Alles schon gesehen

■ „Rituale“ - die letzte Tanztheaterproduktion von Rotraut de Neve und Heidrun Vielhauer in Bremen

Vier bis fünf Spielzeiten brauche ein Tanztheaterensemble, um einen gemeinsamen Ansatz, ein Profil zu entwickeln, sagen Fachleute. So viel Zeit hatten die Leiterinnen des Bremer Tanztheaters nicht. Rotraut de Neve und Heidrun Vielhauer haben jetzt mit Rituale ihre letzten Produktion vorgestellt, die insgesamt vierte mit ihrem Bremer Ensemble. Im Herbst wird Hans Kresnik sie ablösen; viele sind froh darüber, sicherlich ebenso viele bedauern, daß die Verträge der beiden Frauen nicht verlängert wurden. Sie haben viel versprochen vor fast drei Jahren, und die Erwartungen waren groß: Tanz und Schauspiel sollten einander angenähert werden, Wort und Bewegung sollten mit gleichem Gewicht im Experiment neu entdeckt, neu entwickelt werden, und das alles mit einem neuen, dem ersten eigenen Ensemble.

„Es war in diesen Jahren einfach ungeheuer schön zu sehen, wie diese Gruppe wächst, wie Fähigkeiten und Kreativität wachsen, wie Freiheit auf der Bühne wächst, die für mich besonders wichtig ist, denn Eingezwängtheit erleben wir jeden Tag. Das sind Dinge, die, wie ich hoffe, man auch in der letzten Produktion erleben kann“, sagte Rotraut de Neve vor der Premiere. Ich glaube ihr gern. Dennoch konnte ich ihre Erfahrung in dieser letzten Produktion nicht wiederfinden.

Rituale - zu einer Ordnung, einem System geronnene Verhaltensweisen, an deren Anfang einmal ein Gefühl stand, das vielleicht zu mächtig, zu unerträglich war: Einige dieser Rituale führten die TänzerInnen vor. Die kleine Stephanie etwa wird von ihrem Vater zur Sängerin getrimmt. Er, der „Urvater ihres Talents“, grabscht sie schon mal gierig an, so daß im Lied vom Heideröschen, mit dem sie zum Ruhme von Vati berühmt wird, obszöne Untertöne mitschwingen. Als sie schließlich im rosa Tüllkleidchen unter der Decke schwebt, erschießt Vati den Typ in schwarzem Leder, der sich an sie heranmacht, und am Ende erschießen sich alle gegenseitig.

Doch die Bilder bleiben harmlos, bunt, aber beliebig und sind nicht einmal komisch; die Schichten von Kälte, bösartiger Dressur und latenter Gewaltsamkeit, wie sie in den Produktionen von Pina Bausch oder auch Reinhild Hoffmann so oft freigelegt wurden, bis in die Fasern der Körper, sie sind unkenntlich. Ist das nun der falsche Maßstab, sollte ich nicht alles bisher Gesehene vergessen, mit unvoreingenommenen Augen hinsehen? Aber die Bilder im Kopf sind mächtig, und sie sind um so unvergeßlicher, wenn sie genau und gut waren. An diesem Abend drängten sie sich vor, ließen sich durch das oft hektische Geschehen auf der Bühne, mit Requisitenzauber im ersten und ohne im zweiten Teil, nicht beiseite schieben, im Gegenteil.

Alles schon gesehen, dachte ich, als fünf Mädchen, zunächst noch schräg und witzig, in kindlichen Hängerkleidchen tanzten und sich kratzten, als sich dann der dünne Vorhang vor fünf Männern hob, die Kleidchen schwarzen Dessous wichen und schließlich der obligatorische Pelzmantel Frau um Frau umhüllte. Als Paare schwangen sie sich in ein rotes Auto in Schräglage, aus dessen Schnauze sie wieder herausrutschten, das war wieder nett. Bitte nicht schon wieder, ging es mir durch den Kopf, als der erste Tango erklang, und er blieb nicht der letzte, und zuweilen wurde er sogar vergnüglich getanzt, ironisch und mit kleinen Abweichungen vom Ritual. Oder auch das Ritual von Chef und Sekretärin: Er bewegt sich in seinem Schreibtisch wie im Laufställchen und bedient sich der Frau. Als der Schreibtisch dann zum Wickeltisch wird und Mami, übergroß und natürlich im Pelz, ihn mit Fläschchen und Peitsche traktiert, da wissen Mann und Frau wieder mal Bescheid. Aber wußten wir das nicht schon längst?

Im zweiten Teil des Abends hoben und senkten sich zwar keine Vorhänge mehr, keine Projektionen wurden mehr auf weiße Flächen geworfen, keine Skizzen schwebten mehr durch den Raum, aber an die Stelle von Pseudobewegung trat auch jetzt nicht die Bewegung des Tanzes, sondern der bloße Leerlauf. Und das nicht, weil Leerlauf demonstriert werden sollte. Im Gegenteil, Bedeutung war angesagt: das Spiel mit Männer- und Frauenrollen zum Beispiel durch Kleiderwechsel oder Übernahme des Gegenparts. Ich hätte es zwar dabei belassen können, mich an den schönen Seidenkleidern der Frauen zu freuen - im Hinblick auf den kommenden Sommer -, doch dazu wies der Zeigefinger allzu penetrant auf die Liebe und ihre problematischen Seiten. Das mit „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ zugespickte Programmheft tat ein übriges.

Im Laufe des Abends verstärkte sich immer mehr der Eindruck, daß da einige Leute gewaltige Probleme mit der gemeinsam zu entwickelnden Produktivität hatten und alles daran setzten, daß keiner das merkt. Da diese Leute, die Leiterinnen jedenfalls, mutige und qualifizierte Frauen sind, liegt die Mutmaßung nahe, daß es schwer ist, eine gemeinsame künstlerische Sprache zu finden. Das zu überspielen geht immer schief, das wissen wir aus leidvoll -langweiligen Frauenritualen. Aber noch halten Heidrun Vielhauer und Rotraut de Neve an einer gemeinsamen Perspektive fest: „Fürs nächste Jahr hat ein Großteil der Gruppe kein festes Engagement angenommen, weil ja auch gewünscht wird, daß wir zusammen weiterarbeiten können und einen Platz finden. Daran arbeiten Heidrun und ich ganz intensiv.“ (de Neve). Trotz der mißlungenen Rituale ich wünsche ihnen dabei viel Glück.

Lore Kleinert