„Den § 175 ersatzlos streichen - jetzt!“

Zum zweitenmal brachten die Grünen den „Entwurf eines Gesetzes zur strafrechtlichen Gleichstellung von Homo- und Heterosexualität“ in den Bundestag ein / Die Aids-Enquetekommission des Deutschen Bundestags plädiert für die Streichung des Paragraphen 175  ■  Aus Bonn Ferdos Forudastan

Herr H. hat Angst. Herr H. ist nämlich heterosexuell. Ständig muß er mit Polizeikontrollen rechnen, wenn er sich an Orten aufhält, die als beliebte Treffpunkte von Heterosexuellen gelten. Oder es droht ihm behördliche Registrierung in Heterokarteien. H. junior, sein Sohn, darf sich mit der „Selbsthilfegruppe junger Heterosexueller“ nicht im Jugendzentrum vor Ort versammeln. Der Leiter des Zentrums befürchtet nämlich, daß dadurch andere Jugendliche zur Heterosexualität verführt werden könnten.

Eine absurde Fiktion. Und Wirklichkeit für die Schwulen in der Bundesrepublik. Noch immer werden sie strafrechtlich diskriminiert: durch den Paragraphen 175 des Srafgesetzbuchs. Bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe droht dieser einem Mann über achtzehn Jahren an, „der sexuelle Handlungen an einem Mann unter achtzehn Jahren vornimmt oder von einem Mann unter achtzehn Jahren an sich vornehmen läßt“. Eine entsprechende Vorschrift für Heterosexuelle gibt es nicht. Sexuelle Kontakte mit Menschen ab 14 Jahren, die ohne Gewalt oder Mißbrauch von Abhängigkeiten zustande kamen, werden bei ihnen nicht geahndet.

Daß es immer noch eine Vorschrift gibt, die Schwule kriminalisiert, ist weithin unbekannt und schon gar nicht politisches Modethema. Schwulenorganisationen vor allem sind es, die beständig fordern, diese Norm abzuschaffen. Unterstützt werden sie von den Grünen, die vor kurzem ihren zweiten parlamentarischen Anlauf in Sachen Paragraph 175 unternahmen: Sie brachten erneut den „Entwurf eines Gesetzes zur strafrechtlichen Gleichstellung von Homo- und Heterosexualität“ in den Bundestag ein. Seit Ende 1988 gibt es außerdem eine Initiative verschiedener Verbände und Einzelpersonen, die sich mit dem Aufruf: „Den § 175 ersatzlos streichen - jetzt!“ an die Öffentlichkeit und den Gesetzgeber gewandt haben. Unterschrieben haben etwa 40 WissenschaftlerInnen, MedizinerInnen, JuristInnen und TheologInnen, getragen wird der Aufruf von Pro Familia, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Humanistischen Union, der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung und anderen.

Im verborgenen führt der Paragraph auch innerhalb der etablierten Parteien ein heftiger umkämpftes Dasein, als es das öffentliche Schweigen um ihn vermuten läßt. „Es ist an der Zeit zu überlegen (...) ob der Paragraph 175 gestrichen und durch eine einheitliche Schutzvorschrift für Jugendliche (...) ersetzt werden kann.“ Dies befand die Aids -Enquetekommission des Deutschen Bundestages vor einigen Monaten. Ihre Begründung: Ob der Aidserkrankung von Homosexuellen vorzubeugen sei, hänge vor allem davon ab, inwieweit ihre sexuellen Lebensgewohnheiten toleriert würden. Jegliche Diskriminierung wirke sich antipräventiv aus. So naheliegend ihre Empfehlung, den Paragraphen 175 zu streichen, vor diesem Hintergrund erscheint, so bemerkenswert ist sie dennoch: Die Besetzung der Kommission steht der ehemaligen CDU-Familienministerin Rita Süssmuth nahe.

„Ein Schritt in die richtige Richtung“, mehr möchte Volker Beck, Schwulenreferent der Grünen, in dem Vorschlag der Kommission nicht sehen. In der Tat ist er alles andere als eine konkrete Richtlinie. Unter der einheitlichen Schutzvorschrift für Jugendliche, durch die der Paragraph 175 ersetzt werden soll, stellt sich die Kommission eine aus Paragraph 175 und Paragraph 182 StGB zusammengesetzte Norm vor. Letzerer bestraft die Verführung von unter 16jährigen Mädchen zum Beischlaf. Ohne daß die rechtliche Ungleichbehandlung der Schwulen beibehalten wird oder die sexualstrafrechtlichen Bedingungen für Heterosexuelle verschärft werden, sind die beiden Bestimmungen nicht zu verbinden.

Ganz zaghaft nur bewegt sich also etwas in den Reihen der sogenannten Reformer innerhalb der Union. Gar nichts hingegen tut sich ansonsten in CDU und CSU: „Ein Staat, in dem die Grünen mitbestimmen, ist ein Staat ohne Moral: Sie fordern (...) Selbstdarstellung der Homosexuellen in den Medien, ersatzlose Streichung des § 175 StGB (...).“ Dies befand der CDU-Abgeordnete und parlamentarische Staatssekretär Ottfried Henning vor einigen Jahren. „Homosexualität ist nach wie vor eine Perversion. Mit uns wird die einschlägige Strafnorm niemals gestrichen“, beschied Norbert Geis, CSU-Parlamentarier vor Wochen den Besuchern einer Veranstaltung zum Thema Paragraph 175.

Viel weniger deutlich werden die Liberalen. 1980 hatten sie als erste Parlamentspartei die Forderung, den Paragraphen zu streichen, in ihr Programm aufgenommen und damit im Wahlkampf 1983 auch noch um schwule Stimmen gekämpft. Davon will sie heute nichts mehr wissen.

In der SPD wächst der Unmut über den Sonderparagraphen. Artikuliert wird er bisher allerdigs meist nur mit sozialdemokratischer Zurückhaltung: Allein die Landesverbände Berlin und Hamburg forderten eine ersatzlose Streichung. Für den stellvertretenden Bundesvorsitzenden Johannes Rau „kommt eine solche Änderung des Sexualstrafrechts unter keinen Umständen in Frage“.

„Sonderparagraph“ wird der 175 zu Recht genannt, doch seine Bedeutung für die Betroffenen ist eine ganz alltägliche. Er rechtfertigt Polizeirazzien in der schwulen Subkultur und die damit verbundene Erfassung in Homosexuellenkarteien. Homosexuellen Jugendlichen erschwert er, angstfrei ihre sexuelle Identität zu leben.

175 - ein Paragraph mit einer unheilvollen Tradition: 1935 verschärften ihn die Nazis, Tausende homosexueller Männer und Frauen wurden daraufhin in Konzentrationslagern gequält und umgebracht. Bis 1969 blieb die Vorschrift unverändert in Kraft. Wie ihr Tatbestand in der heute geltenden liberalisierten Fassung definiert wird, erinnert noch immer an die nationalsozialistische Rechtstradition.