Die Intellektuellen und die Macht

■ Über die Rolle der kommunistischen „Klasse von 48“ in der Tschechoslowakei

Jacques Rupnik

„Le monde ne sera sauve, s'il peut l'etre, que par des insoumis. Sans eux c'en serait fait de notre civilisation, de notre culture, de ce que nous aimions et qui donnait a notre existence sur cette terre une justification secrete. Ils sont, ces insoumis, 'le sel da la terre‘ et les responsables de Dieu.„(Andre Gide, Journal, 1939)

„Großen Charakter brauchten wir durchaus nicht für unsere Weigerung, unseren Widerspruch und Widerstand; das Quentchen notwendigen Mutes hatten wir - aber im wesentlichen war es eine Frage des Geschmacks.„(Zbigniew Herbert)

Wohl nirgendwo im Ost- und Mitteleuropa des Nachkriegs stellte sich das Dilemma des Intellektuellen - zerrissen zu sein zwischen Herrschaft und Gesellschaft - schärfer dar als in der Tschechoslowakei. Die überwältigende Mehrheit der tschechischen und eine beträchtliche Zahl der slowakischen Intelligenz hat 1948 die kommunistische Machtübernahme unterstützt. Sie identifizierten sich mit dem neuen Ein -Parteien-Staat und seiner Ideologie und wurden von ihm dafür mit der Illusion von Macht und der Realität von Privilegien belohnt. Im Jahre 1988 ist die Situation das genaue Gegenteil von damals: Angesichts eines rücksichtslosen „Normalisierungsprozeses“ trotzen die Intellektuellen der politischen Autorität und nehmen die Rolle des „Gewissens der Nation“ an. Das Bindeglied zwischen diesen kontrastierenden Bildern ist selbstverständlich 1968: Triumph und Tod des tschechischen Intellektuellen; die „Aufklärung“ der Herrscher (der Partei), im Frühling zu sein, und der Ausdruck gesellschaftlichen Widerstands im langen Winter, der bis heute andauert.

Die Odyssee des tschechischen Intellektuellen ist insofern eine genaue Illustration des Flirts europäischer Intellektueller mit Marxismus und Kommunismus. Es ist die Geschichte des Gottes, der versagte, und ihre Protagonisten bestehen darauf, sie sei nur in ihrem historischen Kontext wirklich verständlich, dem allmählichen Zerfall eines messianischen Ideals in der Realität einer gesellschaftlichen Praxis, der Geschichte von Veränderung innerhalb einer intellektuellen und politischen Generation (A.J.Liehm).

Tatsächlich gibt es eine Geschichte zu erzählen, aber die Version von 1968 ist zu glatt, um wahr zu sein; wie immer kommt es auch hier darauf an, wer sie erzählt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist das Klima der Selbstbesinnung und kritischen Überprüfung der Rolle der Intelligenz gewachsen. Die Entdeckung, daß es verschiedene „Geschichten“ gibt, war eine Herausforderung an die bis dahin vorherrschende, lineare Interpretation der Nachkriegsrolle der tschechischen Intellektuellen und hat dafür gesorgt, daß Pluralismus und Differenzierung in den Reihen der Intelligenz wiederhergestellt worden sind. Der Verrat der Sekretäre

Die Tschechoslowakei war das Land, in dem Kommunisten im Nachkriegseuropa die größte Unterstützung aus dem Volk erhalten haben: Fast 40 Prozent waren es bei den freien Wahlen von 1946. Hier genossen sie auch die breiteste intellektuelle Unterstützung. Am Vorabend der Machtübernahme vom Februar 1948 veröffentlichten die Kommunisten eine Broschüre mit dem Titel Mein Verhältnis zur Kommunistischen Partei (Moi pomer ke KSC). Die Liste bekannter Schriftsteller und Künstler, die ihre Unterschrift gaben, liest sich wie ein zeitgenössisches „Who is Who“ der tschechoslowakischen intellektuellen Elite. In seinem Vorwort schrieb der damalige Minister für Information (und gleichzeitige hohe sowjetische Geheimagent) Vaclav Kopecky, dieser große intellektuelle Rückhalt habe seinen Grund darin, daß die Kommunistische Partei die Rolle der Bourgeoisie übernommen habe, nämlich die einzige Kraft zu sein, die die Interessen einer Klasse mit denen einer gesamten Nation vereinigen könne. Ob die beeindruckende Zahl der Intellektuellen, die ihren Namen für die Kampagne der Partei zur Verfügung stellte, solche Rationalisierung glaubten oder nicht, sei dahingestellt; jedenfalls könnte man argumentieren, daß der Erfolg der tschechoslowakischen Kommunisten nach einem Modell von Gramsci funktioniert hat: noch vor der vollständigen Monopolstellung als politischer Macht die „kulturelle Hegemonie“ zu erreichen. Sieg und Beharrungsvermögen des tschechischen Stalinismus (und auf der anderen Seite: die Schwäche des Widerstands gegen ihn) können nicht nur durch den Terror, der nach 1948 einsetzte, erklärt werden, sondern müssen vor allem auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß die Kommunisten mehr erobert hatten als die Staatsmacht: Sie hatten das Wertesystem übernommen, die symbolische Struktur von Bedeutungen, die Individuen und Gesellschaft ihren Handlungen verleihen. Die Erscheinung des „organisierten Intellektuellen“, der Wahrheit mit politischer Zweckdienlichkeit verwechselte, war in der Tschechoslowakei nicht das Ergebnis von Terror, sondern von Überzeugung. „Der Druck der Staatsmaschine ist nichts verglichen mit dem Druck eines überzeugenden Arguments“, schrieb Czeslaw Milosz. In seinem BuchVerführtes Denken hat er uns einprägsame Beispiele von polnischen Intellektuellen vorgeführt, die sich verführen ließen vom „neuen Glauben“, der aus dem Osten kam: frühere katholische Nationalisten (Andrezejewski) und Überlebende der Vernichtungslager, Vorkriegsmitläufer und Nachkriegsbekehrte, manch ein aus dem Exil Zurückgekehrter (Galczynski, Slonimski). Eine Mischung aus Faszination und Ohnmachtsgefühl, Opportunismus und dem Bedürfnis, Teil einer unwiderstehlichen und unwiderruflichen geschichtsmächtigen Kraft zu sein.

„Warum wurde ich Kommunist?“ fragt die Hauptperson in Milan Kunderas Roman Der Scherz, und erklärt es sich durch die Begeisterung, zu einer Bewegung zu gehören, „die das Rad der Geschichte steuert“. „Damals konnten wir wirklich das Schicksal des Volkes entscheiden„; sie waren nicht nur „betrunken von Macht“, sondern berauscht von der Perspektive, die Geschichte zu beherrschen. Schließlich hatte Marx doch erklärt, die Aufgabe des Intellektuellen sei es nicht länger, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Solches Verständnis von der „Utopie an der Macht“ bezieht sich auf die uralte Trennung von vita activa und vita contemplativa.

Aber es gibt zusätzlich, so meinte Milosz, ein Element der Täuschung, etwas, was er „Ketman“ oder „Die Kunst des inneren Vorbehalts“ nannte, ein äußerer Konformismus, wie er aus der islamischen in kommunistische Kulturen übertragbar wurde, eine vorgetäuschte Übereinstimmung bis zu dem Punkt, an dem unklar wird, wer wen täuscht: In welchem Maße war den Behörden bekannt, und wieweit interessierte es sie, daß der Autor sie täuschte? Oder täuschte gar der konformistische Autor am Ende nur noch sich selbst?

In seiner Kurzgeschichte Edward und Gott argumentiert Kundera ähnlich, nämlich, daß es das Endziel der Kommunisten sei, die Wahrheit weniger zu besiegen als politisch zu erzwingen. „Wenn ich jemandem hartnäckig die Wahrheit ins Gesicht sage, dann heißt es, ich nehme ihn ernst. Und etwas so Unwichtiges ernst zu nehmen heißt, schließlich selbst nicht mehr ernst zu nehmen zu sein. Sehen Sie, deshalb also muß ich lügen, um diese Wahnsinnigen ständig ernst zu nehmen und schließlich einer von ihnen zu werden.“

Jenseits dieses Paradoxes von Faszination und Täuschung ist eine tiefere Erklärung für die Attraktion des Kommunismus zu Kriegsende der Zusammenbruch der alten Welt und ihrer Werte. Jan Patocka hat einmal bemerkt, daß der liberale Rationalismus eines Masaryk zur Zeit Hitlers und Stalins nicht mehr ausgereicht habe. In Mitteleurpoa war Verachtung für liberale Werte und Politik weit verbreitet, und dies ist übrigens auch eine Teilerklärung für den schwachen Widerstand gegen die Kommunisten. Wie John Dos Passos es ausdrückte: Am Ende des Krieges liberal oder Sozialdemokrat zu sein, war wie Dünnbier trinken.

Einige spezifisch tschechische Züge mögen Vergleiche erleichtern.

Um die Ursprünge des „intellectuel engage“ in der Tschechoslowakei aufzuspüren, sollte man sich zunächst ins Gedächtnis rufen, daß seit den Ausrottungsfeldzügen gegen den tschechischen Adel im 17.Jahrhundert die Intelligenz, Schriftsteller und Wissenschaftler, als Elite der Nation fungiert hatten. Im 19.Jahrhundert, vor der Entwicklung der Bourgoisie, spielten Intellektuelle eine führende Rolle in der Bewegung der „Nationalen Wiedergeburt“ mit ihrer Betonung auf Sprache und Geschichte. Kultur wurde zum Ersatz von Politik. Während die intellektuellen Eliten Polens und Ungarns aus der Aristokratie kamen, waren die tschechischen Intellektuellen plebejischen Ursprungs. Dies erklärt auch die Stilunterschiede der intellektuellen und politischen Diskurse: Im Unterschied zur Aufsässigkeit und Unabhängigkeit der Eliten in den beiden Nachbarländern waren die tschechischen Intellektuellen immer „Realisten“ und stolz auf ihre große Nähe zum Volk. Die Macht des geschriebenen Wortes wurde einigermaßen überbewertet, während man gleichzeitig die politische Macht verachtete und unterschätzte. Die Dichter und Denker waren naturgemäß hochrespektiert. Der neugeschaffene Staat von 1918 war eine „Republik der Professoren“. Masaryk war der Staatsmann -Philosoph, und sein Nachfolger Benes war ebenfalls ein Intellektueller. (Eine Meinungsumfrage zeigte selbst in den sechziger Jahren Universiätsprofessoren noch auf der höchsten Stufe sozialer Anerkennung. Heute, denke ich, wäre das nicht mehr der Fall.) Einmal allwöchentlich hatte Präsident Masaryk am literarischen Salon der Capek-Brüder teilgenommen. Bei welchem heutigen Staatsoberhaupt wäre das jetzt noch vorstellbar?

Kultur war in Böhmen jedoch immer „fortschrittlicher“ als Politik. Als im 19.Jahrhundert die politischen Repräsentanten noch konservativ waren, waren die Intellektuellen Demokraten; nach dem Ersten Weltkrieg, als die politische Führung der Tschechoslowakei demokratisch wurde, bewegten sich die Intellektuellen bereits in Richtung Linksradikalismus.

Dies ist natürlich eine grobe Vereinfachung; dennoch kann man sagen, daß das Verhältnis zwischen tschechischen Intellektuellen und Politikern stark dem französischen Muster glich - von dem es übrigens auch sehr beeinflußt war. Tatsächlich waren zur Zeit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland die tschechoslowakische und die französische KP die beiden größten Kommunistischen Parteien im demokratischen Europa. Und eben weil sie in einem demokratischen Umfeld agierten, waren sie in der Lage, einen sehr großen Teil der Intelligenz anzuziehen, dabei gleichzeitig einen bruchsicheren Schutzschild des Stalinismus aufzubauen und sich so gegen den Einfluß dieses demokratischen Umfelds abzuschirmen. Gottwald war der tschechische Maurice Thorez, und selbst die Spaltung zwischen Kommunisten und Surrealisten hat sein tschechisches Äquivalent: Vitezslav Nezval war der tschechische Aragon, während sich Karel Teige, der Theoretiker der Künstleravantgarde, auf Bretons Seite schlug. Solche Kontroversen waren immer noch selbstverständliches Element des intellektuellen Lebens. Erst nach dem Krieg wurde daraus tödlicher Ernst. Teige nahm sich, verfolgt vom Regime, 1950 das Leben. Zavis Kalandra, ein begabter Historiker und Marxist, wurde im allerersten stalinistischen Schauprozeß dieser Periode zum Tode verurteilt. In Paris schrieb Andre Breton einen offenen Brief an den Dichter Paul Eluard (der Kundera gut kannte), in dem er ihn bat, zugunsten des tschechischen Wissenschaftlers einzugreifen. Eluard antwortete ihm mit folgender, unvergeßlicher Entschuldigung: „Ich bin zu beschäftigt mit der Verteidigung Unschuldiger, die ihre Unschuld behaupten, um mich um Schuldige kümmern zu können, die ihre Schuld eingestehen.“ Wenn in Frankreich nach dem Krieg Kommunisten an die Macht gekommen wären, so eine durchaus vertretbare Vermutung, wäre die Herrschaft des Terrors wohl ebenso mörderisch ausgefallen wie in der Tschechoslowakei.

Liberale wie Karel Capek, führender Schriftsteller des Landes in der Zwischenkriegsgeneration, versuchten, gegen diesen radikalen Trend in der Intelligenz anzugehen, jedoch mit nur begrenztem Erfolg. Bereits 1924 hatte er einen Text mit dem Titel Warum ich nicht Kommunist bin veröffentlicht. Er argumentierte darin gegen den „Pessimismus und armseligen Haß“ des Kommunismus, der der Arbeiterklasse „künstlich eingeflößt“ würde. Er erklärte, es gebe keine proletarische Kultur. „Was für kulturelle Werte auch immer uns noch geblieben sind, sie liegen bei der Mittelklasse oder sogenannten Intellektuellen-Klasse. Das Proletariat kann seinen Anteil daran wohl behaupten und innerhalb dessen agieren; wenn aber der Kommunismus vorwärtsstürmt und alles verwirft, was ihm als bourgeoise Kultur gilt, dann Adieu, dann wird nichts übrigbleiben.“

Die liberale Generation der Ersten Republik (Masaryk, Salda, Capek u.a.) verschwand am Vorabend des Krieges. Die entscheidende Rolle jedoch in dieser Bewegung nach Osten (und nach links) für die Nachkriegsgeneration hat München und der Verrat des Westens gespielt. Der Zusammenbruch von Masaryks Republik bedeutete den Zusammenbruch des Wertesystems, das mit ihm assoziiert war. Die Kommunistische Partei schien, daran erinnerte Pavel Kohout 1964 in einem Artikel, am besten ausgestattet, um Hoffnungen auf eine radikale Veränderung auf sich zu ziehen. „Für meine Generation war die Ankunft russischer Panzer ein wirkliches Wunder... Die Perspektive einer sozialistischen Revolution schien der einzig mögliche Neubeginn... Unsere Feinde wollten den Kapitalismus wieder aufbauen. Am meisten aber gefiel es mir, Dichter der Revolution zu sein. Es war eine Zeit des großen Glaubens daran, daß beim Schritt um die nächste Ecke ... die schönsten humanistischen Ideale realisierbar wären. Ich schäme mich nicht für diesen Glauben an - wie immer ich es damals nannte - Stalin oder sonstwas. Der Dichter hat, anders als der Richter, ein Recht zu glauben.“

Jedoch schrieb Kohout, der Gläubige, Jubelgedichte über jene Richter, die zum Tode verurteilten, wer nicht begeistert in die strahlende Zukunft marschierte. Sein Tagebuch eines Konterrevolutionärs ist ein ehrlicher Bericht, nicht aber eine Erklärung für das, was geschah.

Mit einem Text, der bekannt wurde als sein „Testament“, war der Dichter Frantisek Halas - er starb im Oktober 1949 einer der ersten, die den Mechanismus der kulturellen Gleichschaltung analysierten. Sein kurzer Essay (der bis heute in keine westliche Sprache übersetzt ist) bleibt der erste ernsthafte Versuch eines führenden tschechischen Intellektuellen, den Vorgang zu erklären, den Julien Benda als „Verrat der Sekretäre“ bezeichnet hat. Auf Plato und Marx zurückgehend (ohne dabei jedoch profanere Mechanismen von Kontrolle und Manipulation zu vernachlässigen), fand er bei ihnen die Ursprünge der Unterstützung für die „Utopien an der Macht“ durch die Intelligenz.

Professor Vaclav Cerny (in der Nachkriegszeit eine intellektuelle Gestalt am Rande, dennoch wohl neben Patocka die wichtigste) schlägt eine weniger großzügige Interpretation vor. In seinen Memoiren (1984) zeichnet er ein niederschmetterndes Bild der kommunistischen „Klasse von 48“: Eine Generation von Fanatikern und Opportunisten, von Karrieristen, die sich in Säuberungen hervortaten und schnell die leergewordenen Plätze einnahmen, solange das Glück ihnen hold war. Dies, so sein Schluß, ist eine rückgratlose und insgesamt intellektuell mediokre Generation gewesen (und die ausführlichen Zitate, die er von ihnen vorführt, machen die Lektüre schmerzlich, wenn auch oft amüsant). Es stimmt, daß viel Bitterkeit und ungerechtes Urteil in seinem so kompromißlosen Bericht zu finden sind. Aber wohl nur ein Wissenschaftler von seiner Statur und aus seiner Generation (er ist 1905 geboren, wie Sartre, dessen Existentialismus seine Philosophie inspirierte, und wie Aron, mit der er vier Jahrzehnte die Ehre teilte, der einsame spectateur engage zu sein, der am Ende Recht behält) konnte mit solcher Freiheit über den Tod des tschechischen Intellektuellen schreiben. 1956-68:

Vernunft und Gewissen

Der 20.Parteitag beschloß diese Ära des „Gärtners auf einem Friedhof“ (wie Salda es nannte) und leitete eine Zeit der Selbstbesinnung ein. Zwischen 1956 und 1968 prangerten tschechische und slowakische Intellektuelle die Verbrechen an, die während des Stalinismus im Namen sozialistischer Werte und Ideale begangen worden waren. Nach 1968 kehrte sich das Argument um: Im Namen der Verbrechen, die nach 1948 und noch einmal nach 1968 begangen wurden, gaben sie die sozialistischen Ideale auf. (Diese Dialektik von „Verbrechen und Idealen“ ist keineswegs nur im Stalinismus zu finden. Französische Intellektuelle verdammten ursprünglich die Sklaverei im Namen der Aufklärung. Ihre Nachfolger machten im 19.Jahrhundert westliche Werte für die kolonialen Verbrechen oder Ungerechtigkeiten verantwortlich.) Die intellektuellen Grundpfeiler des tschechischen „Revisionismus“ (1956-68) waren den Entwicklungen in Polen und Ungarn bemerkenswert ähnlich: Kritik des Stalinismus mit „dem jungen Marx“ und dem „alten Engels“, also ein zunehmend flexibel werdender Begriff von sozialisischer Ideologie. Vor allem markierte dies die Behauptung des Vorrangs von Ethik gegenüber Politik, des kategorischen Imperativs von Kant gegenüber dem Geschichtsgesetz Marxens und dem Prinzip, daß der Zweck die Mittel heilige. Die beste Illustration beider Aspekte findet sich in den Arbeiten von Karel Kosik: Die Dialektik des Konkreten und im Aufsatz Vernunft und Gewissen von 1968. Kosiks Einfluß war in dieser Hinsicht etwa vergleichbar dem Kolakowskis in Polen und Lukacs‘ in Ungarn.

Der tschechische Revisionismus hatte seine große Stunde 1968, aber bereits 1956 hatte er eine - fehlgeschlagene Premiere gehabt. Auf dem Schriftstellerkongreß im April 1956 benutzten die Dichter Jaroslav Seifert und Frantisek Hrubin in ihren Reden Begriffe, die denen des „Po Prostu“ in Warschau und des Petöfi-Kreises in Budapest bemerkenswert ähnlich waren. „Laßt uns hoffen“, so sagte Seifert damals, „daß wir jetzt zum Gewissen der Nation werden können. Glaubt ihr, in dieser Aufgabe haben wir, denke ich, versagt. In all diesen Jahren sind wir weder das Gewissen der Nation noch unser eigenes gewesen.“

Der Hauptunterschied gegenüber der Situation in Polen und Ungarn jedoch war die Isolation der Intellektuellen von der Gesellschaft. Der Apparat konnte die ungarische Revolution dafür ausnutzen, die Tür wieder fest zu schließen. Dies erklärt ein weiteres Moment des tschechischen Revisionismus: Da er politisch frustriert wurde, setzte er sich in kulturelles Leben um und verhalf diesem in den sechziger Jahren zu außerordentlicher Intensität und Ausdrucksvielfalt. Und weil sich die politische Entstalinisierung verzögerte, kam sie schließlich mit großer Vergeltungswut. Der Schriftstellerkongreß im Juni 1967 war der Kulminationspunkt des Konflikts der Intellektuellen mit der politischen Führung und deutet bereits auf den Prager Frühling hin. Das war hauptsächlich das Werk der 48er -Generation, die sich von ihrem stalinistischen Kater erholte und für ihr früheres Versagen kompensierte (manchmal auch überkompensierte).

Als „Revolution innerhalb der Revolution“ markierte das Jahr 1968 die Apothese des politischen Einflusses der Intelligenz, die hier als Brücke zwischen Partei und Volk fungierte: Die Herrscher „aufklärend“ und die demokratischen Hoffnungen der Gesellschaft ausdrückend. Nicht weniger wichtig war die Neudefinition ihrer eigenen Rolle durch die Intellektuellen, die durch die Erfahrungen der fünfziger Jahre so schwer kompromitiert war - daher auch der demonstrativ ketzerische Ton und Inhalt vieler Selbstbesinnungsversuche von 1968.

Im August walzten Panzer alle Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ nieder, und damit auch die Versuche der Intellektuellen, ihre Jugendideale zu retten durch das Eingeständnis ihres Mißbrauchs durch den Stalinismus.

Paradoxerweise haben dennoch viele diese Niederlage als Befreiung erlebt, als eine Versöhnung mit ihrer Nation. In seinem Tagebuch eines Konterrevolutionärs schrieb Pavel Kohout: „Das erste Mal habe ich nach zwanzig Jahren wieder das Gefühl, zur Nation zu gehören.“ Milan Kundera schrieb, daß die tragischen Tage im August „die schönste Woche in unserem ganzen Leben“ gewesen sei. Die Romanschriftstellerin und frühere Sprecherin von Charter 77, Eva Kantorkovas, beschrieb diese Zeit kürzlich als „Vertreibung aus dem Paradies“, dessen hauptsächlicher Gewinn war, daß die „ehemals loyalen Kritiker sich endlich in derselben Situation befanden wie der Rest der Nation“.

Die Niederlage wurde zum Beweis der Großartigkeit des tschechoslowakischen Experiments. In einem berühmten Artikel, der Ende 1968 veröffentlicht wurde, sagte Kundera, daß „die Bedeutung der tschechoslowakischen Politik so groß gewesen ist, um auf keinen Widerstand zu stoßen. Der Konflikt war schärfer, als wir vermutet hatten und die Prüfung, der die neue Politik unterworfen wurde, war grausam. Aber ich weigere mich, dies eine nationale Katastrophe zu nennen, wie es unsere etwas zu Tränen neigende Öffentlichkeit tut. Gegen die allgemeinen Weisheiten wage ich zu sagen, daß die Bedeutung des tschechoslowakischen Herbst womöglich noch größer ist als die des tschechoslowakischen Frühlings.“ Aus der gleichen Stimmung heraus schrieb Eduard Goldstücker, Vorsitzender der Schriftstellergewerkschaft, einen Artikel mit der Überschrift Die Macht der Schwachen.

Man kann diese Lobreden auf die Schwachheit und Tugend der Niederlage - zu einer Zeit, als die Reformen unter Beteiligung der Dubcek-Mannschaft bereits ihr Roll-Back erlebte - verstehen, wenn man sieht, daß der August 1968 für kommunistische Intellektuelle eine zwar tragische aber doch reinigende und befreiende Erfahrung gewesen ist. Sie bewies a contrario, daß ihre Intentionen ehrenhaft gewesen waren, da es ja einer Invasion bedurft hatte, um sie zu vernichten. In den Worten eines Samisdat-Schriftstellers (Sladecek) ausgedrückt, „nahm es den kommunistischen Intellektuellen das Gefühl der Verantwortlichkeit“ für die früheren Missetaten des Regimes. Und auch die Verantwortung für eine Rückkehr zur Eiszeit des Neo-Stalinismus würden sie nun nicht teilen müssen. In der Zeit der „Normalisierung“ teilten sie (endlich!) das Los ihres Volkes.

Dies wirft nun selbstverständlich ein sehr anderes Licht auf die Rolle der kommunistischen Intellektuellen für das Jahr 1968: War es für sie etwa vor allem um den Versuch gegangen, alte Rechnungen mit den Herrschenden und ihrer eigenen Vergangenheit zu begleichen? Skvoreckys Roman Mirakl bietet für diese Auffassung entlarvende (und sehr witzige Porträts. War das Ziel von 1968 nur, 1948 zu korrigieren? Wie Sladecek es ausdrückte: „War es die Verbesserung des Sozialismus, allen zu gehören, oder gehörten wieder einmal alle dem Sozialismus?“ Dies sind nur einige der Fragen, mit denen sich die Samisdat-Literatur in den letzten zehn Jahren beschäftigt hat, und es sind offensichtlich heikle Fragen. Ihr Ziel ist nicht „Objektivität“ oder Gerechtigkeit gegenüber jenen Einzelnen, die damals involviert waren, sondern eine Herausforderung der Geschichtsschreibung über die Intellektuellen der Nachkriegstschechoslowakei, wie sie von den kommunistischen Intellektuellen über sich selbst betrieben wird: Von der jugendlichen Unschuld revolutionären Idealismus zum Sündenfall des stalinistischen Terrors, von der „Reinigung“ im Jahre 1968 zum Fegefeuer der „Normalisierung“. Die kommunistischen Intellektuellen hatten die Tendenz, beständig das kollektive „Wir“ zu gebrauchen und damit für alle Intellektuelle, oft für die Partei, machmal für die ganze Nation zu sprechen. In Wirklichkeit sprachen sie meistens für sich, die (zugegeben wichtige) „Klasse von 48“.

Dieses kollektive „Wir“ ist seit 1968 in Frage gestellt worden. Als Karel Kosik seinen berühmten Essay Unsere gegenwärtige Krise veröffentlichte, antwortete ihm ein anderer Philosoph, nämlich Ivan Svitak, mit einem Text unter der Überschrift Eure gegenwärtige Krise. Und auf Kunderas Meditationen über das „Tschechische Schicksal“ antwortete im Februar 1969 Vaclav Havel. Die Behauptung, zum ersten Mal seit der Reformation hätten sich die Tschechen wieder im Zentrum der Weltgeschichte befunden, sei eine Illusion, die ihm sehr nach „provinziellem Messianismus“ schmecke. Die Rückkehr der freien Rede und einfachster Bürgerrechte könne man kaum als welterschütternde Neuheiten behaupten, denn für die meisten Menschen außerhalb der kommunistischen Mentalität sei dies schließlich nichts anderes als eine Rückkehr zur Normalität, zu etwas, was es auch in der Tschechoslowakei schon einmal gegeben habe und bis heute in zivilisierten Ländern üblich sei. Die den Reformen aufgeschlossenen kommunistischen Intellektuellen hätten am Ende als ihren größten Erfolg präsentiert, was der Rest der Gesellschaft lediglich als Rücknahme des Unsinns betrachte, zu dem die Intellektuellen vor 20 Jahren ihren Teil beigetragen hätten.

In einem Interview beschrieb Havel 1986 sein Verhältnis zu den revisionistischen Intellektuellen 1968 folgendermaßen: „Sie repräsentieren so etwas wie ein Kultur-Establishment. Für uns jüngere Nicht-Kommunisten gab es in ihren Bemühungen vieles, was uns nahe war; natürlich waren sie eine angenehmere Alternative als die verknöcherte Bürokratie von Novotny und ihren prominenten Dogmatikern; dennoch hatten auch sie aus unserer Sicht ihre Grenzen (die sie heute natürlich beinahe völlig verloren haben). Wir empfanden an ihren Aktivitäten eine gewisse Zahl problematischer Momente von Illusionismus, von Zugeständnissen an alte ideologische Muster, die permanente Obsession mit Fragen der Taktik, einen Mangel an Gründlichkeit und sogar eine kindische, ungetrübte Identifikation mit ihrem Establishment-Status, den sie einfach als gegeben betrachteten: Die Vorstellung, daß andere über bestimmte Themen etwas zu sagen hatten, ging ihnen völlig ab. Sie hatten die Tendenz, ihre persönliche Erfahrung auf jeden und alles zu übertragen. Sie sprachen von sich lieber als von einer Generation als von einem Teil der Kommunisten.“

Die „Normalisierung“, die unter anderem darin bestand, einer Handvoll von diskreditierten, drittklassiken Schreibern die offizielle Kultur zu überlassen, wischte auch das reformkommunistische Establishment beseite. Die unabhängige Gegenkultur der siebziger Jahre kreierte eine neue „Gleichheit“ im Zugang zu Veröffentlichungsmöglichkeiten. Sie modifizierte auch die bisher vorherrschenden Begriffe der Diskussion.

Es lohnt sich für unsere Analyse, zwei ihrer Themen hier zu erwähnen.

1. Für nicht-kommunistische Autoren war 1968 die erste Gelegenheit, sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Für sie war 1968 mehr als die verspätete Anstrengung von Oben, die „Deformation“ des Sozialismus zu korrigieren; für sie war dies in erster Linie ein Schlüsselereignis in der Wiederbelebung einer staatsbürgerlichen Gesellschaft und eines wirklich freien intellektuellen Lebens (dies wurde 1988 in Interviews betont von V.Havel, J.Grusa, V.Belohradsky und J.Nemec).

2. Das „kulturelle Biafra“, die Tragödie der tschechischen Kultur, begann nicht 1968'sondern 1948. Die Ursprünge unabhängiger Kultur und des Samisdat stammen aus der Zeit des Stalinismus. Man braucht nur Jiri Kolars Tagebuch zu lesen, das jetzt unter dem Titel Augenzeuge herausgekommen ist („Heute ist die größte Perversion, Exzentrizität und Absurdität, die Wahrheit zu sagen und die Welt zu sehen wie sie ist.“ 1.Januar 1949), die Schriften von V.Effenberger und der Surrealisten oder Jindrick Chalupeckys Am Rande der Kunst (1988), um zu begreifen, daß sich eine Parallelkultur (zugegeben in kleinem Ausmaß) entwickelte, und zwar vom ersten Tag an, die kommunistischen Intellektuellen im Königreich der Kultur die Macht ergriffen hatten.

Jan Vladislav, einer der Mitbegründer des literarischen Samisdat vor 40 Jahren, drückt es so aus: „In Wirklichkeit geht die Geschichte des tschechischen - und teilweise auch slowakischen - geistigen Widerstands zurück zum Zeitpunkt der kommunistischen Machtübernahme von 1948. Damals wurde eine beträchtliche Anzahl Intellektueller, Universitätslehrer, Studenten und Künstler durch einschneidende Verwaltungsmaßnahmen von jeder Möglichkeit öffentlichen Wirkens ausgeschlossen. Viele von ihnen, einschließlich etwa 40 Schriftstellern, wurden in den Fünfzigern sogar verhaftet und ins Gefängnis geworfen, während eine noch viel größere Zahl daran gehindert wurde, in ihrer Disziplin zu arbeiten. Zahllose Autoren wurden aus der offiziellen Schriftstellergewerkschaft ausgeschlossen und verloren somit jede Möglichkeit zu veröffentlichen. Damals spaltete sich die tschechoslowakische Intelligenz in zwei Lager: einerseits diejenigen, die die Kulturpolitik des neuen Regimes akzeptierten, aus Überzeugung oder Opportunismus, und die anderen Intellektuellen, die begriffen, welche Gefahr für die geistige Identität des Einzelnen und der Nation als ganzer hier heraufzog, und die dieser Gefahr zu begegnen versuchten durch ein Weiterarbeiten nach eigenem Gewissen, wenngleich ohne jede Aussicht auf Öffentlichkeit.“ (Kolar, Hrabala, Patocka, Cerny etc.) 1968-88:

Intellektuelle und Anti-Politik

Nach 1968 wurden die Intellektuellen, die im Prager Frühling eine so herausragende Rolle gespielt hatten, zur Hauptzielscheibe der Repression. Für tschechische Intellektuelle (in der Slowakei sah die Situation sehr anders aus) könnte die Nach-68er-Periode beschrieben werden als eine Bewegung von der Macht und zur Gesellschaft, von der Politik zur „Anti-Politik“. Nach dem Bruch mit der Macht entdeckte der Intellektuelle wieder seine Rolle als moralische Gegenmacht. In seinem neuen Essay beschrieb Jan Vladislav es so: „Selbst wenn sie sich nicht direkt um Macht in ihrer Gemeinschaft bemühen - in einem gewissen Sinne haben sie sie trotzdem. Es ist eine besondere Art von Macht. Im allgemeinen agiert sie außerhalb der etablierten Machtstrukturen, was wahrscheinlich der Hauptgrund ist dafür, warum die Mächtigen diese Art von Macht so gefährlich finden, auch wenn sie ausschließlich aus Wörtern und Ideen besteht.“

Diese neue Rolle der Intellektuellen umfaßt zwei Aspekte: 1. die Politik einer Gegenkultur und 2. die Ethik geistigen Widerstands.

1. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre sind die tschechischen Intellektuellen zu der ihnen aus dem 19.Jahrhundert angestammten Rolle zurückgekehrt. Angesichts eines massiven Angriffs einer totalitären Macht auf die Gesellschaft wurde Kultur zum letzten Damm gegen die „Normalisierung“, die Sowjetisierung. Einerseits also war die parallel sich entwickelnde Untergrundkultur für die Intellektuellen eine Emanzipation von den politischen und ideologischen Beschränkungen der Vergangenheit: von Zensur und Selbstzensur. Andererseits aber stellte es die Rolle der Kultur als Ersatz für Politik wieder her. Hieraus ergab sich eine neue Gefahr: Sollte die unabhängige Kultur der Gesellschaft „dienen“, so wie sie in der Vergangenheit der Partei und ihrer Ideologie gedient hatte?

Unter „totalitären Bedingungen“, sagte Havel, kann dies eine sehr zweischneidige Geschichte sein: Es gibt zwar jeglicher intellektueller Aktivität eine Dimension, die ihr in offenen Gesellschaften zum Beispiel fehlt - eine „zusätzliche Dosis Radioaktivität“ -, denn sonst würde man nicht für sein Schreiben ins Gefängnis gesteckt. Aber es enthält auch eine Falle, der sich jeder Schriftsteller bewußt sein sollte, nämlich Literatur mit „Botschaften“ auszustatten.

2. Ethik der Anti-Politik. Durch die Entstehung der Menschenrechtsbewegung Charta 77 wurden tschechische Intellektuelle wiederum mit einer neuen Situation konfrontiert: Nach der Emanzipation von der Macht kam nun die Provokation der Mächtigen. Vaclav Cerny sah in der Charta einen Meilenstein der kulturellen Entwicklung der Nation, ein Moment in der Geschichte des tschechischen Geistes, der das moralische Rückgrat, ein Gefühl für Gesetz, Menschenwürde und den Willen zur Wahrheit wiederherstellte. Es war eine Warnung an die Machthaber, und zwar an alle und überall...

Zweifellos war es der Philosoph Jan Patocka, der zum Spiritus movens dieser Bewegung weg von der Politik und hin zu einer Ethik des Widerstands wurde. In seinem berühmten Text vom Januar 1977 mit dem Titel Was ist Charta 77 und was ist es nicht? stellte er fest: „Keine Gesellschaft, wie perfekt ihr Technikfundament auch ist, kann ohne moralisches Fundament funktionieren, ohne eine Überzeugung, die nichts mit Opportunismus, Bedingungen oder berechenbaren Vorteilen zu tun hat. Moralität aber erlaubt einer Gesellschaft nicht nur zu funktionieren, sondern dem Menschen, menschlich zu sein. Der Mensch kann Moralität nicht definieren aus den Launen seines Bedürfnisses, seiner Wünsche, Neigungen und Sehnsüchte; es ist die Moralität, die den Menschen definiert. (...) Aus der vorher erwähnten Beziehung zwischen dem Reich der Moral und der Staatsmacht ergibt sich, daß Charta 77 kein politischer Akt im engeren Sinne ist, daß es keine Angelegenheit der Konkurrenz oder der Einmischung in die Funktionssphäre der politischen Macht ist. Noch ist Charta eine Vereinigung oder Organisation; sie ist ausschließlich gegründet auf persönliche Moral (...) und gerichtet auf die Reinigung und Wiederbelebung des Bewußtseins, daß eine höhere Autorität existiert.“

Die hysterische Kampagne des Regimes gegen Charta 77 bestätigt nur die Auffassung, daß ihre Herausforderung allererst eine moralische und nicht so sehr eine politische war. Das erklärt wohl die Kraft und die Attraktivität dieser Widerstandsethik der Intellektuellen, jedoch auch ihre Grenzen. Wie Petr Pithart bemerkte, erhält der Intellektuelle angesichts einer Macht, die nur noch auf Selbsterhalt gerichtet ist, fast automatisch ein Monopol auf „die Wahrheit“. Die Gefahr ist, daß der Intellektuelle beschränkt wird auf ein Dasein im Tugendghetto.

Der katholische Philosoph Vaclav Benda war der erste, der die Ausweitung dieser Widerstandsethik zur Herstellung paralleler Gesellschaftsstruktur diskutierte und zwar ausgehend vom Grundsatz, daß jedes Individuum Verantwortung für die Gesellschaft als ganze, also zur Schaffung einer „parallelen Polis“ trage. Dieser Gedanke ist dem von Michniks Neuer Evolution recht ähnlich, aber in der Tschechoslowakei hat sich eine autonome Gesellschaft der Bürger (außer in der kulturellen Sphäre) nicht materialisiert. Die Passivität einer atomisierten Gesellschaft, die Abwesenheit unabhängiger Institutionen wie etwa der Kirche in Polen, die hauptsächliche Beschäftigung der Intellektuellen mit der Bedrohung ihrer kulturellen Identität als Europäer (statt mit der Mobilisierung nationaler Kräfte) - all das markiert entscheidende Differenzen zwischen den Versuchen tschechischer und polnischer Intellektueller in den siebziger und anfangs der achtziger Jahre, Bindungen zur ihrer Gesellschaft herzustellen. Die tschechische Intelligenz hat es im Gegensatz zu ihrem polnischen Gegenstück nicht geschafft, ihrer Gesellschaft die Hand auszustrecken. Gleichzeitig haben sie vermieden, mit der Kirche oder einer Solidarnosc um moralische Autorität zu „konkurrieren“. In Prag erhielt man sich das Monopol auf moralische Empörung.

Dies hat manchmal dazu geführt, daß man seine sozial randständige, aber geistig zentrale Rolle rationalisierte. Im unausgesprochenen „Gesellschaftsvertrag“ zwischen kommunistischen Machthabern und konsumorientierter Gesellschaft bleibt nur der Intellektuelle übrig, für den die Bedingungen des Vertrags fundamental unannmehmbar bleiben (Liehm, 1973). Man findet in Havels Arbeiten neben der Kritik der Macht (beeinflußt von Patocka und Belohradsky, nach denen sie „die unpersönliche Herrschaft einer Mega-Maschine“ ist, „die sich menschlicher Kontrolle entzieht“) auch eine Kritik der Gesellschaft, die sich der Teilnahme an der „totalitären Lüge“ unterworfen hat.

Von der Gesellschaft geachtet und sogar bewundert für seinen Mut, „in der Wahrheit zu leben“, von den Herrschenden gefürchtet für seine rücksichtslose Aufdeckung ihres Mangels an Legitimation, wird der tschechische Intellektuelle durch den kulturell und ethischen Ersatz für Politik in eine schwierige, wenn auch oft dankbare Rolle gedrängt: Als Monopolist der smybolischen Kraft des geschriebenen Wortes und moralischen Widerstehens.

Tugendhaft, aber isoliert mag der Intellektuelle machmal wünschen, die Last, „Gewissen der Nation“ zu sein, würde von ihm abfallen, damit er nichts anderes mehr zu sein bräuchte als „einfach ein Schriftsteller“. Havels Stück Largo Desolato ist ein bewegendes Porträt dieses Intellektuellen, der, von Forderungen der Gesellschaft an ihn überlastet, müde geworden ist, ständig die Rolle als „Berufungslieferant von Hoffnung“ spielen zu müssen. Dennoch kann er dieser Rolle nicht entfliehen, denn sie ist letztlich seine Bestimmung als Intellektueller. Vaclav Havel, der seit dem - auf ein achtstündiges Polizeiverhör folgenden - Tod von Jan Patocka 1977 zur zentralen Gestalt des intellektuellen Widerstands in der Tschechoslowakei wurde, ist gewiß jemand, der qualifiziert ist, hierüber zu sprechen: „über das tragische Schicksal, das aus Verantwortung entspringt; über die Fruchtlosigkeit menschlicher Bestrebungen, sich der Rolle zu entledigen, die die Verantwortung auferlegt hat; über Verantwortung als Bestimmung“.

Dieser Beitrag sollte auf dem im November 1988 in Prag geplanten und dann von der Polizei gewaltsam verhinderten Symposium „Tschechoslowakei 88“ gehalten werden.

Jacques Rupnik ist Historiker und lehrt an der Fondation Nationale des Sciences Politiques in Paris. Er ist in Prag geboren und arbeitete lange Zeit als BBC-Experte für Ost und Mitteleuropa. Für Channel 4 schrieb er kürzlich eine mehrteilige Serie über Osteuropa; der Text wurde als Buch unter dem Titel The Other Europe veröffentlicht. Vaclav Havel wurde am 21.Februar dieses Jahres zu einer neunmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt.