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BLUTZOLL IN NEAPEL

■ Der abgeschlossene Roman

Aber einmal ist mir wirklich etwas Merkwürdiges passiert! sagte der Reisende und zündete sich eine Zigarre an. Die Party war schon einige Stunden alt, und die Gespräche liefen nur noch träge. Merkwürdiges vom Reisenden war also willkommen. Die Gastgeberin rief laut: Ach ja, erzählen Sie uns doch Ihre Geschichte! und die anderen Gäste stimmten in die Aufforderung ein. Der Reisende zog noch einmal tief an seiner Zigarre und begann:

Ich kam mit dem Zug aus Rom, als ich das erste Mal in Neapel ankam. Es war im Oktober, aber noch immer sehr heiß. Im Bahnhof herrschte ein unheimlicher Betrieb, von allen Seiten trat einem etwas zu nahe. Da wollte einer eine Armbanduhr verkaufen, dort bat einer um eine Zigarette, Gepäckträger versuchten, einem die Koffer aus der Hand zu reißen. Napoli Centrale ist ein Riesenbahnhof, laut, heiß, unübersichtlich, und ich, als Neuling in dieser Stadt, mittendrin. Plötzlich verlangte eine alte Bettlerin 1.000 Lire von mir. Ich gab ihr 200. Da öffnete sie ihren zahnlosen Mund und verfluchte mich in alle Ewigkeit, wünschte mir Armut, Krankheit und frühen Tod. Ich floh vor ihr und ihrem Fluch, entkam schließlich auf den weiten Bahnhofsvorplatz. Dort trat eine junge, schöne Frau in Weiß auf mich zu, fragte nach meinem Namen, meinem Befinden und redete viel. Ich verstand sie nicht sehr gut, aber nach diesem höllischen Bahnhofstrubel erschien sie geradezu als eine Erlösung. Und als sie mich dann fragte, ob ich etwas Gutes tun wolle, sagte ich ja, ohne zu zaudern. Da schob sie mich in einen dunklen Bus hinein, der in der Nähe bereitgestellt war. Ein Mann im weißen Kittel packte mich, band mir den Arm ab, stach eine Nadel in meine hervortretende Schlagader, und in eine Kanüle floß mein Blut. Dann mußte ich einen Zettel unterschreiben, den ich nicht verstand. Wenig später stand ich wieder im hellen Licht des Bahnhofsvorplatzes. Mir war schwindelig und mein Arm tat etwas weh. Noch bevor ich irgendetwas von Neapel hatte betrachten können, war ich in eine Blutspendeaktion hineingeraten. Das ist doch merkwürdig, oder?

Etwas verlegen sahen sich die Partygäste an. Die Geschichte war zu Ende. Möchten Sie noch etwas Eis in Ihren Whisky? fragte die Gastgeberin schließlich. Oh ja, gerne! antwortete der Reisende zerstreut.

Hermann Schlösser

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