Mehr mit der Haut als mit dem Kopf

Ein Gespräch mit Theo Angelopoulos, dem Regisseur von „Landschaft im Nebel“, über die Schwierigkeit, seine Filme zu verstehen  ■ I N T E R V I E W

Unter den großen Erfindern des Kinos ist der Grieche Angelopoulos einer der unbekanntesten. Vielleicht weil er in einem Land arbeitet, in dem es fast keine Filmindustrie gibt. Von seinen elf Filmen, die er seit 1968 drehte, erhielt nur einer keinen Preis: Angelopoulos wurde geehrt mit dem Goldenen Bären, mit Auszeichnungen vom Prix Sadoul bis zum Goldenen Hugo.

Mitte der siebziger Jahre schuf er „O Thiassos“ („Die Wanderschauspieler“), einen Film, für den allein er schon in die Filmgeschichte eingehen wird. In einer neuen, fremden und eigentümlich poetischen Filmsprache erzählt er die Geschichte Griechenlands am Beispiel einer Wanderschauspielgruppe. Er beeinflußte Bertolucci, der aber selbst sagt, daß „1900“ nicht an sein Vorbild heranreicht. 1975 gewann Angelopoulos in Cannes den Großen Kritikerpreis für „Die Wanderschauspieler“. Das Britische Filminstitut wählte ihn zum besten Film des Jahres, ein italienisches Gremium erklärte ihn zum besten Film der Dekade 1965-1975. Großer Filmpreis in Japan usw. Sein neuer Film „Landschaft im Nebel“, der jetzt bei uns in die Kinos kommt, wurde 1988 in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet.

Angelopoulos wurde 1936 in Athen geboren. Er studierte Jura, ging 1961 nach Paris. Studium der Philosophie und Literatur, ab 1964 Film am Institut Des Hautes Etudes Cinematographique. Er arbeitete als Filmkritiker für eine Athener Tageszeitung, die später von der rechten Militärdiktatur verboten wurde. Er war Mitherausgeber der Filmzeitschrift 'Synchronos Kinematografos‘.

Angelopoulos gehört zu den Filmkritikern, die selbst Filmemacher wurden und ihre Erfahrung als Kritiker nutzen konnten. Das erklärt er so:

Theo Angelopoulos: Ich versuche Filme zu machen, die meine Erfahrung als Zuschauer verarbeiten, das heißt meinem Bedürfnis nach Freiheit, das ich auch beim Zusehen habe, Rechnung tragen.

Stört es Sie, wenn Ihre Filme nicht verstanden werden?

Das kommt vor. Ich bin Schauspieler, und wenn die Stimmung im Publikum gut ist, spiele ich gut.

Was erwarten Sie von Ihrem Publikum?

Man stellt sich immer einen idealen Zuschauer vor, meiner ist nicht passiv. Er ist Komplize und Koautor des Films, ohne ihn existiert der Film nicht.

Wie könnte die Arbeit des Publikums bei Ihrem neuen Film aussehen?

Das kommt auf den einzelnen an. Jeder Film, der vor unseren Augen abläuft, nährt sich von den Dingen, die in uns sind. Deshalb kann es von einem Film verschiedene Interpretationen geben. Jeder Zuschauer projiziert sich selbst in den Film hinein. Ein deutscher Film hat daher vor einem deutschen Publikum eine größere Chance, verstanden zu werden, als vor einem anderen.

Haben Ihre Filme in Griechenland mehr Erfolg als woanders?

Nein. Was ich gesagt habe, gilt auch nicht für Leute wie Wim Wenders. Es gibt einige Regisseure, die ein internationales Publikum haben. Manchmal hängt es an der Person des Regisseurs, der etwas Nationalspezifisches international machen kann, es kann aber auch daran liegen, daß einige Kulturen universaler sind als andere.

Sie gehören zu der ersten Kategorie?

Ja, weil in meinen Filmen Griechenland ein imaginärer Ort ist. Eine Idee, keine Geographie.

Ihre Filme sind alle sehr langsam...

Es ist, wie wenn ich einen Ton auf dem Klavier spiele und ihn ausklingen lasse. Auch danach mache ich noch keinen Schnitt, sondern lasse es stehen. Wie man einem Essen nachschmeckt. Das mag vielleicht wie Langsamkeit aussehen, ich nenne das Atemholen. Das unterscheidet sich natürlich sehr von dem, was normalerweise im Kino passiert.

Die Bilderfolgen und das Atemholen geben jedenfalls einen getragenen Rhythmus.

Heute, da wir alle an Fernsehen und Video gewöhnt sind, ist das wirklich ein ungewöhnlicher Rhythmus. Wieviel Zeit verbringt der durchschnittliche Zuschauer im Kino? Ziemlich wenig; viel, viel mehr Zeit verbringt er vorm Fernseher.

Überfordern Sie also mit Ihrem Rhythmus die Leute? Wie reagiert man darauf?

Da ich der Regisseur bin, höre ich natürlich vor allem die positiven Einschätzungen. Niemand kommt nach der Vorführung zur mir und sagt: Monsieur, ich mochte Ihren Film nicht. Die, die ihn nicht mochten, kommen eben nicht. Daher kann ich die Wirkung meiner Filme nicht einschätzen. Ich habe aber ein Publikum in allen Ländern. Ein kleines Publikum allerdings. Ich möchte und ich kann keine Filme für die großen Zuschauermassen machen. All meine Filme sind intellektuelle Abenteuer, und es gibt nicht sehr viele Leute, die den Mut haben, sich darauf einzulassen. Sie sind schwer, weil sie nicht das Gewissen beruhigen.

Hat der langsame Rhythmus etwas mit Melancholie zu tun?

Es ist ein Adagio, kein Presto, das ist eben mein Tempo. Ich übersetze mein Gefühl, meine innere Musik. Man kann niemand fragen, warum machst du kein Presto.

Woher kommt die Geschichte, die Ihrem neuen Film „Landschaft im Nebel“ zugrunde liegt?

In einer Zeitungsnotiz las ich vor einigen Jahren, daß zwei Kinder nach Deutschland aufbrachen, um ihren Vater zu suchen. Mich beeindruckte dieses starke Verlangen, den Vater zu finden.

Die Reise der Kinder wird auch eine Reise durch Ihr eigenes Filmschaffen. Sie bauen Hinweise und Zitate aus Ihren anderen Filmen ein...

Ja, diese wahre Geschichte wird ja zu einer allegorisch -metaphorischen Erzählung. Es ist kein neorealistischer Film, obwohl der Stoff sich hervorragend dafür eignen würde. Seit Beginn der siebziger Jahre sind alle bedeutenden Werke der Filmkunst von Tarkowsky bis Oshima dem Metaphernkino zuzurechnen. Heute verändert sich das gerade. Ich mache damit weiter, weil ich glaube, daß das die einzige poetische Form des Filmemachens ist.

Wie Stolpersteine liegen überall im Film diese Symbole herum!

Genau, ich baue Bilderschocks in den Ablauf, die auch einer inneren Logik dieser Fabel entsprechen. Das ist eine Märchenlogik, die Riesen braucht, das Übergroße, Unwahrscheinliche. Die Schocks habe ich früher, zum Beispiel in den Wanderschauspielern, durch Kontraste, durch antithetische Situationen hergestellt.

Ist es Ironie, daß die Kinder ausgerechnet nach Deutschland wollen?

Nein, es gab Anfang der siebziger Jahre eine Immigrationswelle von Griechenland nach Deutschland. Auf dem Lande gab es kaum eine Familie, die nicht einen Verwandten in Deutschland hatte. In der Vorstellung der Leute war Deutschland so etwas wie Amerika zu Anfang des Jahrhunderts. Deutschland ist in meinem Film ein metaphorischer Ort.

Überall Metaphern und Symbole und dann die Weigerung, sie zu bestimmen oder bestimmen zu lassen. Wollen Sie den Zuschauer dem kindlichen Blick wieder annähern?

Ja, er soll mehr mit der Haut als mit dem Kopf empfinden.

Schwierig, schließlich sind Ihre Filme auch intellektuelle Konstrukte.

(lacht laut und lange) Eben. Ich mache wirklich ganz besondere Filme, die ursprünglich nur für mich, meine Mutter und meine Kinder gedacht waren. Plötzlich gibt es dieses unglaubliche Interesse. Also sage ich mir, da muß was dran sein. Ein Mysterium, ein Geheimnis. Bei der Premiere derWanderschauspieler sagten alle meine Freunde und auch die Fachleute, Theo, dieser Film bringt dir keinen Pfennig ein. Ich war enttäuscht, obwohl ich mich gefreut habe, ihn gemacht zu haben. Völlig unvorbereitet wurde der Film dann in Cannes als Ereignis des Jahres gefeiert. Das ist ein Rätsel, und ihr müßt es lösen!

Das versuchen wir ja gerade. Ihre Filme sind mit Geld vom Fernsehen produziert, eignen sich aber überhaupt nicht für das Fernsehbild.

Das habe ich auch nicht kapiert. Die Fernsehleute sind wahrscheinlich Masochisten.

Das Gespräch führte Gunter Göckenjan