Die „Schokoladen-Onkels“ im Viertel

■ Grundschülerinnen im Ostertor sexuell belästigt und mißbraucht / Mütter wollen, daß ihren Töchtern Selbstsicherheit vermittelt statt Angst übertragen wird / 300 Kinder im „Mäusetheater“, das vom fremden Kater und vom lieben Mäuseonkel handelte

Spätestens, wenn sich eine kleine Tochter zum ersten Mal alleine auf den Weg zum Bäcker oder zum Rollschuh-Fahren macht, werden bei ihren Eltern die Ängste vorm „Schokoladenonkel“ wach. Und selbst die belesenste alternative Mutter weiß sich zumeist auch heute keinen anderen Rat, als dem Kind die Geschichte zu erzählen, mit der sie selbst als Kind vor fremden Männern gewarnt wurde, die Geschichte vom „bösen Onkel“, der das Kind vielleicht unterwegs ansprechen und mit Bonbons und Süßigkeiten locken wird. So erging es auch Irmi Blekker mit ihrer Tochter - bis zu dem Tag, als die Zweitklässlerin von der Grundschule „Bürgermeister-Smidt-Straße“ nach

Hause kam und der Mutter ihre Geschichte vom „fremden Mann mit den Kinderpornos“ erzählte. Seither sind zwei Jahre vergangen, Irmi Blekker weiß mittlerweile, daß in der Klasse ihrer Tochter vier von zwölf Mädchen dem gefürchteten fremden Mann begegnet ist - bis hin zur versuchten Vergewaltigung - , und daß sich selbst im alternativen Ostertor tagtäglich Onkelgeschichten zutragen, die Ende der 80er Jahre allerdings gar nichts mehr mit Schokolade zu tun haben („Auf allen Spielplätzen passieren Sachen. Die Männer appellieren an die Hilfsbereitschaft der Mädchen, lassen sich die Tasche nach Hause tragen oder versprechen den Mädchen, ihnen zu

Hause ihr Lieblingstier, zum Beispiel ein Känguruh, zu zeigen“). Irmi Blekker lernte am eigenen Beispiel auch - daß die Ängste der Mütter die Töchter nicht unbedingt stärker und widerständiger machen.

Insgesamt zwölf Mädchen gehen mit Irmi's Tochter in eine Klasse. Die glimpflichste der „fremder Onkel-Geschichten“, die bisher schon einem Drittel dieser zwölf Mädchen zugestoßen ist, geht so: Nach Schulschluß kommen zwei Mädchen wie jeden Tag durch den Gebäudedurchgang im Schulkeller, der Richtung Kohlhökerstraße führt. Plötzlich steht da ein Mann, sagt, er wolle was Schönes zeigen und holt Kinderpornos hervor. Das

eine Mädchen bleibt in dem schmalen Durchgang stehen, der Mann kündigt noch mehr Schönes an, holt sein Glied heraus und faßt daran herum.

In der zweiten Geschichte begnügte sich der betreffende „Unbekannte“ nicht damit, sich selbst zu berühren, er faßte einem Mädchen so heftig zwischen die Beine, daß dieses Mädchen danach, so Irmi Blekker, keine Anoraks mehr tragen wollte, sondern Sommer wie Winter im schützenden Mantel zur Schule ging.

Der dritte Fall: Ein weiteres Mädchen aus der damaligen 2. Klasse lief einige Meter vom Elternhaus entfernt in der Roonstraße Rollschuh. Ein Unbekann

ter zerrte es auf ein Baugrund stück und versuchte, es zu vergewaltigen. Irmi Blekker: „Das hatte ein enormes Psycho-Nachspiel, wobei das ein laxer Begriff ist.“ Das Mädchen sackte in seinen schulischen Leistungen ab, vermochte nicht über das schockierende Erlebnis sprechen und brauchte therapeutische Behandlung.

Irmi Blekker: „Wenn man dann noch weiß, daß nur bei sechs Prozent aller Mißbrauchsfälle der Täter von außen kommt, kriegt man so langsam eine Ahnung davon, in was für einem Ausmaß Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt sein müssen. - Ich fing an, auch die körperlichen Übergriffe der Jungens beim Spielen, zur Gewalt zu rechnen.“ Und sie fing an, sich zu fragen, warum das „Aggressionspotential“ auch ihrer Tochter „so wenig ausgeprägt“ ist. Sie faßte gemeinsam mit anderen Müttern den Entschluß, „daß daran gearbeitet werden muß. Wir müssen die Opferrolle aufknacken. Das kann so nicht gehen, daß wir Frauen unseren Töchtern vermitteln, daß sie nur ängstlich durch die Straßen gehen können. Die Mädchen müssen in ihrem Selbstbewußstsein unterstützt werden.“

Nachdem die Mütter bei allen möglichen Stellen nur auf Ratlosigkeit und Nicht-Zuständigkeit gestoßen waren, setzten sie sich mit der Gruppe „Schattenriß“ in

Verbindung, die in Bremen eine Anlaufstelle für sexuell mißbrauchten Mädchen und Frauen aufgebaut hat. Die Beraterinnen von „Schattenriß“ hatten großes Interesse präventiv zu arbeiten und nicht immer erst dann, wenn „nur noch Wunden zu heilen sind“. Zwei Jahre nach den Vorfällen die Kinder sind mittlerweile in der vierten Klasse - beginnt für die Mädchen jetzt in zwei Schulstunden pro Woche ein „Selbstsicherheitstraining“, sie üben „nein“ zu sagen. Zwar finden es die Mädchen finden nicht gut, daß die Jungens dann einfach frei haben, aber sie finden es „toll, daß es extra für sie was gibt.“

Gestern nun saß Irmi Blekker in der Aula der Steintor -Schule Lessingstraße an der Theaterkasse. Denn sie hatte mit anderen Eltern organisiert, daß die Hamburger Zwei-Frau -Theatergruppe „Fundus“ dort GundschülerInnen die Geschichte vom sexuellen Mißbrauch des Mäusemädchens „Nieschen“ vorspielte. Rund 300 Kinder sahen die drei Vorstellungen, waren gebannt oder begeistert: von der frechen Mäuseschwester Pisa, dem „bösen“ fremden Kater und dem „lieben“ Mäuseonkel Watja. Mit ihren LehrerInnen können sie vielleicht demnächst über Mäuse-und andere Onkels sprechen.

Barbara Debus

Kontakt: Irmi Blekker 75482