Mehr Licht. Mehr Reflexe!

■ Der Zeitgeist im Frisiersalon: Spraywolken zogen durch die „Glocke“ / Friseur-Innung trug Bremer Landesmeisterschaft und einen Lehrlingswettbewerb aus

Rote Haare. Schwarzes Kleid. Rosa Lippen. Blauer Drink. So und ähnlich farbenprächtig ging es gestern an dreißig Frisiertischen in der „Glocke“ zu, als die Auszubildenden des Friseurhandwerkes um das einfallsreichste Make-up zur Tagesfrisur wett eiferten. Ein Rundgang um den Laufsteg offenbarte fast drei Dutzend junge Frauen mit dauergewellten angesplisten, hochgetürmten zerwuselten, buntgesprayten, rastagelockten Haarkreationen, die willig den - fast ausschließlich weiblichen - Auszubildenden Modell saßen. Gesichter verschwanden unter Puderschichten, Augen verwandelten sich in riesenhafte Gesamtkunstwerke, Lippen schillerten

grellrot und viel zu oft in baby-rosa. Die Modelle, Freundinnen, Discobekanntschaften, Kolleginnen, ließen die Künste des schönen Scheins geduldig über sich ergehen und erstarrten, als sie von den Preisrichterinnen begutachtet wurden, zu Posen. Sie entwarfen sich, schauten jungmädchenhaft verträumt ins Nirgendwo, ignorierten selbstbewußt den Trubel, entschlossen sich, kalt, verspielt, keck, gelangweilt oder mondän zu wirken. Aber alle warfen hin und wieder einen wohlgefälligen Blick in den Frisierspiegel vor ihnen und vergaßen kurz die Selbstinszenierung.

Diese sehr menschlichen Reaktionen waren aber nebensächlich. Im Mittelpunkt stand die Stilisierung, der Anteil der Kosmetik an der Neudefinierung des Modells: Hier wurden nicht Personen kenntlich gemacht, hier wurden sie geschaffen.

Der Innungsvorstand will so in die Offensive gehen. Vorbei sind die trüben 70er Jahre, als man hilflos dem Jugendprotest gegenüberstand, langgelocktes Männerhaar auf Normalmaß zurechtzustutzen suchte und mit Frauen konfrontiert war, die sich die Emanzipation nicht wegondulieren lassen wollten. „Damals haben wir nur reagiert, jetzt agieren

wir und geben selbst Impulse.“

So wird der Trend zur Farbe, der Zeitgeist zum ausrasierten Nacken. Es dürfte kaum verwundern, daß die neue Linie, die ge

stern entworfen wurde, bei den Männern verspielter, bei den Frauen weiblicher ist. Es dominieren Dauerwellen und Pagenköpfe, selbst strenge Frisuren werden durch verspielte Details - durch Schleifchen als Accesoires und Make-ups in milden Farben - sanfter. Gleichzeitig ist die Sehnsucht nach dem Mondänen unübersehbar. Schon die Namen der Kreationen verweisen auf die weite Welt: „Las Vegas“, „Casablanca“ usf...

Der Zeitgeist weht durch die 390 Bremer Frisiersalons, die gestern um die beste Szene-Frisur, das kreative Make-up für den Disco-Abend, die „freie artistische Frisur“ den besten Modeschnitt und Haar-Ideen in etlichen anderen Kategorien wetteiferten. Zu gewinnen gab es viel versilberte Ehre: den Otto-Seidenstücker-Gedächtnis-Wander- und diverse Miniaturpokale. Für die GewinnerInnen des Lehrlingswettbewerbes stand mehr auf dem Spiel: die unausgesprochene Hoffnung auf einen festen Arbeitsplatz.

Der Conferencier feuerte sie an: „MEHR LICHT. MEHR IDEEN. MEHR FARBE!“ Und sie reagierten und versprühten Haarlack und Spray. Garantiert Treibgasfrei natürlich. Ganz im Trend der Zeit.

FWG