SPIEL MIR DIE FILME VOM TOTENKOPF

■ „Iß doch wenigstens das Fleisch auf“ - Kurzfilme von Michael Brynntrup

Der Totenschädel war in früheren Jahrhunderten ein beliebtes Accessoir kulturschaffender Menschen. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert hatte er Hochkonjunktur. Auf zahllosen bis ins kleinste Detail ausgetüftelten trübfarbigen Stilleben grinst er einen an, und immer dann, wenn sich sein Blick mit dem des Betrachtenden traf, stößt er ein unübersehbares „Memento mori!“ zwischen seinen Zahnlücken hervor. Die Erinnerung daran, daß leicht und schnell der Tod einen selbst erwischen kann, war in einer Zeit der mit äußerster Grausamkeit geführten Religionskriege nicht verwunderlich. Der Gedanke der „vanitas“, der Nichtigkeit irdischen Daseins, setzte sich in vielen Köpfen fest - das Streben nach irdischen Gütern galt als genauso hohl und leer, wie die Stelle im Totenschädel, wo früher, zu Lebzeiten, das Gehirn war.

Inzwischen allerdings ist der Totenschädel als Objekt der Meditation etwas aus der Mode gekommen. Michael Brynntrup aber hat ihn wieder ausgegraben und entstaubt: er bewegt sich, auch wenn er mal gerade nicht zu sehen ist, als Leitmotiv durch viele Filme seines zweiten Kurzfilmprogramms mit Filmen seit 1986: „Iß doch wenigstens das Fleisch auf“.

Ein Problemfilm

Der erste Happen heißt Testamento Memori (8 min./1986). Es ist ein Film für nach dem Tod, der mit vor dem Leben anfängt: mit Geburtsvorbereitungen. Eine Frauenstimme spricht Anleitungen für eine psychosomatische Schwangerschaftsgymnastik. Milchiges, trübes Grau. Ein schwarzgraues Gesicht, ein schwarzgrauer Käfig. Ein Paar Hände schwimmen durch die Ursuppe auf ihn zu und holen den Schädel heraus. „Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!“, deklamiert der Lebendenkopf mit sattem Pathos. Es ist ein Spiel mit dem Totenkopf, eine Vanitasjonglage mit Hochwerfen und Auffangen und Wegwerfen, mit Bedeutungsschwere und Nichtigkeit, mit der Hamlet-Nummer, mit Tod und Leben. Dazu schlängelt sich eine Klaviermelodie durch den Film, immer schön ein Ton nach dem anderen gespielt, und zum Schluß schlängeln sich Würmer aus dem Totenschädel. Ein Ringelreihen mit Ende und Anfang. Und ein Problemfilm, weil er keine Antworten gibt, die man aufschreiben kann.

Das Medium

Michael Brynntrups Medium ist der Super 8-Film. Bei ihm hat es angefangen wie wohl bei vielen: mit kräftig bunten, mehr oder weniger verschwommenen Filmchen. Anders als andere aber verlegte er nicht seinen Ehrgeiz darauf, gestochen scharfe, dezent bunte Großfilme zu produzieren, mit denen man Bären oder Palmen kriegen kann. Vielmehr erkundete und probierte er die Möglichkeiten, die das Medium bot, arbeitet und tüftelt mit Effekten wie etwa Negativfarben (bei „Testamento Memori“) oder Solarisation (bei „Die Botschaft“), doch ohne seine Filme mit technischem Schnickschnack zu überfrachten. Effekte und Symbole wendet er sparsam und mit Bedacht an, variiert sie, spielt sie immer wieder neu an, anstatt sie hintereinander abzuspulen. Der schlichte, direkte Charme, den Super 8 hat, bleibt erhalten. Die Schwächen des Mediums, mangelnde Auflösung und Unschärfen, stören nicht oder sind sogar Stilmittel. Feinkörnig und gestochen scharf würde „Testamento Memori“ seinen Reiz verlieren - wie auch der abendfüllende Super 8-Monumentalfilm „Jesus - der Film“.

Jesus

Brynntrup brachte verschiedene befreudete FilmemacherInnen dazu, Episoden aus dem Leben Jesu, jeweils mit ihm in der Hauptrolle, zu verfilmen und stellte daraus einen Spielfilm her (in zwei Versionen), der die Sache mit Juri auch für Leute von heute nachvollziehbar macht. Bei dieser Verfilmung des Lebens und Sterbens unseres Erlösers trifft es zu: im Vergleich zu ihr sind alle anderen gleich. In Veronika (Vera Ikon) (11 min./1987), faßt er die Wirkungsgeschichte unseres Herrn Jesu in einem Filmtrailer zusammen. Am Anfang breitet Veronika ihren Mantel aus und wir sehen zwei veritable Engel, die wiederum ein Tüchlein zwischen sich ausbreiten, auf dem das Antlitz unseres Christus zu sehen ist: das Schweißtuch - oder das, was dafür gehalten wird. Denn es sind bekanntlich nicht die Reliquien, die Wunder bewirken, sondern der Glaube, wie uns die Dame bei der Führung durch den Turiner Dom versichert, wo das Corpus Relicti ausgestellt ist. Die gleiche Dame informiert uns darüber, wo genau die römischen Muschkoten die Nägel reingekloppt haben müssen, damit der Delinquent auch gut festhängt und nichts einreißt - damals sicherlich Erfahrungswerte, heute alles wissenschaftlich untersucht. Denn bei den meisten Christen verhält es sich eben wie mit dem ungläubigen Thomas, der so lange skeptisch bleibt, bis er seine Finger auf die Wunden des Gekreuzigten gelegt hat - sonst würde ja wohl kaum jemand auf die Idee kommen, wissenschaftliche Untersuchungen über das Einschlagen von Nägeln bei Kreuzigungen anzustellen.

Um Jesusens Leiden eindrucksvoll darzustellen, zeigt Brynntrup, wie ein Nagel durch eine Hand geschlagen wird und wie es so richtig schön spritzt dabei. „Erfahren Sie die Schmerzen der Kreuzigung - selbst!“, steht in altdeutschen Lettern auf einem Zwischentitel. Oder: „Erleben Sie die ewigen Geheimnisse - neu!“, zum Beispiel die Verwandlung beim Abendmahl. Man versteht gar nicht, warum Luther und Zwingli so sehr über dieses Thema aneinander geraten konnten, denn die Sache ist doch eigentlich ganz einfach, Michael Brynntrup spielt es vor: Blut als Wein aus dem Mund des Herrn ins Glas, Wein als Blut des Herrn in den Mund, Blut als Wein aus dem Mund des Herrn... Und so weiter und so fort - bis zur Wiederkehr des Herrn „demnächst in diesem Theater“.

Brynntrups Jesus ist ein liebenswerter, netter Kerl, der sympathischste Jesus, den ich bisher gesehen habe, die anderen sind ja meistens weltfremde Langweiler, die emotionslos und weggetreten den Auftrag des Chefs absolvieren. Nein, das Leiden dieses Jesus geht richtig ans Herz, weil er eben nicht nur „der Gute“, sondern auch pfiffig und manchmal auch ein bißchen naiv ist. Brynntrup hat angeboten, den Film vor Gemeindeversammlungen vorzuführen. Und trotzdem: die katholische Kirche mag den Film nicht. Schade, denn sie weiß offensichtlich nicht, was sie tut bzw. läßt.

Die Hölle

Beim dritten Film zeigt sich, daß eine in der Jugend sorgfältig eingebleute humanistische Bildung ein wertvoller Fundus für späteres Kunstschaffen sein kann. Eine Stimme aus der Finsternis trägt Platons „Höhlengleichnis“ vor - auf altgriechisch: Menschen sind in einer Höhle von Kindheit an so an Hals und Schenkeln gefesselt, daß sie sich nicht bewegen können und nur ein eng begrenztes Blickfeld haben, vor sich sehen sie eine Mauer, die den Weg zum Licht hinter ihnen versperrt, und hinter der Mauer gehen Leute vorbei, die verschiedene Gegenstände über sich tragen. Man sieht sie nicht, hört nur ihre Stimmen. Das Gleichnis ist das Thema für eine Assoziationsfolge über Höllensimulation (8 min./1987) im Zeitalter der Kernspaltung. Ein Haus, das erst vom Atomblitz erleuchtet, dann in Brand gesetzt und schließlich - schwupps - wegblasen wird. Der Da-Vinci-Mensch dreht sich um seinen Mittelpunkt, seine Gliedmaßen geraten durcheinander. Die Perversion der Wahrnehmung und des Strebens nach Erkenntnis: Ich bohre mir in der Nase, aber das kann ich nicht sehen, es sei denn, ich hätte Augen in der Nase, aber selbst dann könnte ich es nicht sehen, weil ich mir selbst mit dem Finger das Licht wegnähme, somit könnte ich dann überhaupt nichts mehr sehen. Pech.

Tabus

Nun sieht man Herrn Brynntrup an seinem wohlgeordneten Schreibtisch sitzen und sein Vorhaben erläutern, im Hintergrund ein Mensch, dem man zu anatomischen Studien die Innereien herausnehmen kann (aus Plastik natürlich). Die Kamera sieht ihm von der Seite über die Schulter. Der Gegenstand, den es zu behandeln gilt, ist ein Tabu, oder genauer gesagt, 4 Tabus, 4 Bände Tagebuch: Tabu I-IV (28 min./1988), ein Versuch, das eigene Leben zu verfilmen. Zu Anfang ragen einige Ereignisse heraus, eine unangenehme und nicht ungefährliche Operation, eine Reise nach Rom. Doch dann, je kürzer der Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird, folgen Erlebnisse, Gefühle, Gedanken, Vorsätze, Feststellungen, Beobachtungen immer schneller und schneller aufeinander, verschwimmen in endlosen weiß auf schwarz abgelichteten Zeilenkolonnen, Illustrationen, Erinnerungsfetzen, worin die einzelnen Momente des Lebens, die einem, als sie noch Gegenwart waren, so groß und wichtig erschienen, sich verlieren. Der Versuch, das eigene Leben zu verfilmen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Fragen von ganz banal, „Wie die Zeit vergeht“, bis ganz großmächtig, „Warum ich so gute Filme mache“ (eine Nietzsche -Veräppelung) - sie bleiben unbeantwortet. Es ist wie die alte Geschichte von Achilleus und der Schildkröte. Wenn sie auch nur einen winzigen Vorsprung hat, kann auch der schnellste Läufer sie niemals einholen: wenn nämlich Achilleus den Punkt erreicht hat, von dem die Schildkröte gestartet ist, ist sie ihm bereits wieder ein Stückchen voraus, und wenn er diesen Punkt erreicht hat, ist sie ihm wieder ein Stückchen voraus. Der Film humpelt dem Leben immer hinterher. Kein Wunder also, daß der Film am Ende kein Ende findet, so sehr Herr Brynntrup sich auch bemüht, weil es ja immer weitergeht - im Tagebuch und im Leben.

Tanz den Tod

Ein antiker Bildhauer, der an einem Skelett herummeißelt, ist das Signum eines Filmzyklus Totentänze - womit wir wieder beim Leitmotiv wären, dem Totenschädel. Brynntrup hat Aktions- und Performances verschiedener KünstlerInnen verfilmt. Es sind aber mehr als nur Dokumentarfilme, Brynntrup hat sie weiterbearbeitet, um ihnen die angemessene filmische Form zu geben. Dabei herausgekommen sind Tanzfilme ohne Worte, nur mit Bildern und Musik, Tänze, Spiele, Reigen um den Totenschädel.

Gezeigt werden fünf Filme. Der erste (3 min./1988) ist das Spiel eines Kindes mit dem Schädel. Im zweiten (3 min./1988, mit Olaf Kuß/ Musik: Henry Purcell) verschwimmen ein Mensch und der Schädel in seinen Händen im Wasser (durch Mehrfachbelichtungen), das, wie der griechische Naturwissenschaftler Thales vor 2500 Jahren vermutete, der Ursprung allen Lebens ist. Ein unaufhörliches Kreisen um den Tod ist der dritte Film (4 min./1988, mit Antoine Strip Pickels/ Musik: Nicolas Klau).

In „Der Hieronymus“ (7 min./ 1989, Musik: Nicholas Klau) durchstreift Ichgola nosferatumäßig modrige Schilfwälder und findet einen Schädel, wo noch ein paar Fleischreste dranhängen. Neugierig beschnüffelt und besieht er seinen Fund von allen Seiten, nimmt die Augen heraus, greift sich eine Sumpfschnecke, um sie mal kosten zu lassen. Schließlich nimmt er seinen Fund mit in sein Folterlager, wo bereits eine menschliche Hülle über einem Ast hängt.

In „Die Botschaft“ (10 min./ 1989/ Musik: Frieder Butzmann) wirft Valerie Caris-Ruhnke in einem ausgestorbenen verfallenden düsteren Gebäude mit weichen Daunenfedern aus einem Füllhorn-Käfig um sich. Die lebendig-kraftvollen blendenden (Brynntrup arbeitet hier mit Solarisation) Bewegungen verlieren sich in der unbeweglichen Stille des toten Gebäudes. Schließlich läßt die Kraft nach, die Bewegungen erlahmen. Sie läßt sich in einem Fensterrahmen nieder, den Käfig mit den Daunenfedern zwischen sich und dem Totenschädel. Das Ende ist die erotische Berührung, der Zungenkuß mit dem Tod.

Es geht um das Leben!

Brynntrups häufige Beschäftigung mit dem Tod und seinen Symbolen ist nicht Folge einer abseitigen Fixierung auf den thanatologischen Themenkomplex, ist keine Nekrophilie, kein Gruftietum. Seine Filme sind hier Fortsetzungen des 17. Jahrhunderts mit anderen Mitteln und einer anderen Wirkung. Was damals streng, statisch, sterblich wirkte, ist bei ihm aufgelöst in Spiel, Spielerei, Tanz - Bewegung; er macht Spielfilme im genauen Sinn des Wortes. Doch beibehalten ist die Exaktheit des Ausdrucks, die Konzentration, das Gefühl für die richtige Länge oder Überlänge, trotz der Assoziationssprünge. Der Reiz liegt in den Kontrasten, in den großen Themen auf schlichtem Medium, in den überraschenden Parallelen, in den Überfällen des Banalen, in der respektvollen Respektlosigkeit. Es sind Filme zum Wachmachen, zum Anregen, zum Springen über Zäune.

Im Eiszeit-Kino werden als Vorprogramm auch die älteren Filme (1983-85) gezeigt, darunter „Der Rhein, ein deutsches Märchen“. Es ist ein Griff ins Brynntrup'sche Familienarchiv, ein Film über eine Dampferfahrt der Familie auf dem Rhein. Was zunächst aussieht wie irgendein Urlaubsfilm irgendeiner Familie an irgendeinem Ferienort, wird immer mehr zu einem persönlichen Geschichtsfilm, und als der Dampfer eine ganz bestimmte Stelle kreuzt, wird die Vergangenheit schlagartig Gegenwart: es ist die Stelle, an der ein Familienmitglied gegen Ende des Zweiten Weltkriegs getötet wurde. Ein unspektakulärer, aber ganz unmittelbar anrührender Beitrag zur Gegenwart der Vergangenheit.

P.S.: Der Totenkopf ist übrigens aus Plastik.

Michael Vahlsing

Im Eiszeit-Kino, Zeughofstraße 20, wird am Donnerstag und Freitag um 20 Uhr das alte Programm, „So sieht eine Prise aus“, und um 22 Uhr das neue, „Iß doch wenigstens das Fleisch auf“, gezeigt. Das Sputnik II, Hasenheide 54, zeigt das neue Programm am Samstag um 23 Uhr.