Prima Leben unterm Stiefel

Montagsexperten kommen zu Wort. Heute: Enno Bohlmann  ■ Ü B E R L E B E N S B Ö R S E 8 9

Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Eine harte Wahrheit, die uns nicht den Blick verstellen sollte für ein Top-Lebensgefühl. Prima zurechtkommen ist eine reale Möglichkeit, die für jeden erreichbar ist. Jeder kann sich für eine vollkommene, sich im gegenwärtigen Augenblick manifestierende geistige Gesundheit entscheiden. Das Leben voll leben.

Für den Anfang mag es genügen, eine Fabriketagen-WG am Paul -Lincke-Ufer zu gründen (abgezogene Dielen, hell, Ausblick auf Türkenmarkt) oder wenigstens eine anderweitige Kreuzberger Adresse vorzuweisen (O-Straße, H-Platz, W -Straße, M-Platz). Simple Gemüter können sich damit durchaus bescheiden und fühlen sich unverzüglich in den Stand versetzt, die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens klar und wahr zu beantworten. „Ich bin Berliner“ besser: „Ich lebe in Kreuzberg“ oder im fortgeschrittenen Stadium: „Ich komme aus der Hausbesetzerbewegung“ bzw. „Ich bin 68er und habe dazugelernt.“

Hin und wieder allerdings sind die sinn- und identitätsstiftenden Zusammenhänge von zyklisch wiederkehrenden Krisen bedroht. Das kann schon mal passieren, muß aber nicht gleich zu selbstvernichtendem Jammern und Wehklagen führen. Ein tolles Gedicht schreiben und auf der taz-Wiese plazieren kann in leichten Fällen schon Wunder wirken. Nachhaltigere Wirkung indes erzielt man mit dem Eintritt in die wundervolle Welt der Medienschaffenden. Ein schönes Gefühl der allumfassenden eigenen Bedeutsamkeit greift sofort um sich. Das Leben ist wieder liebenswert.

Doch geben wir es ruhig zu: Nicht alle gehören zu den Glücklichen, die es geschafft haben, intensiv mit jeder Faser des Körpers erfüllt aus dem Vollen zu schöpfen. Nehmen wir zum Beispiel Boris Becker. Er mußte letzthin ein höchstwichtiges Match wegen eines Fieberanfalls, der ihn ereilt hatte, absagen. „Ich habe 38,4 Fieber und Schüttelfrost. Warum glaubt mir das keiner?“ Nach diesem Verzweiflungsschrei in nachgerade richtigem Deutsch erfolgte der erwartete Absturz. „Das hab‘ ich mir von der mörderischen Klimaanlage des Hotels in Philadelphia eingefangen.“ Himmelschreiende Debilität als treibende Seelenkraft - das macht immer wieder fassungslos und bestätigt gleichzeitig die Richtigkeit des Unterfangens, gesunde Menschen zu schaffen. Ein anderes Beispiel des galoppierenden Hirnschwunds: Peter Tamm, Vorsitzender der Axel Springer Verlag AG anläßlich der Verleihung der Goldenen Kamera: „Fernsehen sollte Menschen miteinander verbinden und somit der Völkerverständigung dienen.“ Vervollständigt wird das herrschende Dummheitsprofil durch die Ankündigung des Ullstein-Verlags, am 18.März den Frank Schmeichel Report auf den Büchermarkt zu werfen, worin das Bettgeflüstergewichse des Seierkopfs gebündelt zum Druck kommt. Ein von der Persönlichkeitsstruktur her Frank Schmeichel ähnlich gelagerter Fall tritt uns mit Joachim Fuchsberger entgegen. In einer der letzten „heut abend„ -Sendungen war Katharina „Kati“ Witt zu Gast. Nur mit Mühe konnte der alte Lustgreis seine Notgeilheit unterdrücken und schlitterte nur knapp an einer öffentlich-rechtlichen Triebtat vorbei.

All diesen Bedürftigen soll diese Kolumne helfen. Was soll mit dem 7,5-Prozent-Bewußtsein und dessen geläutertem Faschismus geschehen? Gut zureden (argumentative Aufklärungsarbeit) oder eins in die deutsche Fresse (erzieherische Wirkung der Realität)? Fragen über Fragen. Der von vielen Seiten geforderten „Kultur des Streits“ (Joscha Schmierer, Dany Cohn Bendit und Wiglaf Droste) soll hier eine Kultur des Helfens entgegengesetzt werden. Befördern wir die Infrastruktur der Kommunikationslandschaft - schaffen wir neue lebendige und authentische Zusammenhänge, damit immer mehr Menschen von uns begeistert sind.

Enno Bohlmann