Die zornigen Großmütter marschieren noch

■ Auf der „Plaza de Mayo“ in Buenos Aires versammeln sich noch immer die Großmütter und Mütter der Verschwundenen / Unter der Militärdiktatur blühte der Adoptionshandel mit den Kindern der Gefangenen / Kaum Chancen, Kinder und Enkel lebend wiederzusehen

Stefanie Meinecke

Donnerstagnachmittag um halb vier vor der „Casa Rosada“, im Herzen von Buenos Aires. Meine erste Begegnung mit den Frauen der „Plaza de Mayo“ geschieht aus reiner Neugier. Sie marschieren tatsächlich immer noch? - Tatsächlich. Nach mehr als fünf Jahren versuchter Demokratie marschieren sie immer noch, die „Madres“ und „Abuelas“ - die Mütter und Großmütter der „Plaza de Mayo“. Frauen, die die letzte Militärdiktatur noch nicht vergessen haben. Ganz ruhig ziehen sie vor dem Regierungspalast aus rotem Stein ihre Runden. Jeden Donnerstagnachmittag. Eine Stunde lang. Gleichmäßige Schritte für diejenigen, die unter den Militärs gefallen sind. Sprechchöre für die Stummgemachten, Unbeugsamkeit für die damals Zerbrochenen, für den Mann, die Geliebte, den Freund, das Kind. 30.000 Menschen sind in Argentinien in den Jahren von 1976 bis 1983 ins Räderwerk des Staatsterrors geraten, so die Angaben der argentinischen Menschenrechtsorganisationen. 30.000 Menschen verschwunden „desaparecidos“. Darunter, so schätzt man heute, mindestens 500 Kinder.

Avenida Corrientes 3284. Die Prachtstraße von Buenos Aires ist auf dieser Höhe weniger malerisch, weniger prächtig. Ein alter und für Buenos Aires sehr typischer schmaler Mietshausbau, ein kleiner Messingklingelknopf unter der Ziffer 4. Hier haben die „Abuelas de Plaza de Mayo“ - eine Handvoll Frauen, Großmütter, die nach ihren während der Militärdiktatur verschwundenen Enkelkindern suchen - vor ein paar Monaten ihr neues Büro bezogen. Ich möchte sie kennenlernen, diese Frauen. Und diesmal treibt mich nicht die bloße Neugier, sondern das, was sie mich spüren und empfinden ließen, an jenem Donnerstagnachmittag auf der „Plaza de Mayo“: Bewunderung und tiefen Respekt vor der Beharrlichkeit dieser Frauen mit dem weißen Kopftuch, vor ihrer Trauer, die sie stark gemacht hat und kämpfen läßt.

Noch einmal ein Druck auf den Messingknopf. Jemand wird geschickt, die verriegelte Haustür zu öffnen. Ein schmiedeeiserner Fahrstuhl führt hinauf in den vierten Stock. Dort empfängt mich Rosa Roisinblit. Rosas Tochter Patricia Julia ist eine der 30.000, die, festgenommen und in Gefangenenlager verfrachtet, nie wieder aufgetaucht sind. Patricia Julia Roisinblit war zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme im achten Monat schwanger. Rosa sucht ihr Enkelkind.

Im zum Büro umfunktionierten Apartment in der Corrientes 3284 herrscht Geschäftigkeit. Auf dem Gang zwei grauhaarige Frauen, vertieft in eine Diskussion, jede hat einen Stapel Papier im Arm. Ein kurzer Gruß und ein Zwinkern über den Papierwust hinweg. Aus den anderen Räumen dringen Gesprächsfetzen. Telefone klingeln. Dann wieder die Türglocke. Nebenan stapeln sich Kisten und Kartons. Zeichen noch des Umzuges, darunter auch eine unübersehbare Zahl an Stiftungstafeln. Beweise der Solidarität mit den „Abuelas“ aus aller Welt - auch aus Deutschland. Da liegen Tafeln aus Ulm, Blaubeuren und anderen deutschen Städten.

Gegenüber der Eingangstür, an der Wand, an die die Tafeln einmal sollen, hängt ein überdimensional großer Bilderrahmen mit unzähligen Paßfotos: Männer, Frauen, Kinder und Babies. Junge Ehepaare, eben erst gegründete Familien, die von der letzten argentinischen Militärdiktatur ausgelöscht wurden. Geblieben sind die vier mal fünf Zentimeter großen Papierbilder und die in Kleinarbeit zusammengetragenen Informationen im Computerarchiv der „Abuelas“, die Erinnerung und die Suche der Großmütter. Kinderraub und Kinderhandel

13 Kinder wurden 1977, dem Jahr, in dem sich die Organisation der „Abuelas“ gründete, öffentlich als „vermißt“ angezeigt. Im April 1988 war diese Zahl auf 208 angestiegen. 208 vermißte Kinder, von den damaligen Streitkräften entführt oder in Gefangenschaft geboren. Die tatsächliche Vermißtenziffer dürfte, so die argentinischen Menschenrechtsorganisationen und die „Abuelas“, weit höher liegen: „mehr als 500“, wird geschätzt. „Alles Kinder“, erklärt Rosa Riosinblit, „die geraubt und - bis auf wenige Ausnahmen - zur Adoption freigegeben wurden.“ Weitergehandelt an Militärs. Oder Zivilpersonen, die nicht wußten - vielleicht auch gar nicht so genau wissen wollten -, woher „ihr“ Kind denn tatsächlich kommt. Heute weiß man, daß in militärischen Einrichtungen und Gefangenenlagern Wartelisten kinderloser Ehepaare mit „Nachwuchswunsch“ existierten. Anfragen wohl auch aus anderen lateinamerikanischen Staaten an das, was die Hautfarbe der Bevölkerung betrifft, fast „weiße“ Argentinien. Weiße Kinder waren die begehrtesten.

Fünf Jahre nach Ende des Staatsterrors laufen bei den „Abuelas“ noch täglich Anzeigen und Hinweise aus der Bevölkerung ein. Wenn drei oder vier Informationen zum gleichen Kind vorliegen, beginnen die gezielten Nachforschungen. Dann schaltet sich ein Team von Anwälten, Ärzten und Psychologen ein. Dann beginnen Ämtergänge und genetische Tests, die die wahre Identität des Kindes belegen sollen. Ziel der „Abuelas“ ist, die wiedergefundenen Kinder möglichst in ihren leiblichen Familien großwerden zu lassen. Die Reintegration des Kindes in seine wahre Identität und seine wahre Familie beziehungsweise in das, was davon noch übriggelassen wurde. Denn Vater und Mutter sind „desaparecidos“, leben nicht mehr, liegen irgendwo verscharrt in diesem weiten Land.

„Reintegration“ - das heißt nicht immer definitive Trennung von der Adoptivfamilie, zumindest wenn es sich bei dieser nicht um ehemalige Militärs oder Sicherheitskräfte handelt. Vor der Problematik, zum Beispiel einem heute zehjährigen Kind, das seine wahre Mutter nich kennengelernt hat, zu sagen: „Das ist nicht deine Mama und das nicht den Papa... Und jetzt komm‘ mit“, verschließen die „Abuelas“ nicht die Augen.

Aber: „Dieses Kind“, so Rosa, „muß wissen - und einmal wird es das spüren -, wer seine wirkliche Mutter war. Was sie dachte, fühlte. Wofür sie kämpfte. Daß sie jede Regung in ihrem Bauch mit Angst und Freude fühlte. Und was mit ihr geschah. Es muß das empfangen, was nur eine leibliche Mutter geben kann - und wenn es heute auch nur die Liebe der Mutter, seiner Mutter ist.“

46 der „ninos desaparecidos“ - der verschwundenen Kinder wurden in den vergangenen zehn Jahren gefunden: fünf davon tot, in anonymen Gräbern: Gatti und Santilli, vor ihrer Geburt mit ihren Müttern ermordet; Emiliano, 1977 geboren, 1978 in einem Waisenhaus gestorben; Roberto, sechs Jahre alt, 1976 ermordert; Barbara, vier Jahre alt, 1976 ermordet. Aber 26 der aufgefundenen Kinder leben heute wieder bei ihren leiblichen Familien. Die Geschichte von Patricia

Rückblende. 6.Oktober 1978. Patricia Julia Roisinblit, 26 Jahre alt und verheiratet, erwartet ihr zweites Baby. Sie steht kurz vor dem Abschluß ihres Midizinstudiums. Ihr Mans Jose Manuel betreibt einen Spielwarenladen. Im Zimmer nebenan schreit gerade Patricias 15 Monate alte Tochter Mariana, als Sicherheitskräfte des Militärregimes in die Wohnung des jungen Ehepaares eindringen. Sie nehmen die junge hochschwangere Frau und ihr Kind mit. Auch Jose Manuel wird am gleichen Tag aus seinem Laden abgeführt. Später liefern Männer Mariana bei den väterlichen Großeltern ab.

Jahrelang lebt Rosa Roisinblit im Ungewissen über das Schicksal von Tochter, Schwiegersohn und zweitem Enkelkind: „Ich forschte, zuerst in der Nachbarschaft. Dann tagelang von einem Krankenhaus zum anderen, suchte nach Hilfe bei Ämtern, Staat und Kirche. Hier und im Ausland. Aber keine Spur, nichts.“

Die Wege der Suchenden kreuzen sich. Sie traf auf andere Mütter, in der gleichen hilflosen Situation. Noch 1978 schließt sich Rosa den „Abuelas de Plaza de Mayo“ an. „Damals“, erinnert sich Rosa, „standen wir ganz allein da.“ Keine Menschenrechtsorganisation und keine Solidarität in der Bevölkerung, die die Handvoll Frauen in dieser Zeit unterstützt hätte. Ein Land, versunken in Furcht und Schweigen - und die Mütter und Großmütter der „Plaza de Mayo“, die auch in Zeiten größter militärischer Repression auf die Straße gingen.

Die ersten und bislang letzten Hinweise auf den Verbleib ihrer Tochter erhielt Rosa im Jahr 1982. Frauen, die eine Zeit der Internierung mit Patricia geteilt hatten, dann aber befreit worden waren, wandten sich an Rosa. Was die Frauen erzählen, sind für sie Mosaiksteine eines Bildes, das nie vollständig sein wird. Patricia sei zunächst in ein Konzentrationslager im Landesinneren Argentiniens verschleppt worden. Im gleichen Lager habe sich auch Jose Manuel befunden - entstellt und gezeichnet von Folter. „Kurz vor der Entbindung“, schildert Rosa, „haben sie Patricia dann wieder nach Buenos Aires verlagert. In die ESMA.“

Hinter der Fassade der „Escuela de Macanica de la Armada“ (ESMA), zu deutsch „Mechanikerschule der Kriegsflotte“, verbargen sich Gefangenenzellen, speziell für werdende Mütter. Die militärische Einrichtung, in der sich der Großteil des Adoptionshandels abgespielt hat. Am 15.November 1978 bringt Patricia nach mehreren Tagen Isolationshaft dort ihr zweites Kind zur Welt. Es ist ein Junge. Er wiegt dreieinhalb Kilo. Patricia tauft ihn Rodolfo. Dies ist alles, was Rosa von ihrem Enkelkind weiß: dreieinhalb Kilo Mensch, Rodolfo, geliebt und gesucht von Rosa.

Die befreiten Frauen geben ihr Wissen später noch einmal vor Gericht unter Eid ab. Patricia, Jose Manuel und ihr Baby Rodolfo wurden nie mehr gesehen. Erinnerungen und Trauer

Pause. Stille und Trauer im Raum. Keine Traurigkeiten. Rosa, diese Frau mit blondgetöntem Haar und dunkler Stimme, erzählt sehr ruhig. Ruhe, die Pausen braucht. Dann: „Patricia war ein sehr zärtliches Kind. Brav und - na, wenigstens in den Augen einer Mutter - sie war sehr hübsch.“ Rosa lächelt. Dabei streift sie mit den Händen über die Tischplatte, so als streichle sie eine imaginäre Tischdecke glatt. Und sie beschreibt, daß Patricia intelligent und für vieles talentiert gewesen sei. Eine gute Zeichnerin und eine noch bessere Sportlerin. Als Patricia 18 Jahr alt war, starb der Vater. Rosa glaubte damals, daß ihr nun nichts Schimmeres mehr passieren könne.

Der Tod des Vaters habe Patricia verändert. Anfang der siebziger Jahre war das, und Patricia begann, sehr bewußt Mißstände in ihrem Land wahrzunehmen. „Auf einmal überall Bücher, und sie schuf sich ihre eigenen Ideale“, gibt Rosa diese Zeit wieder. Patricia fing an, Medizin zu studieren. Gleichzeitig wurde in ihr die Opposition zur damaligen Regierung immer stärker. Sie schloß sich Menschen an, die gleich dachten. Irgendwann war Patricia dann das, was Rosa heute als „militante popular“ beschreibt: „Sie kämpfte für Löhne, die eine würdige Existenz möglich machen, bessere Ausbildung, bessere ärztliche Versorgung - ein besseres Land, Argentinien. Ich dachte wie sie. Streiten läßt sich über Methoden.“

Wem hatte sich Patricia angeschlossen? Rosa will den Namen der Organisation nicht preisgeben. Genaues über die Aktionen der Tochter weiß sie nicht. Sie erinnert sich nur, wie Patricia oft drei, vier Nächte hintereinander im Morgengrauen das Haus verlassen habe, mit der Arzttasche unter dem Arm. Sie habe Ärzten assistiert, die ebenfalls im Widerstand waren. Die Zeit danach

Heute gibt es Wege, die Rosa nicht mehr gehen mag. Sie fährt zum Beispiel nicht mehr ans Meer, weil sie dort viele glückliche Sommer mit Patricia erlebt habe. Was ihr wehtut, deutet Rosa nur an. Sie weiß um die Tortur, die Patricia durchlebt haben muß. „Aber“, bemerkt sie, „es war der Weg, den sie sich selbst gewählt hatte. Sie wußte, was passiert, und sie ist bewußt gegangen. Wem das größte Unrecht geschah, das sind Rodolfo und Mariana.“

Mariana, das 15 Monate alte Baby von damals, das Mädchen, das heute elf Jahre alt ist und bei den väterlichen Großeltern lebt. Mariana, die sich nicht mehr daran erinnern kann, wie der Blick ihrer Mutter war. Mariana, die einen Bruder hat, den sie nicht kennt und den sie sich immer wieder in ihrer Fantasie ausmalt.

Die Tochter noch einmal lebend wiederzusehen, daran glaubt Rosa nicht mehr. Öffentlich werde sie das aber nie zugeben. Das hieße, hier in Argentinien zu kapitulieren, sich geschlagen geben, den Staat entlasten: „Der damalige Staat hat sie mir genommen, vom heutigen Staat will ich wissen, was mit Patricia geschehen ist.“ Und dies fordert jede der „Madres“ und „Abuelas“: vollständige Aufklärung des Schicksals ihrer Vermißten und Bestrafung der dafür Verantwortlichen, der Befehlsführer und -ausführer, der Folterknechte. Viele Spuren sind verwischt

Der heutige Staat stellt sich nicht eindeutig auf die Seite der Verfolgten. Rosa: „Kein aktives Bremsen unserer Arbeit, aber auch keine sonderliche Hilfe.“ Da gab es zwar die „Conadep“, eine achtköpfige Kommission, die 1983 von Staatspräsident Raul Alfonsin eingesetzt wurde, um zu untersuchen und aufzudecken, was unter der Diktatur geschah. Tatsächlich wurden dann auch mehr als 300 Konzentrationslager ausfindig gemacht. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren jedoch schon viele Spuren verwischt. Es gibt auch ein Buch der „Conadep„; ihr Ergebnisbericht unter dem verheißungsvollen Titel Nunca mas - „Nie wieder“.

„Nunca mas“, und dann, wie ein Blitzschlag, am 24.Dezember 1986 das Gesetz 23.492. Genannt: „Punto final“ „Schlußpunktgesetz“. Knapp zusammengefaßt: ein Amnestiegesetz, das alle Personen des Militärs und Sicherheitsdienstes, der Polizei und des Strafvollzuges, die nicht bis zum 22.Februar 1987 angezeigt wurden, vor weiterer strafrechtlicher Verfolgung bewahrt.

„Angst?“ gibt mir Rosa meine Frage zurück. Ihre Hand führt wieder über die Tischplatte, und dann ein bestimmtes „Nein“. Vielleicht habe sie damals mal Angst gehabt, in jenen Jahren der Militärdiktatur. Aber eigentlich erinnere sie sich auch gar nicht mehr so genau daran. - An die Angst.

Die Straßenszenerie läßt die „Abuelas“ relativ unberührt. Genauso wie das Wort „loca“ - „Verrückte“, mit dem mancher am Rande der „Plaza de Mayo“ sie bezeichnet. Die Suche geht weiter und sie wird länger dauern als das Leben und der Einsatz dieser Frauen. 1987 hat die Regierung eine genetische Datenbank in Buenos Aires eingerichtet. Dort haben die „Abuelas“ ihre Blutproben hinterlegt, und die sollen dort auch die nächsten 50 Jahre bleiben. „Eines Tages werden unsere Enkel erfahren, wer sie tatsächlich sind und daß ihre Großmütter sie suchten und liebten; jeder, der sich nicht sicher ist, wer er tatsächlich ist, kann sich dort Sicherheit verschaffen.“ Rosa sagt es zufrieden.

Donnerstagnachmittag, halb vier, vor der Casa Rosada. Der rote Regierungspalast und die weißen Kopftücher, auf die die Namen der „Desaparecidos“ gestickt sind. Und ein Ruf: „El pueblo unido jamas sera vencido“ - „Das Volk, vereint, wird nie besiegt sein“. Gegen das Vergessen - sie marschieren noch.