Maschine der Freiheit

■ Ruth Berghaus und Heiner Müller über Theater. Mit ihnen sprach Sigrid Neef.

Heiner Müller: Mich interessiert, warum du ab einem bestimmten Punkt nur noch Oper gemacht hast.

Ruth Berghaus: Auf der einen Seite ist das eine ganz praktische Sache. In der Oper plant man lang voraus. Und da ich in der DDR keine Angebote hatte und keine Lust, Zeit zu vertun, so sagte ich natürlich woanders zu, auf Jahre voraus. Und wenn jetzt ein Schauspielangebot kommt, müßte ich es einschieben, jetzt fehlt die Zeit. Es gibt aber auch einen inhaltlichen Punkt: die Leute sind heute so von Klängen, Bildern und Geräuschen voll, daß Theater eigentlich nach Musik schreit. Ich würde Schauspiel machen, dann aber ganz schreiendes oder ganz stilles. Welcher Schauspieler aber macht das mit? Ein Sänger muß es, weil es komponiert ist. Ein Schauspieler aber kann diesen Schrei oft gar nicht, hält ihn nicht durch oder findet das auch falsch. Doch dieses „mezzoforte“, das ich gegenwärtig im Theater höre, finde ich falsch. Heute geht entweder die absolute Stille oder der Schrei. Luigi Nonos Musik zum Beispiel hat diese extreme Spannung, deswegen interessiert sie mich von der gegenwärtigen Musik am meisten selbst wenn sie dadurch manchmal in die Gefahr gerät, fromm zu scheinen, oder mit anderen nicht mehr ins Gespräch kommt. Aber sie ist offen, direkt, klar. Dieses „Dazwischen“ kann ich nicht ertragen. Dann lieber Ballett, wo gar nichts gesagt wird, nicht aber ein Theater, das auf der Behauptung beruht, nur so könne es sein und nicht anders.

Müller: Es war ein Motiv meiner Frage, daß auch ich zunehmend nur noch unfreiwillig ins Theater gehe, ins Schauspiel, weil ich dabei fast immer leide. Ich habe immer das Gefühl, ich verliere nur Zeit, wenn ich dort sitze. Es ist zu langsam, hat das Tempo des 19.Jahrhunderts. Das ist auch der Grund, warum die Leute noch gern hingehen, denn dann sind sie endlich wieder in der guten alten Zeit. Das ist erst einmal unabhängig von den Inhalten. Mir ist es zu langsam und daher zu langweilig. Es gibt jetzt einen allgemeinen Trend zur Oper, bei den Regisseuren und wahrscheinlich auch beim Publikum, der mich schmerzt. Ich glaube, daß Oper das Gegenteil von Drama ist und nicht unbedingt eine Steigerung von Drama. Oper ist etwas anderes. Aber klar ist, daß Oper attraktiver ist als Drama, weil sie eine größe Übersetzung von Wirklichkeit in Zeichen von vornherein erzwingt.

Berghaus: Die Form ist da, und ihr muß Genüge getan werden.

Müller: Genau, es ist eine Zeichensprache da. Dem Schauspiel fehlt diese Zeichensprache, und daraus entsteht dann diese Bebilderung von Texten auf dem Theater. Ich habe ganz selten erlebt, daß ein Text von mir im Theater zu ertragen war, weil es fast unmöglich ist, Schauspieler dazu zu bringen, daß sie einen Text wie ein musikalisches Material behandeln. Was er natürlich ist. Erst dann wird er auch rezipierbar.

Berghaus: Es stört mich schon, wenn die Sänger in den Aufführungen mitsingen, wie gut sie es können. Dadurch wird der Sänger selbst zur Hauptperson, jeder Ton wird genossen. Das ist Handwerk. Man hat es zu können, sonst interessiert es nicht. Das subjektive Moment des Handwerks darf nicht in den Kunstanspruch übergehen. Eine Sängerin wie Catarina Ligendza hat Respekt vor der Musik, vor den Tönen, die sie produzieren muß, und sie hat daher gar keine Zeit, sich selbst zu produzieren. Sie will das auch gar nicht, vermeidet es, ihre Subjektivität in die Stimme zu legen. Schlimm beim Schauspieler ist, daß er fast nur noch sich selbst und sein Können spielt.

Ich habe jetzt eine Aufführung der Jüdischen Chronik in der Berliner Philharmonie gehört mit Hilmar Thate und Angelica Domröse als Sprecher. Beide traten als Schauspieler hinter sich zurück, weil sie einen politisch so unvermittelten Text in der Philharmonie zu sprechen hatten und natürlich wollten, daß der Text so gut wie möglich über die Rampe kommt. Da war Spannung, Angst und ein wirklicher Wunsch, Text und Inhalt an die Leute zu bringen. Das ergab eine große Klarheit, und es spielte gar keine Rolle, ob der Text gut oder schlecht war, man hörte zu.

Müller: Was du beschreibst, bei Schauspielern und auch bei Sängern, hat etwas mit der sozialen Situation der Schauspieler und Sänger zu tun. Sie befinden sich in solchen Fällen in einer sehr privilegierten Situation, sind aus sozialen Zwängen herausgehoben. Daraus entsteht eine Haltung von Privateigentümern. Sie eignen sich den Text an, machen ihn zum Privateigentum und liefern ihn nicht mehr ab, liefern nur noch die Tatsache ab, daß sie das können, wofür sie solche Privilegien erhalten. Dahinter steckt ein grundsätzliches Problem, wenn man eine Verbindung zwischen Theater, Kunst und Politik herstellt. Und Oper hat ja auch etwas mit Politik zu tun, bei dir am meisten, glaube ich. Godard hat das sehr gut formuliert:

Es geht nicht darum, politische Filme zu machen, sondern darum, Filme politisch zu machen oder politisch Filme. Das ist ein großer Unterschied. Es ist keine Frage der Inhalte, sondern des Umgangs mit den Inhalten, also der Form. Und das ist in der Oper leichter, würde ich einmal behaupten.

Berghaus: Es ist leichter, weil die Oper als Gattung eine Form hat, und diese Form muß erfüllt und nicht erfunden werden. Im Schauspiel aber muß die Form gefunden werden, ist die Sprache zu entdecken, mit ihrer Metrik, Höhe und Tiefe, ihrer musikalischen Dimension.

Müller: Genau, das ist der Endpunkt von dem, was ich meinte: Oper ist von Drama eher das Gegenteil oder eine Abspaltung. Als die Impulse, die zum Drama geführt haben, erschöpft waren, entstand die Oper, als die Stoffe oder Situationen nichts mehr hergaben für Drama, fing man an zu singen. Oper ist vielleicht im Verhältnis zur Tragödie eine Harmonisierung. Nur: Wir wissen nicht, wie die Tragödien aufgeführt wurden, es war Musik dabei, es gab eine Einheit von Musik und Text, und das wurde dann gespalten. An Richard Wagner ist ja sicher das Interessanteste die Utopie, das wieder zusammenzubringen. Wenn man die Texte liest, wird auffällig, wie enorm sie gebaut, für diese Musik gemacht wurden. Er ist wie im Kubismus, Wagner hat sich Sprache und Text für die Bedürfnisse der Musik zurechtgehauen. Das ist enorm. Da stimmt jedes Wort. Wenn man den Text ohne Musik hört, muß man lachen. Das war der erste gewaltsame Versuch, Text und Musik wieder zusammenzuführen. Das ist es auch, was jetzt wieder allgemein interessiert. Zuimindest ein Aspekt davon.

Es gibt noch ein anderes Problem für mich, wo ich ganz im Dunkeln tappe und dich gern fragen würde. Du hast dich doch auch mit Lulu von Alban Berg beschäftigt. Und das ist für mich eine Sache, die in der Dranatik nicht geleistet wurde, genau das Zwischenglied zwischen Ibsen und Brecht. Ich vereinfache einmal: Es ist das, was durch die Emigration, durch den Zwang wegzugehen, in der Dramatik nicht zustande gekommen ist. In Lulu von Berg ist etwas Form geworden, wofür es bei Brecht Ansätze gibt, zum Beispiel im Brotladen. Ein ironisches Pathos im Umgang mit der bürgerlichen Gesellschaft. Vor 1933 gibt es dazu eine Menge von Ansätzen bei Brecht. In Lulu ist dieses ironische Pathos absolut vollendet, diese Gleichzeitigkeit von Melodram und Hohn und Pathos. Nicht bei Wedekind, sondern bei Berg. Wedekind ist Kasperletheater, Berg hingegen eine ungeheure Raffinierung.

Berghaus: Aber es ist auch ein enormer Text.

Müller: Ja, aber bei Berg ist es raffiniert, und es ist genau das in der Dramatik fehlende Zwischenglied zwischen Ibsen, Strindberg und Brecht. Daraus ist dann auch wieder eine Spaltung entstanden, zwischen Brecht auf der einen, Beckett, Pinter und was auch immer auf der anderen Seite. In der Dramnatik fehlt etwas, was in der Oper geleistet wurde, aber auch nur von Alban Berg. Wobei interessant ist, auch Lulu ist eine abgebrochene Sache, so wie Moses und Aron auch, notwendig ein Fragment.

Berghaus: Bei Berg gibt es diese merkwürdige Konstruktion der Musik: Krebs - Krebsgang - Krebsgestalt. Sie ist nur in der Zwölftonkomposition herzustellen, doch durchzieht der Krebs in Lulu alle Ebenen. Es findet keine einfache Umkehr, schon gar nicht eine Wiederholung statt, es ist ein spiegelbildliches Rückwärtsgehen oder ganz wörtlich: ein Zurückgehen beim Vorwärtsgehen. Und was in der Musik stattfindet, geschieht auf allen Ebenen und mit allen Elementen der Oper, mit den Figuren, den Dingen, der Handlung, den Situationen. Es gibt eine Fabel, weil die Gesellschaft zugrunde geht, wie die Technisierung die Kunst aufhebt, Vermassung einsetzt. Dem entspricht eine ganz genaue Personenführung, es geht von einem anscheinend doch ganz erstklassigen Maler bis zur Kunstgewerblerin. Der Verfall des Geldes, der Aktie ist mit dem Verfall der Frau und der Geschlechter gekoppelt. Das alles sind absteigende Linien, und gleichzeitig formt Berg aus jeder Figur einen Spiegel und ein Gegenbild. Also: Jede Figur sucht sich in anderen und entdeckt, daß sie sich weder selbst noch den anderen finden kann. Das erfährt jede Figur für sich selbst allein, und dann ist jede Figur noch einmal in einer größeren Beziehung, einer Zweier-, Dreier- oder Viererbeziehung gespiegelt, so daß es ein endloses Stück ist. Der Krebsgang hat auch etwas von der Endlosigkeit eines Kreises. Das geht bis zur Frauenliebe, mit und durch die Geschwitz fängt alles noch einmal von vorn an, auf einer anderen Ebene wird wieder gefragt, ob Beziehungen überhaupt möglich und von Dauer sein können. Dabei bildet jede dieser Figuren wieder eine Kreismitte, ist statisch, also auch magnetisch, anziehend oder abstoßend. So ist dieser ungeheure Kreis bei Berg nie ruhend, sondern immer in Bewegung, ohne daß man weiß, wo die Mitte eigentlich genau ist. Das hat einen ganz großen Reiz. Die Figuren gehen nicht nur um sich selbst herum, sie gehen auch durch sich selbst und durch andere durch.

Müller: Ich finde das sehr schön, wie du das Verschwinden der Person in der Aktie beschreibst. Der Punkt nun ist, daß dieses Verschwinden noch mit Trauer beschrieben wird. Du erlebst den Prozeß des Verschwindens und nicht das Resultat. Bei Brecht wird dann, durch diesen politischen Einschnitt, nur mehr das Resultat gezeigt: Die Person ist verschwunden, aufgehoben in der Aktie oder umgekehrt in der Partei oder wo auch immer du willst.

Zu deiner Beschreibung von Lulu fällt mir ein Satz eines amerikanischen Literaturkritikers ein: „Hawthrone hat die amerikanische Seele entdeckt, Hemingway hat ihr Verschwinden beschrieben“, der frühe Hemingway. Das Verschwinden der Seele ist noch etwas Trauriges und Schönes, man sieht sie noch verschwinden. Und daraus entsteht dieses ironische Pathos. Eine Ironie voll Trauer, keine lustige.

Berghaus: Mit dem Wort Ironie kann ich nichts anfangen. (...)

Müller: Ich meine nicht die Ironie von Thomas Mann, das interessiert mich nicht. Das „ironische Pathos“ ist ein Terminuns von Majakowski. (...)

Heine ist eine gute Figur in diesem Zusammenhang. Mit ihm fängt es eigentlich an. Heine benennt die Hoffnung und die Gefahr des Kommunismus; man könne aus seinen Gedichten Tüten kleben. Das ist ironisches Pathos. Er sah ein, daß die Geschichte dorthin geht und gehen muß, aber er sah auch seine Gedichte und trauerte um das, was da verschwindet.

Berghaus: Ah ja, jetzt begreife ich Ironie als eine historische Kategorie.

Müller: Ja, Ironie ist eine historische Kategorie und auch eine politische, daß man sich selbst gegenüber ironisch ist. Man weiß, daß man auch selber in dieser Bewegung, in diesem Prozeß verschwindet. Ich meine Ironie nicht als Draußenstehen, sondern ironisches Pathos entsteht in einem Prozeß, von dem man selbst ein Teil ist.

Sigrid Neef: Oper hat dann fast immer ein ironisches Pathos, weil es hier einen ständigen Wechsel der Perspektive gibt, die Situation wird bald von innen, bald von außen, die Figur bald als Subjekt, bald als Objekt behandelt.

Müller: Ein Element von Oper ist Ironie. Und wenn Ironie, dann gegenüber den Grundtatsachen der menschlichen Existenz: der sterbende Mann, der singt. Jener sächsische Witz ist gar nicht so schlecht. Als der langsam sterbende Tristan immer noch singt, sagt der Sachse irgendwann: „Ich globe, der wird wieder.“ Da ist die Ironie gefaßt, aber Ironie nicht als Beobachterfunktion, sondern: Man ist betroffen und hat trotzdem einen Abstand dazu Und darum geht es: um die Einheit von Distanz und Betroffensein.

Berghaus: Na, dann ist das ganze Theater Ironie.

Müller: Ist es auch.

Neef: In der Oper wahrscheinlich in der Form schon sehr viel stärker angelegt.

Berghaus: Bewußter.

Müller: Ganz klassich ist die Ironie bei Sophokles.geht. Etwas ganz Primitives, ein Beispiel. Im Lohndrücker wird Bier getrunken. Bei Wilson wäre das kein Problem, da machten sie die Bewegung des Biertrinkens. Ich glaube, daß dieses in dem Falle nicht geht, oder ich wage es nicht. Aber es erfordert eine Ebene von Zeichensystemen, die hier wahrscheinlich fremd wäre, zumindest in solch einem Stück. Ich weiß es nicht, vielleicht ist es meine Feigheit, aber es ist ein Problem.

Berghaus: Ich glaube, da unterstützt du die Leute. Der Verfall des Schauspiels ist so weit gekommen, weil es erst einmal diese Realismus-Diskussion gegeben hat, in der Realismus mit Naturalismus verwechselt wurde.

Ich habe in Dresden die Oper von Siegfried Matthus nach dem Rilke-Text mit sehr jüngen Tänzern, Schülern der Palucca -Schule, gemacht. Es ist ganz erstaunlich, was sie wissen, von Formen, Situationen, Gefühlen. Da ist eine Fülle vorhanden. Ich glaube, daß der einzelne hier eine große Eigenwelt hat, sie sich auch schafft. Und hier muß man rein, muß man selbst offen sein.

Müller: Ja, das ist ein Problem. Es fängt zum Beispiel schon bei den frühen Stücken von Schiller an. Wenn du als Regisseur die Regieanweisungen beachtest und das machst, was Schiller anweist, bist du ziemlich verloren. Man muß sehr oft das Gegenteil von dem machen, was er da schreibt, damit es stimmt. Wenn zum Beispiel dort steht „Friedrich (sehr bestialisch)“, muß das heute gerade freundlich kommen. Genau dasselbe passiert mir, wenn ich jetzt Lohndrücker inszeniere und die Regieanweisungen lese, dann weiß ich genau, diese Regieanweisungen sind der Versuch, auf ein Theater einzugehen mit einem Text, der für ein ganz anderes Theater geschrieben ist. Mit den Regieanweisungen aber gehe ich auf das Theater ein, das im Moment existiert.

Berghaus: Das ist wie bei Arnold Schönberg in Moses und Aron.

Müller: Und heute kann man diese Regieanweisungen nur noch streichen und vergessen, sonst ist das Stück verloren, und man bekommt nicht mehr mit, daß der Text eine Übersetzung von Wirklichkeit ist und keine Abbildung.

Berghaus: Und das ist er auch bei Richard Wagner. Wenn man die Regieanweisungen genau liest. Ich komme immer wieder mit dem Beispiel: „Der Rhein fließt von rechts nach links.“ Dann weiß ich, wo und wann das Werk komponiert wurde, weiß, daß Wagner von Frankreich nach Deutschland gesehen hat, und das heißt: Er hatte eine Distanz. Daraus folgt, daß ich Wagners Äußerungen zu politischen und kulturellen Fragen nicht blind vertrauen kann. Oder: Wenn ich ein Stück von dir inszeniere, kann ich nicht alles lesen, was du über Kulturpolitik in Zeitungen und so weiter gesagt hast, ich muß das Stück lesen. Und Wagner hat, glaube ich, mit seinen Schriften abgelenkt, er hat mit diesen Schriften seine Existenz begründet und bewahrt.

Müller: Ich ja auch, zu großen Teilen. Diese Interviews und Erklärungen sind ja zum Teil auch Selbstverteidigung oder auch in bestimmten Zwangslagen abgegeben. Eine Öffentlichkeit ist immer eine Zwangslage, man muß sich nach vielen Seiten hin verhalten, und da entsteht eine Art Diplomatensprache. Am besten wird es dann, wenn man es schriftlich macht, wenn man auf dem Drahtseil formulieren kann. Dieser Punkt von Genauigkeit ist aber auf dem Theater ungeheuer wichtig.

Bleiben wir einmal bei diesem Bietrinken im Theater. Ich habe Angst davor. Es würde völlig genügen, den Schauspielern zu sagen, jetzt Biertrinken. Sobald man aber Bierflaschen hinstellt, ist das Bühnenbild von Erich Wonder zerstört.

Berghaus: Du kannst es natürlich nicht auf die Pantomime bringen.

Müller: Das ist ein Problem. Im nächsten Bild geht es um die HO, und da wird Butter für 160 Mark angeboten. Und die Butter muß man sehen, sonst geht die Szene nicht.

Berghaus: Ich überlege in einem solchen Fall, was ist das Wesen des Biertrinkens. Die müssen nicht Biertrinken, sondern spielen, was Biertrinken ist. Ich würde versuchen, mit den Schauspielern herauszubekommen, was beim Biertrinken im Unterschied zum Weintrinken vor sich geht. Du mußt die Schauspieler improvisieren lassen. Deswegen poche ich so auf Improvisieren.

Müller: Das nächste Problem kommt, wenn es in dem Stück um eine Zigarette geht.

Berghaus: Wenn es um materielle Werte geht in diesem Lohndrücker, muß eine Stecknadel zu einem Goldklumpen werden. Du mußt den Wert der Zigarette übersetzen. Achim Freyer hat in der Inszenierung des Guten Menschen von Sezuan damit angefangen, diesen Schritt der Übersetzung zu gehen.

Müller: Es geht mir auch gar nicht um das Gelingen im Moment, sondern darum, daß man etwas extrem versucht.

Berghaus: Das finde ich ganz wichtig.

Müller: Du verstehst sicher auch, daß man manchmal vor der Möglichkeit von Einfällen zurückweicht. Ich habe mir immer, wenn mir was Absurdes einfiel, gesagt, daß es eigentlich richtig ist, ertappe mich aber schon dabei, zu sagen: Entschuldigt, es ist schwachsinnig, aber probiert es einmal. Das Problem ist: Man entschuldigt sich für Einfälle, wenn man vor diesem Apparat steht, der ganz andere Zwecke hat.

Berghaus: Ich habe selbst Angst.

Müller: Ich meine jetzt die Schauspieler.

Berghaus. Aber du befreist sie auch, sie durchbrechen eine Art Wand oder Hülle, die sie sich selbst auferlegen.

Müller: Das ist schon ein Problem. Niemand, der hier lebt und über fünfzig ist, hat so etwas wie individuelle Freiheit gekannt. Der einzige Bereich von Freiheit ist bei mir das Schreiben. Da gibt es überhaupt keine Hemmung. Aber sobald ich inseniere, brauche ich die doppelte Anstrengung, um dahin zu kommen. Das macht den Unterschied zwischen Drama und Theater. Für das Schreiben brauche ich die Schreibmaschine, im Theater ist viel mehr Material und daher auch mehr Materialwiderstand. Und Neuerungen durchzusetzen ist viel schwerer und dauert viel länger als beim Schreiben.

Berghaus: Was mich interessiert, ist, daß du dich nicht einmischst, wenn Stücke von dir inszeniert werden. Das hat Dessau auch nicht gemacht, obgleich er sicher Bilder und Vorstellungen hatte.

Müller: Was du da von Paul Dessau beschreibst, gilt ähnlich auch für mich. Man komponiert oder schreibt einen Text, und dann geht das in eine ganz andere Situation. Es entstehen neue Bedingungen, es gehen bestimmte Leute für bestimmte Leute damit um. Hier hat der Autor nichts mehr zu bestimmen. Wenn du dich da einmischst, ohne wirklich von Anfang an dabei zu sein, auch mit diesen Leuten, die es machen, für die es gemacht wird, keinen Kontakt hast, dann kannst du eigentlich nur stören, was da entsteht. Ob es nun falsch oder richtig ist, was du denkst: Du kannst nur stören. Ich habe mich ein paar mal eingemischt, sicher mit richtigen Überlegungen und Argumenten, und mußte aber hinterher feststellen: Durch den Versuch, etwas richtigzustellen, beschädigst du alles andere. Auch wenn im Ganzen vielleicht nicht gut ist, was raus kommt, du kannst es nur beschädigen.

Berghaus: Ich habe dich bei Zement unheimlich bewundert. Auf der einen Seite hätte ich deine Überlegungen und Argumente gebraucht, auf der anderen Seite aber hast du Recht, das hätte den ganzen Apparat durcheinandergewirbelt. Wenn du etwas gesagt hättest, hätte ich es ja bis zur Sprengung der Situation geführt.

Müller: Ich wäre auch aus einer ganz anderen Realität gekommen. Und was ich immer wieder und überall in der Welt erzähle, ist der für mich zentrale Punkt: Es hätte keinen Intendanten in Berlin gegeben damals, und auch nicht wonanders in der DDR, der in dieser Situation dieses Stück noch durchgekriegt hätte. Und mit einer Haltung für das Stück. Und das war das Allerwichtigste.

Berghaus: Na, da war aber auch der achte Parteitag und eine große Öffnung. Das darfst du nicht vergessen.

Müller: Auf diese objektiven Möglichkeiten allein kannst du dich nicht berufen. Denn die galten für alle. Wer aber hat sie genutzt? Und darauf kommt es an. Ich war ein paar Wochen vor der Premiere ins Ministerium für Kultur bestellt, und da war die Sache ganz klar. Da saßen zwei Beamte, und einer davon sagte zu mir, in der Partei, die du da beschreibst, möchte ich nicht sein. Und da sagte der andere: da mußt du austreten.

Berghaus: Nein, das hast du gesagt: Sie sind aber drin. So ist es mit Anekdoten.

Müller: Wie auch immer, das Gespräch fand nur statt, um mir mitzuteilen, daß das Stück natürlich nicht geht. Das hast du auch schriftlich bekommen und ich auch. Und ohne dich wäre es nicht herausgekommen.

Berghaus: Ich wäre vom Berliner Ensemble weggegangen. Mich interessierte ein Programm, das ich als Intendantin hätte durchsetzen mögen. Der Stuhl allein war es wirklich nicht. Ich wollte ein Autorentheater, weil das Theater für einen und von einem Autor gegründet war.

Müller: Ist klar, aber finde mal jemanden mit dieser Haltung. Das gibt es immer weniger, obgleich es immer leichter geworden ist nach dem achten Parteitag. Insofern hast du Recht. Aber immer weniger Leute haben eine solche Haltung.

Berghaus: Nun darfst du auch nicht vergessen, daß die Zeit reif war, die Administration mußte nicht mehr eingreifen, weil die Leute bereits erzogen waren durch den Apparat. Und der Apparat setzte natürlich auch die Leute ein, die gehorsam sind.

Müller: Es gibt bei Lenin einen Satz: Je mehr ihr die Unbequemen und die Widerborstigen aus der Partei raushaltet, desto sicherer werdet ihr die Partei ruinieren. Das ist eine ganz alte Sache. (...)

Berghaus: Es gibt bei Brecht den Satz, wenn eine Szene nicht funktioniert, so muß man das Nichtfunktionieren der Szene belassen. Und man muß die nächste Szene machen, keine falsche Logik hineinbringen, nichts angleichen. So ist es mit Texten generell auch in Bezug auf ihren revolutionären Sinn, der ja auch eine Art Widerborstigkeit gegenüber der Realität ist. Das betrifft besonders Verdi. Ich glaube, bei ihm wird gegenwärtig und weltweit der revolutionäre Sinn durch Verlegenheit und Beschönigung herausgetrieben. Mit einer Ausnahme: Hans Neuenfels. Man macht sich schuldig, wenn man nichts dagegen tut.

Müller: Das ist ein ganz zentraler Punkt. Es gibt einen Satz von Gottfried Benn: „Wenn die Dichter tot sind. / Das Werk ist zur Ruhe gekommen / und leuchtet in der Vollendung.“ Es ist ein ambivalenter Satz. Einerseits ist es richtig, man übersieht das Werk nur vom Tod des Urhebers her, aber diese Übersicht ist dann auch eine Art Sargdeckel, es wird dann abgerundet, wird eine runde Sache, die man nun durch die Zeiten rollen kann. Und lebendig wird es nur, wenn es immer wieder zerbrochen wird in seine Teile. Die Teile setzen sich, wenn ein Werk gut war, immer wieder neu und anders zusammen. (...)

Jedes neue Kunstwerk, wenn es eins ist, also auch jede neue Inszenierung, verändert den Blick auf alle vorhergehenden Inszenierungen, verändert also auch die Sicht auf das Werk, das inszeniert wird. Und natürlich verstört das die meisten.

Berghaus: Das ist der Schmerz, die Angst vor der Veränderung.

Müller: Daher gibt es die Differenz zwischen Erfolg und Wirkung. Der Erfolg tritt ein, wenn die Wirkung vorbei ist. Und Wirkung besteht darin, daß kein Erfolg zustande kommt, ich meine jetzt Erfolg als eine allgemeine Harmonie des Publikums, die sich in einem Erlösungsapplaus entlädt. (...)

Das Problem hier ist, es geht um Prophetie und Politik. Die primitive Übersetzung für DDR wäre: Müntzer und Luther wie Moses und Aaron. Ich weiß, daß das nicht stimmt, aber es trifft den Punkt: Prophetie, Utopie und Staat. Der Staat ist keine moralische und keine vernünftige, er ist eine beschränkte Kategorie und insofern eine pragmatische im Sinne einer niedrigen Vernunft. Michel Foucaults These ist, daß das problematische Verhältnis zwischen Utopie und Staat durch zwei Diskurse - den jüdisch-christlichen und den römisch-staatlichen - immer wieder zur Sprache gebracht wird. Jede revolutionäre Bewegung verbindet sich zunächst mit dem jüdisch-christlichen Diskurs, er ist der revolutionäre, der prophetische. Doch dann, wenn die Bewegung gesiegt hat, geht sie über in den römisch -staatlichen Diskurs. Das einzige Modell von Staat in Europa ist nach wie vor Rom.

Wenn du davon ausgehst, daß die einzige Methode, wie Kunst mit Geschichte umgehen kann, die archäologische ist, dann mußt du eine Schicht nach der anderen freilegen oder abtragen. Wenn du die eine Schicht abgetragen hast, fallen die Reste von der vorhergehenden herab, und je mehr Schichten du abträgst, desto mehr fällt von der oberen in die nächstfolgende. Du gräbst in einer Staubwolke. Es ist eine unendliche Beschäftigung, und du erhältst - das ist vielleicht der Vorteil von Kunst gegenüber Wissenschaft nie eine reine Schicht. Der Vorgang des Ausgrabens ist immer mit anwesend. Nur dadurch hast du die Verbindung zwischen heute und damals, dem alten Stoff und dem heutigen Umgang.

Berghaus: Das ist schon klar, mich interessiert vielmehr, schon in Bezug auf deine Arbeit mit Lohndrücker, denkst du daran, wie begreifen die Leute das?

Müller: Das muß mich doch zunächst überhaupt nicht interessieren. Was du begreifst, können auch Leute begreifen. Du bist doch kein Mensch außerhalb menschlicher Gemeinschaften. Mir fällt vielmehr schwer, beim Inszenieren genauso verantwortungslos und rücksichtslos zu handeln wie beim Schreiben.

Berghaus: Wie funktioniert das beim Schreiben?

Müller: Beim Schreiben ist das eine absolut verantwortungslose Tätigkeit, der erste Satz erzwingt den letzten. Es ist ein Material da, in dem und mit dem ich mich bewege und das mich bewegt. Im Theater ist das schwerer. Das Störfeld ist hier sehr groß. Hier ist es schwierig, in den Wahsninn zu kommen, in dem zu produzieren kannst. Es gibt verschiedene Methoden, dieses Störfeld auszuschalten aber es beginnt schon, wenn du siehst, daß einer etwas nicht versteht.

Berghaus: Wie macht es Robert Wilson?

Müller: Bei ihm ist es einfacher, weil er jede Inszenierung zeichnet. Die Schauspieler oder Sänger werden genau an den Platz gestellt, der ihnen in seinen Zeichnungen bestimmt ist.

Berghaus: Und wo hat er die Autorität her, daß die Schauspieler oder Sänger ihm in der Weise gehorchen?

Müller: Bekannt geworden ist Wilson durch ein Gastspiel in Paris und Aragons Brief an den toten Andre Breton, in dem er ihm mitteilt, hier habe sich der Traum von surrealistischem Theater, dem Theater als Maschine der Freiheit, erfüllt. Das ist übrigens ein schöner Begriff: Maschine und Freiheit, und wichtig, weil die Mechanisierung der Bewegung und Anläufe die Leute frei macht vom Detail. Das konnte Wilson nur entwickeln, weil er vom Tanz und von einer Theatertradition herkam, die die Widerstände gar nicht kennt, die wir haben. (...)

Berghaus: Tänzer sind immer um die Leute herum, beruhigen, berühren, beeinflussen, Tanz als eine dauernde Bewegung, die Verfestigungf, Ordnung, Gleichmaß, Ruhe ständig stört und verhindert. So daß eine Sehnsucht ensteht nach diesen Wesen der Bewegung, daß sie dadurch auch dann anwesend sind, wenn sie auf der Bühne nicht präsent sind.

Müller: Das ist ganz wichtig. Es läßt sich keine Aufführung herstellen ohne die Kategorie der Abwesenheit. Das ist völlig in Vergessenheit geraten. Die vollstänige Abdeckung der Welt mit Bildern ist eine Gewöhnung von verkommenen Fersehsendungen und Filmen. Das Bilderverbot (...) ist hier ungeheuer interessant. Ein Ergebnis von Postmoderne ist: Vorwärts zum letzten Design. Die Welt wir ersetzbar durch Abbildung. Die Fotografie ist das Ende der Welt, Fotografie wird ein Ersatz für Wirklichkeit. Man fährt nur nach Indien, um zu Hause die Dias zu zeigen.

Das klingt ganz trivial, aber es hat mit diesem Bilderverbot zu tun. Die Abwesenheit Gottes ist seine Macht.

Berghaus: Moses, Marx, Freud, Einstein - das sind vier Pioniere der Abwesenheit. Moses - die Abwesenheit Gottes durch das Bilderverbot, Marx - die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Endzustandes durch die Utopie des Kommunismus, Freud - die Abwesenheit des Wesentlichen, des Unbewußten, des Verdrängten, und Einstein - die Relativitätstheorie, die Abwesenheit der eigentlichen Raum -Zeit-Relation. das sind vier Formulierungen des Bilderverbots. Damit hängt es zusammen, daß es unmöglich war, die Oper zu vollenden. Sie hätte dann einen Rahmen bekommen, wäre zum Bild geworden. Auch bei Schönberg gibt es diese Hemmung vor dem Bild, dem Bild als Beerdigung von Wirklichkeit oder Prozeßhaftem. Auch bei Picasso ist dieser Widerstand gegen das Bild, vor allem gegen den Rahmen zu beobachten.

Was man von dir erwartet, ist, daß du der Sache einen Rahmen gibst, damit jeder weiß, was er davon zu halten hat. Aber genau das geht nicht.

Berghaus: Man müßte mit den Mitteln wuchern.

Müller: Ja, du kannst den Rahmen vermeiden, wenn du anfängst, ein Bild zu entwerfen, und bevor das wirklich gesehen wird, bringst du das nächste, als Übermalung, so kommt nie ein Bild zu Ende, das einen Rahmen bekommt. Das meinst du doch mit Inflation der Mittel. Das Modell dafür das ist jetzt nicht von mir, das haben kluge Leute darüber befunden - ist „Bildbeschreibung“. Deswegen heißt es auch so. Da wird immer ein Bild angefangen, und dann kommt ein anderes, was das alte auflöst oder in Frage stellt. Es kommt nie ein Bild zustande, das du wirklich mit nach Hause nehmen kannst. (..)

Müller: Nein, nicht ganz. Wenn sie nach Hause gehen, und wenn sie dann noch nach vierzehn Tagen, in der Straßenbahn zum Beispiel, plötzlich denken: Was war denn da, das habe ich nicht kapiert. Wirkung bedeutet Langzeitwirkung anstelle dieser kurzzeitigen Übereinstimmung, die Erfolg heißt. Wirkung ist es insofern, weil es dann wirklich ins Leben eingreift, weil es die Leute länger beschäftigt.

Ein Bild ist auch immer eine Verdrängung von anderen Bildern, ein Zudecken der anderen. Wieso habe ich das Recht, gerade dieses Bild auszuwählen und damit ein anderes zuzudecken? Das hat auch etwas mit Selektion zu tun. Die Judenverfolgung ist die Gegenbewegung zum Bilderverbot. Auschwitz wäre nicht möglich ohne ein Bild vom Juden. Man muß ein Bild von etwas haben, bevor man es zerstören kann.

Berghaus: Ja, ein Bild ist zerstörbar.

Müller: Musik ist kein Bild, Musik ist Denken über Bilder.

Dankend entnommen: 'Sinn und Form‘, Januar/Februar 1989