„Alles läuft so, als gäb's das Virus nicht“

Aids im Knast: Trotz der rapide ansteigenden Zahl von HIV-Positiven gibt es weder in Berlin noch bundesweit ernst zu nehmende Maßnahmen zur Aidsprophylaxe / Hohes Infektionsrisiko durch Needle-sharing / Vogel-Strauß-Politik der Justizbehörden  ■  Von Till Meyer

Wenn die Zellenkontrolle bei Herbert B. in der Berliner Strafanstalt Tegel zwar kein Heroin, dafür aber eine vergammelte Spritze zutage gefördert hat, dann hat der Alt -Junkie einiges zu befürchten. Zwar ist allein der Besitz einer Spritze auch in der Haft noch kein Straftatbestand, dennoch setzt es eine Hausstrafe. In der Regel kann das bedeuten: für einen längeren Zeitraum keine Gemeinschafts-, sondern Einzelfreistunde oder der Ausschluß von Gemeinschaftsveranstaltungen bis hin zur totalen Absonderung über Monate hinweg in einer geschlossenen Station. Nicht selten wird auch die Staatsanwaltschaft noch aktiv: Sie läßt die Spritze in den Labors der Polizei auf sogenannte „Anhaftungen“ untersuchen. Sollten sich dabei an der Spritze noch Spuren von Heroin feststellen lassen, gibt es erneut ein Strafverfahren und zusätzlich einige Monate Knast.

Obwohl den Justizbehörden der Republik seit Jahren bekannt ist, daß nadelbenutzende Drogenabhängige sich vor allem in den Haftanstalten reihenweise mit Aids infizieren, wird diese Tatsache heruntergespielt und immer noch nach dem Motto verfahren: „Was nicht sein darf, das kann nicht sein“, und damit überhaupt bestritten, daß es Drogenprobleme im Knast gibt. „Sowohl in Tegel als auch in Moabit gab es immer Stoff. Es gibt mal einen Engpaß, aber irgendeiner hat dann doch immer was“, bemerkt Alt-Junkie Herbert zur Drogenversorgung in den Knästen. „Das Problem sind allerdings immer die Pumpen. In der U-Haft Moabit sind ja nur kurze Aufschlußzeiten, und du kannst dir mit keinem zusammen den Druck machen. Dann fragst du einen, von dem du weißt, daß er drückt, nach ner Pumpe. Die kriegst du dann. Meistens sind das ganz vergammelte Dinger mit stumpfer Nadel und bestimmt schon fünfzig Mal benutzt. Aber wenn man Heroin hat, dann will man sich auch den Druck machen, und es interessiert dich in dem Moment auch nicht, ob die Pumpe clean ist. Du drückst einfach.“

Needle-sharing

statt Einwegspritzen

Die Situation der HIV-Positiven drogenabhängigen Gefangenen in den bundesdeutschen und Berliner Haftanstalten ist trostlos. Die wenigsten Junkies sitzen wegen Dealens, sondern zumeist wegen „Beschaffungskriminalität“ oder weil sie mit kleinen Mengen Heroin, fast immer für den Eigenverbrauch bestimmt, erwischt wurden. Statistisch gesehen, kommt jeder Junkie alle zwei Jahre für mindestens ein Jahr in den Knast. Unter noch schwereren Bedingungen geht dann dort die Jagd nach dem Druck weiter. „Trotz großer Bemühungen können wir das Einschleusen von Drogen in die Haftanstalten nicht vollständig verhindern“, erklärte unlängst der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Peter Caesar. Zugleich räumte Caesar auch ein, daß fast ein Drittel aller Gefangenen in diesem Bundesland drogenabhängig ist. Selbst bei totaler Abschottung und Körperkontrollen aller Besucher sei es nicht zu verhindern, daß Drogen in die Anstalt geschmuggelt würden, bilanzierten schon vor Jahren die Berliner Vollzugsbehörden. Bekannt ist ihnen allerdings seit mindestens 1985 auch die Tatsache, daß eine Infizierung mit der möglicherweise tödlichen Krankheit Aids im Vollzug zu 90 Prozent durch das Needle-sharing zustande kommt. Seit 1982 der erste Fall eines HIV-positiven Gefangenen registriert wurde, schnellt die Statistik rasant nach oben. Bei den regelmäßigen Untersuchungen, die die Berliner Justiz zusammen mit dem Robert-Koch-Institut seit 1982 unter inhaftierten Drogenabhängigen vornimmt, wurde folgende Entwicklung registriert: In Berliner Haftanstalten waren 1983 zehn Prozent, 1984 bereits 23 Prozent und 1985 sogar schon 41 Prozent aller untersuchten Blutproben von inhaftierten Fixern HIV-positiv. Da der HIV-Test in Berliner Haftanstalten nur auf freiwilliger Basis durchgeführt wird, sich aber etwa 40 Prozent der Fixer nicht testen lassen, dürfte die Zahl der HIV-positiven erheblich höher liegen.

Im Zeitraum von 1985 bis zum Juni 1988 wurden bei 2.020 drogenabhängigen Nadelbenutzern im Berliner Vollzug Blutuntersuchungen durchgeführt, dabei wurden dann 700 HIV -positive Junkies registriert. Kenner der Drogenszene in den Berliner Haftanstalten gehen allerdings davon aus, daß die Zahl der HIV-Positven in den Knästen erheblich höher liegt, als die offiziellen Statistiken einräumen. So führte eine Studie des Sozialpädagogischen Instituts Berlin von Ende 1988 im Ergebnis zu ganz andere Zahlen: Das Institut errechnete, daß in nächster Zeit die Anzahl der HIV -Positiven in den Berliner Vollzugsanstalten auf gut 1.000 ansteigen wird. Auch das Institut sieht im Needle-sharing die größte Infektionsgefahr bei den inhaftierten Junkies.

„Als ich 1984 im Knast Tegel einsaß“, erzählt Herbert, „wußten wir ja noch nichts über Aids. Aber auch da war die Situation so, daß wir monatelang nur eine Spritze hatten, und alle Junkies in dem Haus haben sie benutzt. Das war wohl die Zeit, in der ich mich mit dem HIV-Virus infiziert haben muß. Und damit gleichzeitig natürlich auch alle anderen, ich schätze ein gutes Dutzend. Einige davon sind inzwischen auch schon tot. Im vergangenen Jahr war ich wieder für einige Monate in Tegel. Es hat sich überhaupt nichts geändert, es wird genauso wie schon 1984 mit einer Spritze für alle rumhantiert.“

Noch immer verschließen die Justizbehörden die Augen vor diesen Realitäten. Herbert, der erst seit ein paar Monaten wieder frei ist, schildert die Zugangssituation in der Haftanstalt Moabit so: „Wenn der Arzt die Akte aufschlägt, dann sieht er doch gleich: HIV-positiv. Dann kriegste erst mal eine Einzelzelle, aus Vorsicht. Aber sonst gar nichts, es passiert nichts. Weder eine verstärkte medizinische noch eine psychosoziale Betreuung erfolgt. Alles läuft ab wie alle Jahre zuvor, als es das Virus noch nicht gab. Das einfachste wäre es, Desinfektionsmittel an jeden auszugeben. Aber nicht einmal das machen sie. Und wenn du dann entlassen wirst, gibt es auch keinerlei Unterstützung.“

Aidsprophylaxe

ist nicht drin

Nachdem der bislang amtierende CDU-FDP-Senat in der Drogenpolitik drastische Mittelkürzungen vorgenommen hatte, ist nach Aussage von Drogenberatern das Verbundsystem der Drogenhilfe praktisch bei Null. Beratungsstellen müssen Entzugswillige abschreiben, weil keine Plätze in Übergangs und Therapieeinrichtungen mehr frei sind. Selbst für den körperlichen Drogenentzug gibt es in der Stadt nur nach langen Wartezeiten einen Platz in einer der Kliniken. Aber noch schlimmer ist die Situation für die HIV-infizierten Fixer. Für sie gibt es in der ganzen Stadt quasi nur eine einzige adäquate Wohngemeinschaft, und die hat auch nur sechs Plätze. Zur Aidsprophylaxe unter Fixern, vor allem in der Haft, hat der CDU-Senat so gut wie nichts unternommen. Für das Etatjahr 1987 gab der Senat für die Aus- und Fortbildung von Vollzugsbediensteten für den Umgang mit HIV -Positiven im Vollzug lediglich 1.500 Mark an Honorar für externe Fachreferenten aus. Ab Mai 1988 kam dann eine zusätzliche Arztstelle und probeweise eine Psychologin zur „Krisenintervention“ für alle Berliner Haftanstalten hinzu. Immerhin hat man sich dazu durchgerungen, zumindest Kondome über den Einkauf im Knast anzubieten. Für dieses Jahr hatte der CDU-Senat dann die Intensivierung der Betreuungsprogramme für Infizierte und an Aids Erkrankte geplant. Mehr aber nicht.

Auch in den Haftanstalten der Bundesländer sieht es nicht anders aus. Die Richtlinien für den Umgang mit nadelbenutzenden Drogenabhängigen in bundesdeutschen Haftanstalten werden auf den alljährlichen Konferenzen der Justizminister der Länder festgelegt. Eine der Situation entsprechende Aidsprophylaxe ist bei diesen Konferenzen bislang noch nicht herausgekommen. Die einzige Unterstützung in psychosozialer Hinsicht und bei Entlassung auch materielle Hilfe erfahren die HIV-positiven FixerInnen bislang hauptsächlich durch die Deutsche Aids-Hilfe. Von ihren insgesamt 80 Büros in der ganzen BRD kümmern sich 60 über ihre Spezialreferate um HIV-positive Gefangene in etwa 80 Haftanstalten der Republik und West-Berlin. Aber auch der Aids-Hilfe fehlt es an Geld und Personal. „Die Justizbehörden müssen endlich in Bewegung kommen und etwas tun“, so Dr. Ingo Michels von der Deutschen Aids-Hilfe zu dem Dilemma. So uneinsichtig wie sich die Justizminister und Senatoren in puncto Ausgabe von sterilen Spritzen zeigen, so hart zeigen sie sich auch gegenüber den an Aids erkrankten Fixern. „Die Justizminister und Senatoren sind der Auffassung, daß die Aidsinfektion in den ersten Stadien grundsätzlich keine Veranlassung gibt, Strafgefangene aus der Haft zu entlassen. Bei Aidserkrankung der Stufe III kommt ausnahmsweise eine gnadenweise Haftentlassung aus humanitären Gründen in Betracht. Die Entscheidung muß einer umfassenden Einzelfallprüfung vorbehalten bleiben, wobei vor allem die Lebenserwartung des Häftlings und die Höhe des noch zu verbüßenden Strafrestes von Bedeutung sind“, lautete der Beschluß der Justizministerkonferenz 1987. In Berlin sind demnach seit 1986 auch nur zwölf Gefangene unter diesen Gnadenerweis gefallen. Raus kommt ein manifest an Aids Erkrankter nur, wenn er bereits so erkrankt ist, daß er vom Haftkrankenhaus nur noch in eine städtische Klinik überwiesen werden kann - um dort zu sterben.

Zwar nicht mehr gänzlich tabu, aber heftig umstritten ist eine weitere Forderung, die von vielen Drogenfachleuten, Ärzten und der Deutschen Aids-Hilfe erhoben wird: Die Behandlung mit der Ersatzdroge Polamidon (dem deutschen Methadon). Neben einem Modellversuch in Nordrhein-Westfalen wird in Berlin an 30 HIV-positive Fixer Polamidon ausgegeben. Für die Deutsche Aids-Hilfe dagegen besteht eine klare medizinische Indikation für mindestens 100 HIV -infizierte Fixer in der Stadt. Fachleute machen zudem geltend, daß mit Hilfe von Polamidon, das geschluckt werden muß, der infektiöse Nadeltausch bei Fixern wegfallen würde.