Wider die Erbsenzählerei

In einer noch unveröffentlichten Studie kommt US-Senator Carl Levin zu einer sehr differenzierten Einschätzung des konventionellen Ost-West-Kräfteverhältnisses in Europa und widerlegt die Nato-Behauptung von der umfassenden Überlegenheit der Warschauer Vertragsorganisation (WVO)  ■  Aus Wien Andreas Zumach

„Das Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte in Mitteleuropa ist weitaus komplexer, als es gewöhnlich sowohl von den westlichen Regierungen als auch den Medien dargestellt wird. Die gebräuchlichste Methode zur Beschreibung des konventionellen Gleichgewichts in Europa ist die statistische, quantitative Berechnung oder „Erbsenzählerei“ der konventionellen Rüstungsbestände von Nato und Warschauer Pakt. Die herkömmliche Analyse des militärischen Gleichgewichts ist nicht nur unvollständig, sondern auch irreführend.“

Diese Sätze stammen nicht von einem linken, friedensbewegten Kritiker der Nato-Öffentlichkeitsarbeit, sondern aus einem Schreiben des Vorsitzenden des „Unterausschusses für konventionelle Streitkräfte und alliierte Verteidigung“ im US-Senat, Carl Levin, an seinen einflußreichen Kollegen Sam Nunn, Vorsitzender des in allen Rüstungs- und Verteidigungsfragen federführenden Streitkräfteausschusses. Mit diesem Schreiben legte Levin dem Streitkräfteausschuß Ende 1988 eine ausführliche Studie zur Beratung vor, die das konventionelle Ost-West -Kräfteverhältnis in Europa sehr viel differenzierter darstellt als die gängige Propaganda der Nato-Regierungen von der umfassenden Überlegenheit der Warschauer Vertragsorganisation (WVO).

Levins Quellen sind unverdächtig. Er stützte sich auf eine kürzlich für die Oberkommandierenden der US-Teilstreitkräfte erstellte geheime Analyse und Berichte verschiedener Geheimdienste, sowie auf Materialien der Forschungsabteilung des US-Kongresses und des Londoner „Internationalen Instituts für strategische Studien“. Der US-Senator untersuchte insgesamt 13 „wichtige Faktoren, die in Rechnung gestellt werden“ müßten, um „den Kerngehalt der komplexen militärischen Situation in Europa“ zu verstehen. Das von ihm zugrundegelegte Szenario beschränkt sich dabei auf einen Angriff der WVO auf Nato-Territorium. Das westliche Bündnis kommt ausschließlich in der Verteidigerrolle vor.

Überraschungsangriff und Mobilmachung

Levin konstatiert zunächst „eine überlegene Fähigkeit“ der WVO, einen Überraschungsangriff mit nur geringer Mobilmachung zu starten - verglichen mit der Fähigkeit der Nato, sich gegen einen solchen Angriff zu verteidigen, wenn ihre Streitkräfte nicht mobilisiert werden. Die WVO hat diese Überlegenheit inzwischen eingeräumt. Ein großer Teil der jüngst von Gorbatschow angekündigten einseitigen Abrüstungsschritte beziehen sich auf die vorwärtstationierten angriffsfähigen Streitkräfte, die die Überlegenheit in diesem Punkt bislang ausmachen.

Quantität großer

Waffensysteme

Dasselbe gilt für die von Levin festgestellte WVO -Überlegenheit bei der Quantität der Großwaffensysteme wie Panzer, Artillerie oder Infanteriefahrzeuge. Hier hat sich die WVO mit Blick auf die heute beginnenden Wiener Verhandlungen zu asymmetrischen Reduzierungen bereiterklärt. „Zahlen“, schränkt Levin die Bedeutung dieses Kriteriums ein, seien in einer Kriegssituation aber nur entscheidend, „wenn alle anderen Faktoren gleich sind“.

Qualität großer

Waffensysteme

Bei der Qualität der Waffen - nicht nur bei den in diesem Zusammenhang oft angeführten Flugzeugen - sieht Levin die Nato im Vorteil. Auch wenn die UdSSR „den Abstand auf vielen Gebieten verringert“ habe, bleibe „die westliche Führung bei bestimmten Schlüsseltechnologien“. Sie könne zu „revolutionären Fortschritten in der Wirksamkeit konventioneller Waffensysteme führen“. Levin zitiert das Buch Das militärische Gleichgewicht zwischen USA und UdSSR 1980-1985 des US-amerikanischen Rüstungsforschers John Collins, der die Leistungsfähigkeit der beiden Großmächte bei 126 für die Rüstung wichtigen Schlüsselindustrien untersucht hat. Danach führen die USA bei 67 Technologien, die UdSSR bei 38. Gleichstand herrscht bei 31.

Einsatzfähigkeit der

Streitkräfte

Auch hinsichtlich der Einsatzfähigkeit der aktiven Streitkräfte sieht Levin die Nato vorn. Bei der Mobilisierung von Reservestreitkräften besitze das westliche Bündnis die Fähigkeit, ungefähr mit der WVO „gleichzuziehen“. Die Einsatzfähigkeit der westlichen Reservetruppen sei wiederum höher als die der östlichen. Die dadurch gegebene „höhere Effektivität in der Kampfführung“ auf Nato-Seite wäre nach Levins Einschätzung bei einem konventionellen Konflikt in Europa durchgägnig spürbar“.

Nachschub für die Streitkräfte

Bei Versorgung und Nachschub mit Waffen und Munition in einem Kriegsfall macht Levin zwar „deutliche logistische Schwächen der WVO“ aus, sieht aber dennoch derzeit die Nato im Nachteil, wegen „des Mangels an zur Verfügung stehenden Vorräten“.

Stärke von aktivem Personal und Reserve

Würde man auf beiden Seiten die Zahl der aktiven Soldaten und der Reservesoldaten addieren, ergäben sich laut Levin ungefähr „gleiche Größenordnungen bei der Personalstärke“. Nach dieser Feststellung zitiert der Senator allerdings die Zahlenangaben des Londoner Instituts, wonach die Nato global einen Vorsprung von 317.000 und im jetzt in Wien zugrunde liegenden Verhandlungsgebiet zwischen Atlantik und Ural von 188.000 Mann hat. Die Studie enthält an dieser Stelle eine von Levin mit erläuternden Fußnoten versehene Tabelle, aus der einige der Zahlentricks deutlich werden, mit der die Nato in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit hinters Licht geführt hat. So gab der Nato-Informationsdienst 1984 die weltweite Stärke aller eigenen aktiven See-, Luft- und Bodenstreitkräfte mit 4,5 Millionen, die der WVO mit sechs Millionen Mann an. Nicht aufgeführt wurden 872.000 französische und spanische Soldaten, weil sie „nicht Bestandteil der integrierten Militärstruktur der Nato sind“. Bei einer Gegenüberstellung von 2,6 Millionen „in Europa stationierten“ Nato-Soldaten, denen vier Millionen WVO -Soldaten „in Europa gegenüberstehen“, klammerte der Brüsseler Informationsdienst ebenfalls 1984 nicht nur die französischen und spanischen Verbände, sondern auch die in Nordamerika stationierten kanadischen und US -Verstärkungstruppen des Westens aus. Dafür wurden auf östlicher Seite, erläutert Levin, „alle sowjetischen Luft und Bodenstreitkräfte einberechnet, einschließlich jener Streitkräfte im fernen Osten und der schätzungsweise 1,5 Millionen Eisenbahn-, Bau-, Verfügungs- und allgemeinen Unterstützungstruppen“.

Qualität des Personals

Was Moral, Ausbildung und Führungsqualitäten betrifft, habe das militärische Personal der Nato die Nase vorn, resümiert Levin seine Untersuchung in dieser Kategorie.

Harmonisierung der Streitkräfte

Dafür seien die WVO-Streitkräfte „besser harmonisiert“ hinsichtlich der Austauschbarkeit von Waffen, Ersatzteilen, Munition und Treibstoffen, die in den einzelnen Mitgliedsstaaten des Bündnisses benutzt werden. Zusätzlich ins Gewicht falle hier die „zentralistischere Führungsstruktur“ des von der „Sowjetunion dominierten Warschauer Pakts“ mit einem im Unterschied zur Nato weitgehend standardisierten Kommunikations- und Kontrollsystem.

Kommando, Kontrolle und Kommunikation

Dies verschaffe der WVO in der „Übergangsphase in einen Krieg“ zunächst einen Vorsprung. Bei andauernden Kampfhandlungen würde die Nato allerdings wegen ihres „technologisch überlegenen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssystems wahrscheinlich die Oberhand gewinnen“. In einer „sich ständig ändernden Kampfsituation“ käme dann auch „einer der Stärken der Nato“, der Fähigkeit, „Entscheidungen auf untergeordneer, taktischer Ebene zu treffen“, entscheidende Bedeutung zu.

Verläßlichkeit der Bündnispartner

Einen „eindeutigen Vorteil“ der Nato im Falle eines Krieges sieht Levin in der „Verläßlichkeit der Bündnismitglieder“. Die sowjetischen Militärplaner könnten sich „nicht darauf verlassen, daß ihre Verbündeten ihnen über die westdeutsche Grenze folgen“.

Geographische Faktoren

Bei der Beurteilung der geographischen Faktoren kommt der US-Senator zu Ergebnissen, die den Nato-Behauptungen widersprechen. Was die Geschwindigkeit bei der Herbeibringung von Verstärkung angeht, sei zwar die WVO begünstigt. Doch „die begrenzte Zahl von Stellen für einen (Ost-West)-Durchbruch, enge Passagen, das Verhältnis der Streitkräfte zum Raum und die bessere Kenntnis des Schlachtfeldes bei der Nato“ machten einen „schnellen Sieg“ der WVO unwahrscheinlich und würde ihr einen „überproportionalen Anteil an Abnutzung abfordern“. Bevor sie den Entschluß faßten, einen Angriff auf die Nato zu starten, müßten „die Sowjets darüber hinaus genau die Tatsache abwägen, daß sie im Grunde genommen von potentiellen Feinden eingekreist“ sind. Der US-Senator bestätigt damit eine in der Vergangenheit oftmals von sowjetischer Seite geschilderte Bedrohungswahrnehmung.

Wirtschaftlicher Vergleich

Zum Abschluß seiner Studie vergleicht Levin die ökonomische und industrielle Stärke der beiden Bündnisse und kommt zu dem Ergebnis, daß „die Nato dem Warschauer Pakt nach den Daten der wirtschaftlichen Lage ebenso wie langfristig beim Potential, einen andauernden Konflikt durchzustehen, überlegen ist“.

Die Studie sollte ursprünglich ab dem 25.Januar vom Streitkräfteausschuß des Senats beraten werden. Wegen der Auseinandersetzungen zwischen dem Senat und der Bush -Administration um den designierten Verteidigungsminister Tower ist dieser Termin zunächst verschoben worden.