Wagner, umgepflügt

■ Klaus Hubers „spes contras spem“ in Düsseldorf, Bochum und Köln

Frieder Reininghaus

„Daß Werke wie jene, die aus Pergamon stammen, immer wieder neu ausgelegt werden müßten, bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgeborenen aus Finsternis und Sklaverei erwachten und sich in ihrem wahren Aussehen zeigten...„ Peter Weiss, „Die Ästethi

des Widerstands“, Band

Seit Mitte Februar zeigt die Brüsseler Oper wieder einmal irritierend schöne Bilder. Sie stammen von Johannes Schütz und dienen der Parsifal-Inszenierung von Peter Mussbach. Die Lebenswelt der Gralsritter, dieses heruntergekommenen Männerbundes, erscheint grob ernüchtert; der heilige Gral, die Kristallschale mit dem Blut des Religionsstifters, hat sich zum Graffito verflüchtigt; ist zur Hieroglyphe kondensiert, weil der Inhalt des Kultus selbst abhanden kam. Der maroden Altherrengesellschaft ist im Grunde nicht mehr zu helfen. Doch da kommt Parsifal, der junge Draufgänger, der naive Alternative, dem der pflegliche Umgang mit der Natur, der Respekt vor den Ritualen und das Mitleid beigebracht werden. Die Erlösung der Obergralshüter Amfortas, die Vernichtung der Doppelagentin Kundry und der soziale Aufstieg Parsifals vollziehen sich auf einem Frühlingsacker mit dunklen Furchen - der Boden des allerdeutschesten Bühnenweihfestspiels ist tief umgepflügt worden. Anders geht es nicht mehr mit Wagners ungeheuren Großwerken, wenn ihre Aufführung nicht trübe Traditionen forttreiben soll.

Einen wesentlichen Schritt über die bloß immanent kritische Interpretation aber geht das nordrhein-westfälische Projekt Wagner und... hinaus. Es liegt quer zum eingespielten Opernbetrieb und dessen unverkennbaren „Sachzwängen“. Das Schlüsselstück ist ein von Werner Schroeter inszeniertes Szenisches Konzert, das von der Konfrontation lebt: Richard Wagner gegen Klaus Huber. Vor allem: Huber wider Wagner.

Erst einmal schien bei der Premiere im Düsseldorfer Schauspielhaus unter einem geschwungenen roten Samtvorhang die Wagner-Welt noch einigermaßen in Ordnung. Aus dem Graben ertönte das Lohengrin-Vorspiel, zwei Damen in Biedermeierkleidern bezogen auf der mit Notenständern bestückten Bühne Stellung. Die eine zelebrierte Sentas Ballade aus dem Fliegenden Holländer, die andere wartete auf ihren Einsatz als Walküre. Dazwischengeschoben war eine Szene von Georg Büchner: ein Dialog aus Dantons Tod, verteilt auf fünf Sprechstimmen. Derweil kam Bewegung in die Inszenierung. Die Bochumer Symphoniker wurden von der Hydraulik aus der Tiefe emporgestemmt, verteilten sich über die Bühne und intonierten - in lockeren Kreisen um den Dirigenten Eberhard Kloke geschart - den Liebestod. Als Isolde lief Kristine Ciesinski zu beachtenswerter Form auf. Noch schöner als sie aber starb dann June Card, die Brünhildes Schlußgesang aus der Götterdämmerung auszukosten hatte bis zur bitteren Neige. Immer wieder geht sie zu Boden. Bis sie kopfüber von der Rampe hängt.

Nachdem der hingebungsvolle Frauen-Tod hinreichend oft zu bewundern war, diese immer wiederkehrende Wagnersche „Erlösung durch Vernichtung“, erfolgt der Gegenschlag: Das Vorspiel zu Klaus Hubers neuer Komposition spes contra spem (ins Lateinische rückübersetzt nach einem Motto von Dorothee Sölle „Im Widerstand leben, das heißt: gegen alle Hoffnung auf Hoffnung hin“). Dieses Vorspiel kommt zum Teil aus der Konserve (elektronisch erzeugte Geräusche), von den nunmehr wehklagenden Wagner-Sängerinnen (die auferstanden und nach vorn getreten sind), von den herumlaufenden Instrumentalisten (aus den Werkzeugen der Militärkapelle), von den Schauspielern. Rezitiert, gerufen, hinausgebrüllt werden beziehungsreiche Sätze verschiedenster Herkunft: „In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein“ (Staatssekretär von Bülow, 1899) - dagegen Rosa Luxemburg, Ernst Bloch, Pablo Neruda - und dazwischen Novalis, Hartmann von Aue, Hölderlin. Später Goethe, Gorki, Brecht, Peter Weiss. Das alles häuft sich zu einem Crescendo von erheblicher Intensität, verdichtet sich zum geballten Kontrapunkt gegen das Wagnerische Klangweben, die unendliche Melodie, die höchsten Erlösungstöne. Das Crescendo erfaßt das ganze Theater, seine Schallquellen umzingeln die Besucher, die nach dem Kulminationspunkt Zeugen von Klaus Hubers (Anti-)Festspiel werden. Zu ausgewählten Götterdämmerung-Passagen werden Zitate des Bayreuther Meisters gesungen und rezitiert. Im gewaltigen Chor (in strengem Wagner-Satz) erklingt eine Briefstelle des vormaligen Revolutionspoeten Georg Herwegh. 1873 hatte die „Eiserne Lerche“ an Wagner geschrieben: „Mache Dir klar, mein Bester, die einzig wahre Zukunftsmusik ist schließlich doch 'Krupps‘ Orchester“. Da schlägt die Pauke wie die 'Dicke Bertha‘ drein.

Huber rechnet mit Wagner ab. Politisch. Ideologiegeschichtlich. Vor allem musikalisch. Die Muster der theoretischen Wagner-Kritik sind seit Nietzsches brillanten Polemiken eingespielt (und doch ohnmächtig geblieben). Der deutsch-schweizerische Komponist aus Freiburg bedient diese Muster, bekräftigt noch einmal, daß der Gesamtkünstler Wagner an den Wagner-Vereinen, an der Erhebung der deutschen Gemüter und am deutschen Imperialismus nicht unschuldig war. Der Überlegenheitsdünkel, der Weltmachtanspruch, die Sieg-Fried -Linie bedurften dieser Begleitmusik. Die Worte, auf die es ankommt, gehen im mehrschichtigen Geflecht der Huber-Musik nicht unter: es soll verstanden werden können, was so hartnäckig nicht begriffen sein will.

Auf verschiedene Weise arbeitet sich Huber an Wagners musikalischem Material ab: er benutzt das einfache Mittel der Umtextierung und aufwendige elektronische Verzerrungen, er führt Leitmotive weiter, versetzt und zersetzt sie, überlagert und überformt sie. Das erinnert an bestimmte Übermalungstechniken in der neueren Kunst. Vielleicht liegt dem auch ein alter protestantischer Gedanke zugrunde: daß durch Besinnung auf den Kern des Alten und die Hinzufügung neuer Erkenntnisse etwas reformiert werden könne - das sosehr den Zonen des Unbewußten überantwortete Verhältnis von Musik und Text. Jedenfalls wird die Substanz des Wagnerschen Tonsatzes umgepflügt. Womöglich in der Hoffnung, daß sich das Feld neu bestellen ließe.

Klaus Hubers spes contra spem besticht durch die Klarheit des Einspruchs. Die Inszenierung des Stücks kehrte freundlich eine (aus der Theaterpraxis allerdings weitgehend verschwundene) Dekadenz der Wagner-Heroinen (und deren lächerliches Gehabe) hervor. Einiges war bei der Frankfurter Produktion der Europeras von John Cage erborgt - von den Bildtafeln über die Monitoren mit Zeitanzeige bis zur Präsentation aller musikalischen Aktion als Theatervorgang. Aber Huber beabsichtigte weit mehr als nur interessantes und anspielungsreiches Theater über Theater. Mit recht altmodisch anmutendem Ingrimm engagiert er sich für eine bessere Welt, in der das reale Leiden nicht von Musikkaskaden übertönt werde, sondern nach Möglichkeit ein Ende finden soll. Er hat, aufs neue, ein Stück protestantischer Bekenntnismusik entwickelt, das beim Theater ansetzt (weil dort derzeit die kultischen Bedürfnisse wohl besser befriedigt werden als in den Kirchenräumen), und das doch über das Theater hinauszielt. So ist seine Arbeit nicht nur ein Gegenmodell gegen das Prinzip Zufall, mit dem John Cage operierte, sondern ebenso deutlich gegen die monomane Kunst Stockhausens, gegen deren Allerweltsideologie und Heilslehren. Spes contra spem: ein zorniges Stück. Eine Überdosis Salz in der Suppe der musikalischen Leckermäuler.

Die nächsten Termine: Bochum (AudiMax der RUB) am 1. und 2. März