht die Prüfung.

Der Taxifahrer fährt in seinem blankpolierten Taxi durch die Straßen. Hält an einem Taxistand, fährt weiter, als sich ein Volltrunkener nähert, füttert einen Hund am Straßenrand mit einem Brot, das seine Frau ihm mitgegeben hat.

Jacek steht auf einer Brücke, beobachtet die fahrenden Autos. Nimmt einen Stein, läßt ihn herunterfallen. Eine Windschutzscheibe geht zu Bruch, Bremsen quietschen, Jacek lacht und geht weiter. Vor dem Schaufenster eines Fotoladens bleibt er stehen und blickt auf Kommunionsbilder. Er geht hinein, öffnet seine Tasche, legt eine Eisenstange und eine Rolle Sisal auf die Theke. „Sie sind wohl der Mann, der die Regale anbringen will?“, fragt die Verkäuferin. „Nein“, sagt Jacek und packt die beiden Gegenstände wieder ein, „ich möchte ein Foto vergrößern lassen“. Das Foto zeigt ein kleines Kommunion-Mädchen, Jaceks Schwester. Das Bild ist alt, zerknittert. Jacek läßt es da, steckt den Coupon ein.

Der junge Rechtsanwalt sitzt mit seiner Freundin in einem Cafe und feiert die bestandene Prü

fung. Jacek sitzt auch im Cafe, bestellt Kaffee und Kuchen. Öffnet seine Tasche, holt das Sisal heraus, wickelt die Schnur um seine Hände, schneidet ein Stück ab, steckt den Rest in die Tasche. Der Anwalt schmiedet Zukunftspläne, Jacek steht auf, läuft zum Taxistand, steigt in ein Taxi.

In dem Taxi sitzt der Taxifahrer, den wir von Anfang an beobachtet haben. Daß die beiden zusammentreffen, ist Zufall. Und ein Schlüsselmoment.

Zweimal wird in diesem Film getötet, nicht mehr und nicht weniger als in jedem Freitag-Abend-Durchschnitts-Krimi. Achtunddreißig Mal weniger als in jedem Rambo. Fünfundfünfzig Mal weniger als in Buddy van Horns Todesspiel. Doch Kieslowski schildert das Töten minutiös, lang, unendlich. Es ist ein eben Film über das Töten. Alles was vor dem Tod des Taxifahrer passiert, ist eine Abfolge von Zufällen, sind auch Schlüsselmomente, wo entscheidungen getroffen werden, wo Entwicklungen ihren Lauf nehmen. Kieslowski ist umbarmherzig und gnadenlos. So wie er hat noch niemand vorher den Tod auf der Leinwand gezeigt.

Jacek sitzt hinter dem ahnungslosen Fahrer, immer noch den Strick um die Hände gewickelt, wartet auf eine günstige Gelegenheit, wirft den Strick über den Kopf des Taxifahers und zieht. Der Taxifahrer kämpft, windet

und wehrt sich, drückt mit aller Macht, die jemand hat, wenn er weiß, daß der Tod bevorsteht, auf die Autohupe. Der Junge, im Töten nicht geübt, gerät in Panik. Er nimmt die Eisenstange und schlägt wie besinnungslos auf den Kopf des Taxifahrers ein. Ein Zug fährt vorbei, ein Pferd schaut herüber. Jacek holt eine Decke aus dem Wagen, wickelt sie um den Kopf des Mannes, schleppt ihn zum Flußufer. Man glaubt, daß der Mann tot ist, man hofft es. Doch er lebt noch, röchelt, fleht, ... In diesem Moment, kurz bevor der Junge den großen Stein aufhebt, verlassen die Leute das Kino. Das ist ein sehr interessantes psychologisches Phänomen. Die Menschen können ziemlich viel aushalten, und sie halten es auch aus. Aber dann sagen sie in einem bestimmten Moment, nun ist es aus - das ist hier die Stelle, wo Jacek den Taxifahrer zum Fluß schleppt und die Zuschauer denken: Endlich! Endlich ist er tot, endlich ist es zu Ende. In dem Moment fängt der Taxifahrer aber noch einmal an zu stöhnen und um Gnade zu flehen. Da sagen die Leute: Nein! Es ist genug. Wir haben uns doch anders verabredet, es war doch abgemacht, daß es schon zu Ende ist. (Kieslowski)

Nachdem Jacek den Kopf des Taxifahrers mit einem Stein zertrümmert hat - zum Glück sehen wir nur die Decke, aus der Blut quillt - setzt er sich ins Taxi und

ißt das übriggebliebene Butterbrot, hört Radio. Fährt zu seiner Freundin und lädt sie zu einer Fahrt ein. Mord und Liebe liegen dicht beieinander.

Kieslowski zeigt uns nicht, wie die Polizei Jacek faßt. Wir sehen nur das Ende der Gerichtsverhandlung. Jacek soll hingerichtet werden. Der junge Rechtsanwalt, der zu Beginn des Films seine Prüfung bestanden hat, ist der Verteidiger. Noch eine halbe Stunde, dann wird das Urteil vollstreckt. Der Henker ölt das Gewinde, öffnet die Bodenklappe und stellt eine gelbe Plastikschüssel in die Öffnung. Jacek erzählt seinem Verteidiger von seiner Schwester, die vor fünf Jahren aus Zufall von seinem besten Freund getötet wurde. „Wenn das damals nicht geschehen wäre“, sagt er verzweifelt, „wäre das alles nicht passiert, säße ich jetzt nicht hier“. Der zweite Tod in diesem Film ist die Hinrichtung des Jungen. Er ist ebenso grausam wie der Tod des Taxifahrers.

Der erste Teil des Films war ein Plädoyer für die Todesstrafe, der zweite Teil ist ein Plädoyer gegen die Todesstrafe. Ein ganz klein wenig versteht man den Mörder. Ein ganz klein wenig versteht man seine Richter. So gesehen ist Ein kurzer Film über das Töten ein langer Film gegen das Töten.

Regina Keichel

Schauburg, 19 und 23 Uhr