Der Universitätsprofessor

■ Verdauungsstörungen der Made im Speck

Gabriele Goettle

Er war Mitte Fünfzig und hatte sich eingerichtet. In jeder Beziehung. Dennoch geschah etwas Unerwartetes. Seine Frau, wie er früher zu sagen pflegte, hatte ihn verlassen. Zuerst schien es sich nur um eine Mißstimmung zu handeln. Sie bestand darauf, alleine mit Sohn Benjamin ins Haus nach Portugal zu fahren. In dieser plötzlich ausbrechenden Renitenz vermutete er den Versuch, ihm eine Lektion zu erteilen. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Er verbrachte die Ferien im Haus eines Freundes in Irland, zuversichtlich, daß sich alle Probleme von selbst lösen würden.

Statt dessen aber waren sie am Ende der Ferien zu einem unabänderlichen Entschluß ausgereift. Seine Frau zog aus, mit Benjamin. Vollkommen ruhig hatte sie ihm erklärt, wie nach zwölf Jahren Eheleben ihr Blickfeld sich zunehmend verengte. Gerade die Reibungslosigkeit zwischen ihnen sei unerträglich. Man habe sich durch die routinierte Bewältigung des Alltags von der allgemeinen Lebenspraxis entfernt und nur noch funktioniert. Ein solches Leben sei flach und auf grauenvolle Weise überschaubar, sie habe nur noch den einen Impuls, damit Schluß zu machen und eigene Lebensperspektiven umzusetzen.

Seit dem Tag, an dem er alleine zurückgeblieben war im Haus, hatte er seine Geistesgegenwart eingebüßt. Er verstand das Vorgefallene nicht, fühlte sich enteignet und unfähig, die arglistige Diebin zu verfolgen. Er spürte, wie ihm der Sinn all seiner Handlungen zusehends abhanden kam und die gewohnte Selbstgewißheit sich auflöste ins Uferlose. Aber stärker noch als die Vorstellung, sinnlos zu handeln, bedrückte ihn die momentane Unfähigkeit, überhaupt noch zu handeln. Hospitalisiert im eigenen Haus, saß er im Arbeitszimmer am Schreibtisch, ehemals ein Ort der Zurückgezogenheit, rauchte unmäßig und vertiefte sich in unbedeutende Details.

Er sagte der Putzfrau ab und versank in zunehmender Verwahrlosung. Eine Bronchitis verhalf ihm dazu, berechtigterweise das Bett zu hüten. Das fiel ihm um so leichter, als an der Universität ohnehin durch die Studentenstreiks jeder Lehrbetrieb lahmgelegt war. Aus dem ehemals gemeinsamen Schlafzimmer hatte er alles Notwendige nach unten geholt und sich in einer Kammer neben der Garderobe spartanisch eingerichtet. In diesem zellenartigen, untapezierten, kühlen Raum mit dem kleinen vergitterten Fenster lag er, suhlte sich in erfahrungsloser Larmoyanz und hustete sich angestrengt in den Schlaf.

Weil aber ein solcher Zusammenbruch bei vollkommener materieller Absicherung selten eine verkrachte Existenz zur Folge hat, erholte sich der Unglückliche nach einiger Zeit zusehends und beschäftigte sich, etwas abgemagert zwar und schwach, damit, die Ordnung wieder herzustellen. Als er alles, was noch von Renate und Benjamin herumlag, nach oben gebracht hatte, fühlte er sich wohler. Die Putzfrau kam wieder zweimal wöchentlich und stellte nach anfänglicher Mitleidsbekundung keine Fragen mehr.

Als er sich zu gröberer körperlicher Arbeit hingezogen fühlte, erfüllte er sich einen alten Wunsch. Im Garten hinter dem Haus schippte er einen ganzen Nachmittag Erde aus dem alten Sandkasten in das ehemals mühsam angelegte Feuchtbiotop. Mit Genugtuung sah er die Wasserpflanzen in der schlammigen Brühe versinken. Statt Libellen und Wasserläufer anzulocken, hatte sich der Miniaturteich als ideale Brutstätte für Tausende von Schnakenlarven erwiesen. Gegen Abend war davon nichts mehr zu sehen.

Fast ging er nun gerne durchs Haus, jedenfalls durch die unteren Räume, die obere Etage ignorierte er. Zum ersten Mal seit Jahren sah er bewußt beim Herumgehen Bilder und Mobiliar und in den Regalen so manches Buch, das er längst vergessen hatte. „Das viele Wohnen verwischt den Blick auf den persönlichen Komfort“, sagte er sich und beschloß, einige Möbel umzustellen.

In dieser Zeit begann er damit, seine Arbeit wieder aufzunehmen - die ihn nicht sonderlich forderte - und eine Leidenschaft fürs Kochen zu entdecken. Er kaufte stapelweise Kochbücher. Auf diese Weise erlaubte er sich, wie früher nun am Wochenende zum Einkaufen zu fahren, und brachte bald Lebensmittel für drei Personen mit. Teure Weine, seltene Fische und Gemüse im Haus zu haben, erfüllte ihn mit wohltuender innerer Ruhe. Das Studieren der Kochrezepte und Zusammenstellen der Einkaufszettel geschah mit Akribie. Nie vergaß er etwas. Vom Hefekranz bis zu Hechtklößchen und flambierten Feigen gelang ihm bald alles. Die Mahlzeiten zelebrierte er, als seien sie ihm serviert worden, mit Kerzenlicht, Wein und Servietten. Eine regelrechte Darbietung.

Die subkutane Wirkung dieser Leidenschaft blieb nicht aus. Speise und Trank fuhren ihm unter die Haut. Er kaufte sich eine vollständig neue Garderobe in der passenden Konfektionsgröße und beobachtete die Kollegen mißtrauisch, beruhigte sich jedoch, als niemand etwas zu bemerken schien. Dennoch fühlte er sich insgeheim wie verkleidet.

Eines Vormittags stand dieser Vertreter fleischgewordener Trauerarbeit mit anderen Kollegen in einem überfüllten Seminarraum zwischen den streikenden Studenten. Eine junge rothaarige Frau trug mit lauter Stimme vor, daß der Kampf um Frauenforschungsstellen drohe zu einer eher beiläufigen Forderung zu werden. Während sie sprach, wippte sie auf den Zehenspitzen und gestikulierte nachdrücklich mit kräftigen Handbewegungen. Sein Blick heftete sich auf ihre hervortretende Halsschlagader, und plötzlich wurde ihm schlecht. Irritiert zog er sich in sein Zimmer zurück und blätterte zerstreut in den Flugblättern, die man ihm gegeben hatte. Dann kamen drei Kollegen herein mit Kaffee und Kuchen. Sie waren bester Stimmung und redeten begeistert über den Streik und die autonomen Veranstaltungen. Er hingegen wurde plötzlich rabiat: „Unpolitisch sind sie, vollkommen unpolitisch! Brave Reformer!“ schrie er. „Waren wir das nicht auch?“ sagte Kollege D. und lachte.

Er gab die Kochkunst auf und beschloß, sein altes Gewicht wiederherzustellen. In der Bibliothek blätterte er in den Heften der Stiftung Warentest und ließ sich dann in mehreren Sportgeschäften fachkundig über den besten Laufschuh beraten. Mit allem Nötigen ausgestattet fuhr er im Morgengrauen in den Wald, um bereits nach zweihundert Metern schnellem Lauf mit Seitenstechen ins Laub zu sinken. Dann aber fiel es ihm von Tag zu Tag leichter. Bald konnte er einen Kilometer und mehr bewältigen, ohne daß ihm der Atem versagt hätte. Weich federte er durch die Morgenluft. Wie ein Wolf in der Spur des Rudels fühlte er sich. Von außen gesehen, wirkte er wie ein Marathonläufer mit der Unglücksbotschaft. So, als sei er glücklich, künden zu können von der gelungenen Unterjochung des eigenen Leibes, der Anwendung des Faustrechts gegen sich selbst. In blinder Selbstbeherrschung rannte er dahin und gewann.

Das Fett schwand ebenso wie die vorübergehende Disziplinlosigkeit. Abends saß er am Schreibtisch und arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Er schrieb sogar einen freundlich distanzierten Brief an Renate und einen väterlich-kumpelhaften an Benjamin. Nach einer Woche erhielt er Antwort. Den Brief zu lesen, ließ ihn seltsam gelassen. Es ging ihnen offensichtlich gut, eine Wohnung war gefunden und eingerichtet, ebenso Übersetzungsarbeiten für einen Verlag. Benjamin, so versicherte Renate ausdrücklich, habe kaum noch Sprachschwierigkeiten. Er wünsche sich eine Punkfrisur, bekomme aber statt dessen einen Hund. Ihre Schrift kam ihm fremd und energisch vor, und der heitere Tonfall wirkte ganz selbstverständlich.

Über Weihnachten fuhr er zu seinen Eltern. Obgleich er wußte, daß es ein Fiasko werden würde, konnte er es diesmal nicht ablehnen. Als er sie dann in die Arme schloß, roch er ihren greisenhaften Atem. Seltsam geschrumpft kam ihm die Mutter vor und wie vertrocknet der Vater. In nervenaufreibendem Kontrast dazu stand die emsige Sorge um sein Wohlergehen. Ein Weihnachtsbaum war geschmückt, ein Pullover gestrickt und ein Stollen gebacken worden. Es verging kein Tag, an dem nicht von dem Unglück einer zerbrochenen Ehe die Rede war und davon, wie sich vielleicht doch noch alles wieder einrichten ließe.

Sehr erleichtert reiste er ab. Dennoch konnte er ein blindes Schuldgefühl nicht loswerden. Weinend und leicht schwankend hatten sie am Gartenzaun gestanden, und der Vater winkte mit einem blauen Taschentuch. Sein Anzug war ihm zu groß. Bald würde es notwendig werden, die beiden Alten in sachkundige Pflege zu geben. Beim nächsten Besuch war eine Auseinandersetzung über diesen heiklen Punkt unausweichbar.

Zu Hause angekommen, fand er alles in wohltuender Ordnung. Frau Wenke hatte sogar Blumen in sein Arbeitszimmer gestellt und eine Dose voller Weihnachtsplätzchen. Er nahm sich vor, ihr die Anzüge und Hemden mitzugeben, die um so nutzloser im Schrank hingen, als er sicher sein konnte, sein Gewicht nicht nur zu halten, sondern auch noch um einige Pfunde zu reduzieren. Die morgendlichen Läufe nahm er in der gewohnten Pünktlichkeit wieder auf, er begann sogar damit, sich wieder ein ordentliches Schlafzimmer einzurichten. In seiner wiedergewonnenen Frische drängte es ihn zur Arbeit. Daß immer noch gestreikt wurde, behinderte seinen Tatendrang auf unangenehme Weise. Mit der Mehrzahl der Kollegen am Fachbereich war er der Meinung, daß die Wiederherstellung des geordneten Lehrbetriebs, bei allem Verständnis für die Probleme der Studenten, nun dringend geboten sei.

Des Alleinseins ein wenig müde, gab er eines Tages - mehr aus Übermut und Neugier allerdings - folgende Annonce in einer großen Tageszeitung auf: PARTE BEATUM

Kein Grund zur Verzweiflung.

Gibt es eine Frau (Mitte 40),

in der sich linksintellektuelle

Interessen, zärtliche

Sinnlichkeit und Toleranz,

mit Bindungsfähigkeit paaren?

Ich, Mittfünfziger, groß, schlank,

an der Universität tätig (Lehre),

getr. lebend, erwarte mit Freude

Ihre (Bild-)Zuschrift.

Ob sich eine qualifizierte Dame gemeldet hat, entzieht sich meiner Kenntnis.