Hochsprung aus dem Schatten

■ Ernst Kreneks zweite Oper in Bielefeld

Die fortgesetzten Hochsprung-Übungen des Stadttheaters in Bielefeld fordern ihre Opfer: Bei den Proben zu Ernst Kreneks Komischer Oper Der Sprung über den Schatten von 1923 gab es drei Muskelfaser- und Bänderrisse. Mit etwas Verspätung kam die Wiederaufführung des leichtgewichtigen Stückes dann doch auf die Bühne - und fand munteren Zuspruch beim Publikum. Das Libretto (vom Komponisten) ist gut für eine Opern-Farce, parodiert die letzte Phase der Habsburger Monarchie und der Wiener Zustände am Anfang der zwanziger Jahre: ein Zeitstück. Fürst Kuno, selbst mit einem unstillbaren Drang zum Küchenpersonal ausgestattet, verdächtigt seine Gattin Leonore der Untreue, beauftragt Privatdetektiv Marcus mit den einschlägigen Nachforschungen. Statt diesem aber erscheint der Psychoanalytiker Dr. Berg, ein auch von Leonore geschätzter Hypnotiseur, bei Hofe. Er hat die Kleider mit Freund Marcus getauscht und hofft so, dem Ziel seiner erotischen Wünsche näherzukommen. Aber es gibt nur heillose Verwirrung und Verwicklungen, weil da auch noch Gräfin Blandine und der Dichter Laurenz Goldhaar mitmischen. Der regierende Monarch blamiert sich auf einem Maskenball gründlich, der arme Poet wird in Fesseln gelegt und in den Kerker geworfen; sein Prozeß aber endet mit einer Revolution, die den Dr. Berg ins Präsidentenamt hebt: Er, der die Damen der Gesellschaft stets dazu anhielt, über ihren Schatten zu springen, übernimmt nun die Anleitung zum Schattensprung als großes Gesellschaftsspiel.

Ernst Krenek, 1900 in Wien geboren und 1938 in die USA emigriert, entwickelte für diese Posse eine fröhliche Musikmischung: eine Melange aus freier Atonalität und Foxtrott, heruntergekommenem Operetten-Ton und neobarocker Fuge; die Musik tänzelt zwischen Rosenkavalier und Revoluzzerlied, zwischen Romantizismen und Revue-Sound. Thomas Brüning und Lynda Kemeny gaben in Bielefeld ein Fürstenpaar im Stadium der fortgeschrittenen Dekadenz; nicht minder wurden auch John Pflieger (als Hypnotiseur) und Jörg Dörrmüller (als Dichter) ihren Rollen gerecht. Ganz herzerweichend aber war Diana Amos (als Zofe und Vorsängerin) und das - wie vom Nikolaus in schwarze Tinte getauchte - Transvestiten-Quartett.

John Dew sorgte, wieder einmal, für eine turbulente kurzweilige Inszenierung. Seine Methode der Aufbereitung macht Stücke von solch kleinem Kaliber auf der Bühne heute nicht nur erträglich, sondern kurzweilig. Für Unterhaltungswert im höheren Sinn aber sorgen erst die Bilder von Gottfried Pilz. Der zwingt eine Fülle von Zitaten aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zu einer einheitlichen, konsequent durchstilisierten Folge von imaginären Räumen: Stets suggeriert die Bemalung der Vorhänge tiefe Raumwirkung. Ganz im Sinne Magrittes gewährt Pilz Ausblicke auf hohle Köpfe, durch welche Wolken ziehen, auf den Himmel, vor den sich alte Hüte schieben; Inszenierung und Ausstattung zitieren Picasso und Kandinsky, Schlemmer und Schwitters, „Cabaret“ und Pina Bausch.

Der Dichter erscheint mit Flügeln des Gesangs - zum Abheben; der Maskenball erhebt sich zur optischen Orgie, bei der schießlich nur noch Kreise und Quadrate, Recht- und Dreiecke ein Tänzchen geben. Großartig auch das Gefängnisbild: Ein riesiges, aus den Winkeln geratenes Gitterfenster wird durch Paragraphen-Strahlen durchbrochen. Und die Gerichtsszene ist von so delikater Bosheit, daß sensibleren Juristen die Lust an ihrem Gewerbe vergehen müßte.

Die Sprünge über den Schatten finden schließlich als Schattenspiel statt bis das Pergamentpapier reißt und die Akteure zum Beifall an die Rampe springen: Ein weiterer riskanter Hochsprung des Bielefelder Theaters ist - sieht man von kleinen Blessuren bei den Sängern und einigen Pannen bei den Bläsern ab - glänzend gelungen.

Frieder Reininghaus