: Scheibengericht: Munch / J.S.Bach / Friedrich Gulda / Stockhausen u.a. / DFTh + HB-W: Free Jazz / Proensa / Mozart / Philip Glass / Paul Giger / Eric Satie / Bill Frisell / Steve Reich
MONTAG, 10/4/8915 oMUNCH:
Dossier ST 7560/EfA 08-05860
Knallharter Baß, Flaschenklirren, Kurzwellenradio, rhythmisierter industrial sound, apokalyptisch düstere Synthesizerklänge - über monotonen (aber nicht langweiligen) Patterns röcheln und schreien die fünf Musiker aus dem norwegischen Kristiansand ihre endzeitlichen Texte über Neutronenbomben, Krieg und Verderben. Wo andere das Thema ohnmächtig klagend in Matsch und Schlamm gesetzt haben, schlägt bei Munch die klare Disposition der klanglichen Mittel durch, also handwerkliches Kalkül. Irgendwo zwischen Soviet France und Laibach haben sie ästhetisch angesetzt, der Pfad ist schmal. „Die letzte Freude ist ein Sonnabend im Licht einer Neutronenbombe“, steht auf dem Beizettel. Und „Wenn wir das ernsthaft angehen, funktioniert nichts. Unser Anspruch ist, so viel Spaß wie möglich zu haben, ohne den können wir keine Musik machen.“ oJ.S. BACH:
6 Triosonaten BWV 525-530. Heinz Holliger, Oboe, Oboe d'amore; Tabea Zimmermann, Viola; Christiane Jaccottet, Cembalo; Thomas Demenga, Violincello. Philips CD 422 328-2
Keine andere instrumentale Ensemblegattung wurde in der Barockzeit so gepflegt wie die Triosonate. Um 1600 in Norditalien enstanden, entwickelte sie sich während ihrer Verbreitung über ganz Europa weiter, ohne ihre ursprünglichen Charakteristika einzubüßen: zwei Melodieinstrumente und basso continuo. Nur Bach läßt nichts, wie es ist, setzt sehr unterschiedliche Sätze zueinander und arrangiert um. Diese sechs Sonaten soll er als Übungsstücke (!) für seinen ältesten Sohn Wilhem Friedemann geschrieben haben - für Pedal-Clavichord (oder -Cembalo). Zwei Sätze daraus hat er aber dann doch wieder - für eine Kantate und ein Konzert - als Instrumentaltrios verwendet. Die illustre Truppe um Heinz Holliger hat nun die 1723 entstandenen Sonaten unter Beibehaltung des Notentexts und der Originaltonarten mit wechselnden Besetzungen in ein ungemein farbiges Konzertprogramm verwandelt: Kräftig akzentuiert in den tänzerischen Ecksätzen, plastisch und ausdrucksvoll in den mittleren, mit einer Klangfülle, die manchmal eine größere Formation vermuten läßt. Holligers Instrument hat allerdings in allen Sonaten ein so dominierendes Klangprofil, daß eher der Eindruck von Oboenkonzerten entsteht. War sicher Absicht. oFRIEDRICH GULDA
spielt „Landschaft mit Pianist“. Tonbandkomposition von GÜNTHER RABL. Amadeo CD 427 090-2
Grob gesagt: Rabl donnert und Gulda klimpert. Feiner gesagt: Rabls Komposition für vier Lautsprechersysteme und Guldas Klavierimprovisation sind - einzeln - halbe Sachen und ergeben zusammen nichts Ganzes. Ein Grund dafür ist, daß der zivilisierte Klavierklang lächerlich-ohnmächtig wirkt vor dem elektronisch hergestellten Klang der Naturgewalten. Ein anderer Grund ist, daß Gulda die grenzenlose Freiheit, auf der er als Improvisator besteht, recht kleinmütig nutzt: in der zweiten Hälfte (bei abgedeckten Saiten) mit sparsamer Perkussion, in der ersten mit „pianistischen“ Konventionen, also Läufen, Sequenzen, repetierten Figuren. Insgesamt vermittelt er den Eindruck, als sei er der Anforderung nicht gewachsen. Auch im beigefügten „Memories“ erspielt er nur Platitüden: donnernde Kraftmeierei oder lyrisch -impressionistische Unverbindlichkeiten. oMARKUS STOCKHAUSEN, GARY PEACOCK, ZORO BABEL, FABRIZIO OTTAVIUCCI:
Cosi Lontano ... Quasi dentro. ECM 1371
Markus Stockhausens Wiederaufnahme seiner Jazzaktivitäten: davon hatte ich mir mehr erwartet. Da ergeben sich entgegen den beigelegten Versprechungen - kaum längere, intensive Improvisationszusammenhänge; jeder der Vier bleibt zu oft in seinem kurzatmigen Einfall versponnen, dann geht es eben irgendwie weiter. Versucht einer einmal, einfache Verlaufsmuster weiterzuführen, verlaufen sie im Sand: Verzappelt und verloren. oDFTh+HB-W:
... beyond the blue. KM 010 / Recommended No Man's Land
Es gibt ihn doch noch, den Free Jazz. Genauer: Es gibt ihn unter weitherziger Einbeziehung älterer Stile und mit der Erfahrung neuerer Ästhetik. Helmut Dinkel, Saxophone; Johannes Frisch, Baß; Rudolf Theilmann, Schlagzeug, und Helmut Bieler-Wendt, Violine, Klavier (vgl. Gruppennamenskürzel) kamen vom Bepop, Avantgarderock, Free Jazz und von der Neuen Musik, bevor sie sich 1983 in Karlsruhe zur spontan improvisierten Musik zusammentaten. An ihren Stücken fällt zuerst auf, daß sie sich nicht mehr auf den emphatisch stilisierten Individualismus verlassen, auf die aktuelle Befindlichkeit und das Bedürfnis des einzelnen Musikers, sondern daß sich alle Beteiligten einer musikalischen Logik verpflichtet fühlen, der differenzierten Kollektivimprovisation. Daß sie dem anstehenden Verlauf nachgeben, dessen Verwandlung vordenken und betreiben, ist die Stärke dieser Musiker. Die Metamorphosen, die sich daraus ergeben, funktionieren wie die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht: Hebt der Tonarm ab, ist die Handlung nicht zu Ende, nur unterbrochen. oPROENSA:
Paul Hillier, Voice; Stephen Stubbs, Lute & Psaltery; Andrew Lawrence-King, Harp & Psaltery; Erin Headly,. Vielle. ECM New Series CD 1368
Wer heute den Gesang der proven?alischen Troubadours vorträgt, der spekuliert. Denn er muß aus lückenhaften Quellen einen lückenlosen musikalischen Text machen. Er findet lediglich die Tonfolgen des Gesangs vor, keine Angaben zur Rhythmik und zur Begleitung. Paul Hillier hat sehr überzeugend spekuliert. Über der Instrumentalbegleitung, die entweder verdoppelnd neben der Stimme herläuft oder als Bordun unterlegt ist, rezitiert er prächtig die Canzonen von Liebe, Verführung und Zurückweisung. Wie er das macht, ist gar nicht aus den Wolken gegriffen, sondern läßt sich aus den Hinweisen, die die Forschung gibt, herleiten: deklamatorische Rhythmik, nahe am gregorianischen Gesang, zu diesem dezenten Bordun, der überdies noch den aktuellen meditativen Bedürfnissen entgegenkommt. oW.A. MOZART:
Serenade B-Dur K.361 „Gran Partita“. Mitglieder des Orchestra of the 18th Century, Frans Brüggen. Philips CD 422 338-2
Diese Serenade beginnt wie eine weitgespannte, große Sinfonie und endet wie eine Kirchenweihmusik. Auch zwischen dem Adagio und dem darauf folgenden Menuett liegen Welten. Vermutlich sind für die krassen Unterschiede gar nicht mal die drei später nachkomponierten Sätze verantwortlich, sondern ganz praktische Erwägungen: Die Elite-Bläser der Münchner Hofkapelle, für die Mozart die Serenade schrieb, brauchten virtuose Stücke, das Publikum brauchte Abwechslung, und Mozart brauchte eine Anerkennung , die ihm die Zukunft sicherte. Frans Brüggen und die Bläser (& Kontrabassist) aus dem Orchester des 18.Jahrhunderts haben diesen Blütenkranz äußerst sinnfällig eingespielt. oPHILIP GLASS:
1000 Airplanes on the Roof. Virgin VE 39/209 754
Das ist die Musik zu einem Science Fiction Drama von David Henry Hwang, über das ich sonst nichts weiß. Sie fängt effektvoll mit elektronisch unterstützter Popgestik an, aber spätestens, wenn Linda Ronstadts Vokalisen einschweben, merkt man, daß da ein seriöser Künstler am Werk war. Und je öfter das Titelthema in allen Instrumentalkombinationen durchdekliniert wird, desto mehr fühlt man sich um Substanzielleres betrogen, um nicht zu sagen: angeschmiert. Zuletzt behält man nur noch die ewig wiederholte, billige Modulation im Ohr. Muß ja nicht sein. oPAUL GIGER:
Chartres. Paul Giger, Violin Solo. ECM CD 1386
„Chartres“ (und damit ist die berühmte Kathedrale gemeint) ist nicht nur ein flink gefundener Plattentitel. Der Geiger Paul Giger, der 1983 seine Stelle als Konzertmeister eines schweizerischen Sinfonieorchesters aufgab, hat sich jahrelang mit der Geschichte und den Besonderheiten der gotischen Kathedrale befaßt, ist deren architektonischen Proportionen im Vergleich zu den Intervallen der Naturtonreihe nachgegangen und hat die einzelnen Abschnitte seiner Musik schließlich in verschiedenen Klangräumen der Kirche eingespielt. Musik, die sich aufs mystische Erleben beruft, macht mir gewöhnlich Schwierigkeiten. Mit Paul Gigers Geigenstücken aber habe ich keine Probleme. Ihnen allen liegt eine hörbare, musikalische Konzeption zugrunde, sie erheben einen und genügen einem handwerklichen Anspruch, und sie machen mich nicht dumm. Sie wirken nicht angestrengt und sind trotzdem auf eine intelligente Weise einfach und klangschön. oERIK SATIE:
Trois Gymnopedies etc., Anna Queffelec, Klavier. Virgin Classics CD VC 7 90754-2/259 404-231
Satie kommt offensichtlich gerade gut an. Weiß der Teufel, wie das zugeht. Der unangepaßte Cafehaus-Pianist, der mit selbstbewußtem Witz über die musikalischen Notierungstraditionen herzog, hat auch kompositorisch einige zeitgenössische Grenzen überschritten. Er hatte die Idee, Musik zu schaffen, die keine Aufmerksamkeit erregen sollte (war aber zu gut, um das wirklich zu erreichen). Die „Gnossiennes“ waren die ersten Stücke, in denen er die Taktstriche wegließ. Und die schlaffen Vorspiele, „Veritables preludes flasques“, sind für einen Hund geschrieben. Er hatte auch die Idee, ein Theaterstück für Hunde zu verfassen und wußte auch, wie das Bühnenbild aussehen mußte: „Der Vorhang hebt sich über einem riesigen Knochen.“ Anna Queffelec hat die Klavierstücke sehr anmutig und verhalten gespielt. Das Klavier ist, entsprechend der Konzertsituation, aus einiger Entfernung aufgenommen. So kommen die Satieschen Einfälle über einen leichten Hall in die Lautsprecher. Aber daran gewöhnt man sich. oBILL FRISELL:
Before we were born. Elektra / Asylum / Nonesuch / WEA 960 843-1
Bill Grisell spielt auf einer alten Gibson SG, mit deren gelockertem Hals er ein verlängertes Vibrato erzeugt, einen Schwebeklang, der die meisten seiner Stücke prägt. Oft ist da nicht viel mehr als diese träumerisch fortgesponnene Gitarrenlinie. Auch wenn er sie rüde mit Rock, Swing, Blue Grass und anderen Inserts durchmischt, wie in der langen Collage „Hard plains Drifter“, die er - wie das phrasenbeschnittene „Some Song and Dance“ - mit seiner eigenen Band einspielte, denke ich, daß den meisten Spaß dabei die Musiker gehabt haben müssen. Am besten gefallen mir die Stücke, in denen Arto Lindsay und Peter Scherer (Ambitious Lovers) dem Schöngeist Frisell die rauhen und kräftigen Gegenargumente liefern. oSTEVE REICH:
Electric Counterpoint, Pat Metheny, Gitarren; Different Trains, Kronos Quartet. Elektra / Asylum / Nonesuch / WEA 979 176-1
„Das Konzept für diese Komposition“, schreibt Steve Reich, „geht auf meine Kindheit zurück. Als ich gerade ein Jahr alt war, trennten sich meine Eltern. Meine Mutter zog nach Los Angeles, mein Vater blieb in New York. Weil sie beide für meine Aufsicht Sorge tragen wollten, fuhr ich, begleitet von meiner Gouvernante, zwischen 1939 und 1942 oft mit dem Zug zwischen New York und Los Angeles hin und her. Diese Fahrten waren damals aufregend und romantisch. Doch heute schaue ich zurück und mache mir bewußt, daß ich als Jude in andere Züge hätte einsteigen müssen, wenn ich zu dieser Zeit in Europa gewesen wäre. Dies im Hinterkopf, wollte ich eine Komposition in Angriff nehmen, die die ganze Situation möglichst genau reflektiert.“ Steve Reich nahm Gespräche mit Verwandten auf und mit Überlebenden des Holocaust, die er mit Sampler-Technik in Bruchstücken der Komposition einverleibte, ebenso wie amerikanische und europäische Zuggeräusche aus den 30er und 40er Jahren, die ab und zu über dem minimalistischen Streichquartett samt Zugpfiff erscheinen. Beeindruckend wie immer ist das präzise Spiel des Kronos Quartetts. Sonst aber läßt sich aus dem Stück kaum eine Reflexion gewinnen. Die Gesprächszitate versteht man meistens nicht, sie wirken nur als dumpfe Sampler -Repetitionen; und die ganze Zugnummer könnte schließlich auch in einer anderen Geschichte spielen. „Electric Counterpoint“ ist ein vibrierendes Mehrspur-Opus für etwa zehn Gitarren und zwei E-Bässe, dem eine elfte, zum Teil sehr virtuose Gitarre zugefügt wird. Pat Metheny hat das alles aufgenommen, und nun pulsiert es eben auf der B -Seite. o
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