: Niemandsland
■ Eine Ausstellung, die in der Kunsthalle Recklinghausen noch bis 5. März zu sehen ist
Johanna Schenkel
Niemandsland - Brache, Ödland, unerforschtes Gebiet, Todesstreifen. Im Frieden unbeachtet und vergessen, wandelt sich Niemandsland im Krieg zum umkämpften Gebiet zwischen den feindlichen Stellungen, bezeichnet Gewinn oder Verlust von Herrschaftsgebieten. Niemandsland - Titel für eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst: an einem Ort, der sonst bestenfalls durch doppelseitige Hochglanzanzeigen und seinen Kohlebergbau bekannt ist; in einem Museum, das eigentlich ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg ist; gegenüber einem Hauptbahnhof, der gerade noch die Funktion eines Vorort-S -Bahnhofes erfüllt - das ist auch bezogen auf die Arbeiten von 16 Künstlerinnen aus sieben Ländern, in jedem gezeigten Stück etwas anderes, wird zum Grenzgang in der Kunst der achtziger Jahre. Die Kategorien, die Gattungen und Genres sind aufgelöst, die Ordnungsschranken von Markt und Kritik unterlaufen - jedes Stück funktioniert mit dem nächsten, den Übergang muß der Betrachter herstellen. Überhaupt ist dieser der Hauptakteur in der auf den ersten Blick kargen Ausstellung. Erst im Gang, im Blick von Stück zu Stück, erschließt sich seine eigene Version von Niemandsland: Arnulf Rainer malt auf Fotoausschnitten des Isenheimer Altars (Colmar) von Matthias Grünewald seine Version auf und schreibt dazu: „Die Ansicht, daß sich K(C)olmar in einem Niemandsland befindet, wird sowohl von den Österreichern als auch von der französischen Regierung sicher nicht geteilt werden.“ Dorothee von Windheim teilt Rainers Bewunderung für den Altar und dessen malerische Bedeutung, auch wenn sie in ihren Spurensuchen mehr am Reflex solcher Kunst interessiert ist. Sie stellt unter dem Titel A Ten Years Afterplay die Erlebnisse und Reminiszenzen einer Reise in die Vergangenheit aus, stellt Unschärfe zwischen Kennen und Erkennen fest. In die Stille dieser beiden Arbeiten mischt sich das Geräusch der Malmaschine von Rebecca Horn. Ein Pinsel wirft Pigmente aus einer Kelle auf Boden, Bücher, Wände und Decke - obwohl die Farbe längst verteilt und getrocknet ist, erschrickt man über die abrupte Mechanik der Bewegung, fühlt sich mit Farbe bespritzt und abgewehrt. Dagegen braucht die Installation von Cork Marcheschi den Besucher zur Betätigung seiner Konstruktion. Auf seinen Knopfdruck erst fließt Strom durch ein dünnes Kabel, erleuchtet Neonröhren, schlägt Funken aus nebeneinander hängenden Kupferdrähten.
Erich Reusch nimmt das Niemandsland als Ort für seine Versuche der Dezentralisierung. Er stellt seinen Wandreliefs Teilformen entgegen, die der Seher mit dem Zwang zur Vervollständigung wieder komplettierend zusammen denkt. Reusch kommentiert: „Zentrum: Irrtum und Anmaßung.“ Michael Sauer arbeitet sowohl mit dem Wand- und Flächenraum, seine Objekte rahmen und grenzen den Raum ein, ergänzen ihn mit Hohlraum zu einer eigenen Form, die die Wand als eine Seite braucht. Auch Mechthild Frisch nimmt die Wand als Teil ihrer Stücke. Sie locht Pappkarton, bemalt ihn von zwei Seiten. Durch die Löcher ist ein Farbschatten an der Wand zusammen mit der Vorderseite zu sehen. Kein Bild, kein Relief, keine Plastik - Malstücke nennt sie die durch die Farbe wirkenden Gebilde, die ohne Bearbeitung zur Verpackung von Kunst dienen könnten. Veit Stratmann, Joel Shapiro und Rainer Ruthenbeck arbeiten mit und auf dem Boden, untergraben ihn zeichenhaft, nehmen ihn als Basis von Zwischenformen und als Träger immaterieller Raumformen. Monika Brandmeier hängt zwei Backbleche auf die Eingangswand, schreibt 'intern‘ dazu - durch die Begleittöne des Videos von Ryszard Wasko wird der Eindruck von blinden Monitoren erweckt. Wasko arbeitet in seinen Filmen und Collagen mit der Trennung der Filmbilder (der Frames) und der Raumillusion der Töne, er isoliert Film und Geräusche soweit, daß neue Raum- und Zeitstrukturen entstehen.
Hendri van der Putten zeichnet Fernsehbilder ab, die immer schon verschwunden sind, bevor Erkennbarkeit erreicht ist. Gegenstände zerfallen in lineare Verläufe, Schatten und Licht fallen zusammen, ergeben äußerst abstrakte Formen. Michel Verjux projiziert Licht so, daß neue Raumsichten entstehen, in Passagen, Kirchen - hier im Treppenhaus. Er erweckt neue öffentliche Räume, macht Kino ohne Täuschung mit Licht. Markus Raetz spielt mit dem Vexiereffekt, aus einfachsten Formen - zum Beispiel Zweigen mit Nadeln auf die Wand gepiekt, ergibt sich bei einem bestimmten Abstand die Sicht auf zwei Gesichter in einer Wasseroberfläche. Der Wechsel der Distanz zeigt das Material oder das Bild. Fran?ois Morellet installiert einen Spiegel so, daß wir nicht nur seine Reflexionsseite, sondern auch die schwarze Rückseite wahrnehmen müssen: die Allmacht des Subjekts ist relativ. In dieser Ausstellung wird der Besucher von Objekt zu Objekt gezogen, er selbst muß entscheiden, welches mit dem nächsten zusammengehört, wo die Grenzen sind. Immer wieder neu wird ihm Vieldeutigkeit und Offenheit vorgeführt, das Fehlen von Einheit als Möglichkeit zur Überprüfung seiner Befindlichkeit erschlossen. Thema der Ausstellung ist Relativität, Bedingtheit in den verschiedensten Interpretationen. Niemandsland ist nicht postmoderne Beliebigkeit, sondern wird zur Grenzerfahrung in einem künstlich gesetzten Raum.
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