Ablenkungsmanöver mit den „Soldaten“

■ Bernd Alois Zimmermanns Oper in Hannover

Nach einem Vierteljahrhundert spätenstens hat sich das Neue relativiert. Für die großen Kunstwerke kommt dann eine kritische Welle - vor allem dann, wenn die Urheber sich nicht mehr für ihre Produkte einsetzen können. Die allgemeine Regel gilt auch für Bernd Alois Zimmermanns Hauptwerk, die Oper Soldaten: bei der Uraufführung (1965 mit dem Dirigenten Michael Gielen in Köln) wirkte das Stück elektrisierend; frappierend für manchen jüngeren Komponisten die Verschiedenartigkeit der intonierten Musikfarben, die rücksichtslos instrumentalisierten Gesangspartien, das eherne Struktur-Prinzip (das mit dem Mittel der Zwölfton -Technik formal alles Heterogene zusammenzwingt). Rasch wurde die nach Jakob Michael Reinhold Lenzens Sturm- und Drang-Drama komponierte Oper mit Schönbergs Moses und Aron auf eine Stufe gestellt und - weit zutreffender - mit Alban Bergs Wozzeck verglichen (wobei Bergs Oper gewiß wegen des besseren und brisanteren Büchner-Textes, durch die unverbrauchte Frische der Dodekaphonie und die glückliche Hand des Komponisten den Vorrang behauptete). Keines der größeren westdeutschen Opernhäuser ließ sich die Chance entgehen; Götz Friedrich und Alfred Kirchner, Hans Neuenfels und Harry Kupfer konkurrierten mit ihren Interpretationsmodellen für das gealterte Sujet in der Hülle vielschichtiger Musik; Ken Russel besorgte die französische Erstaufführung in Lyon.

Nun hat Hannover nachgezogen. Der Opernintendant Hans-Peter Lehmann inszenierte Die Soldaten bereits vor fünfzehn Jahren in Nürnberg, kann also auf Erfahrung im Umgang mit dem problematischen Werk zurückblicken. Das Jubiläum zum dreihundertjährigen Bestehen der Hannoverschen Oper wurde nicht nur mit der Wiederaufführung des allerersten Stückes, Steffanis Enrico Leone, brillant und ironisch von Herbert Wernicke in Szene gesetzt, sondern nun auch durch ein Schlüsselwerk der Moderne abgerundet. Immerhin.

Die Oper des Kölner Komponisten Zimmermann, der 1970 freiwillig aus dem Leben schied, entstand Ende der fünfziger Jahre, wurde nach mancherlei Einwänden von Freunden und Experten umgearbeitet - und behielt dennoch torsohafte Züge: aus den sechzehn Szenen der beiden letzten Akte des Lenz -Dramas komponierte Zimmermann nur drei Nummern seines vierten Akts: Toccata, Ciacona, und NocturnoIII. Die narrative Ebene der literarischen Vorlage wurde gesprengt: knappe Bilder des Untergangs der Bürgerstochter Marie Wesener folgen der weitausladenden Exposition und den Durchführungsteilen, in denen die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener Handlungsstränge mit der Schichtung heterogener musikalischer Ebenen triumphierte.

Doch Regisseur Lehmann versuchte, das Rad zurückzudrehen und bieder die Tragödie der von Obrist Spannheim verführten, dann an Hauptmann Mary weitergereichten, auch vom Grafen de la Roche geliebten und schließlich auf dem Strich landenden Galanteriehändlerstochter Marie zu erzählen. Die Film -Einblendungen wurden weggekürzt, als wären sie störende Zutat und nicht Bestandtteil des Werks. Von Ekkehard Grübler ließ sich Lehmann eine historisch undefinierbare Kostümmischung anfertigen, die zwischen Biedermeier und Jahrhundertwende pendelt.

Ausgestattet mit Karabinern und Bajonetten bleiben die Soldaten eine ferngerückte Bedrohung: Aktualisierung, welche die Jubiläumsstimmung hätte beeinträchtigen können, war nicht beabsichtigt (als ob nicht beispielsweise in Bangkok durch die Vietnam-GIs eben das angerichtet wurde, was J.M.R. Lenz an den Soldaten im Lille des 18.Jahrhunderts geißelte). Die Farbgebung des immergleichen Bühnenblicks beschränkte sich auf Grau- und Pastelltöne, aus denen allerdings die roten Richterroben und das blutrote Kleid der intriganten Gräfin als grelle Tupfer, als Chiffren des Unrechts hervorstechen.

Von Anfang an und bis zum bitteren Ende hängt über der Szene eine überdimensionale Panzerkette: bewegt sich gelegentlich bedrohlich, kommt schließlich nieder, um das arme Geschöpf Marie zu zermalmen. Solche Symbolik ist so erdrückend platt, daß sie sich auf dem Theater verbietet. Aber auch sonst bricht die Soldaten-Aufbereitung in Hannover nicht aus den Klischees des auf Neutralisierung des Brisanten bedachten Stadttheaters aus. Schade drum. Denn zu den Folgen des mörderischen Geschäfts und zur soldatischen Männlichkeit ließe sich heute so manches sagen und zeigen. Die Monotonien der Zimmermannschen Musik würden sich nicht dagegen sperren.

Das Ablenkungsmanöver, das in Hannover mit der deutschen Paradeoper der sechziger Jahre veranstaltet wurde, verweist auf das zentrale Problem der Komponsition mit Schärfe. Zimmermann war von der formalen Modernität des Lenzschen Dramas fasziniert, in dem er „eine Vorwegnahme des Joyschen Stundentanzes der Simultanität“ sah - „nicht das Zeitstück, das Klassendrama, nicht der soziale Aspekt, auch nicht die Kritik an dem Soldatenstand (zeitlos vorgestern wie übermorgen) bildeten für mich den unmittelbaren Beziehungspunkt“. Dieser Ansatz verrät eine deutsche Verdrängungsleistung par excellence. Denn Zimmermann hatte selbst im nationalsozialistischen „Reichsarbeiterdienst“ gedient, am Polen-, Frankreich- und Rußlandfeldzug aktiv teilgenommen. Wäre es nicht ein Jahrzehnt nach Kriegsende, als der Komponist mit der Arbeit am Soldaten-Projekt begann, auch auf die Inhalte angekommen, auf die sozialen Aspekte, auf das Klassendrama, auf die konkrete Kritik am „Soldatenstand“? Die Bundesrepublik befand sich mitten in der Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung, die Wiedereinführung des Wehrdienstes und die Teilhabe an der atomaren Aufrüstung.

B.A. Zimmermann gehört zur Generation der Hitlerjungen und Kriegsteilnehmer (und das heißt: der Aktivisten des ungeheuerlichen Massenmordes), die sich nach 1945 auf die Probleme des „reinen Klangs“, auf die immanenten Strukturfragen des Komponierens zurückzogen: Solche Rationalität sollte jedwelche Ideologisierung der Musik verbauen, Werke und Urheber vor unerwünschter „Funktionalisierung“ bewahren. Er glaubte, daß den Kunstwerken immanent eine Widerstandskraft einzuschreiben wäre, die sich gegen chauvinistischen oder stalinistischen Mißbrauch sperrt. Dabei ignorierte der Meister den selbstverständlichen Gebrauch durch den Betrieb der konservativ restaurierten Kultur, die Inanspruchnahme für die mehr oder minder glänzend ausfallenden Ablenkungsmanöver des reuelosen und vergeßlichen deutschen Staatstheaters; er übersah die für den mitleren Bedarf der Kulturgesellschaft für notwendig erachteten Füllmenge, für die alles Mögliche und auch so manchens Sperrige herhalten muß.

Es wäre ja gut, wenn Zimmermanns zentrales Werk nicht so sehr Zeitkunst darstellte, also auf seine Weise typisches Produkt der Adenauer-Ära; aber es ist nun einmal, bis in die Faserstruktur, Parallelerscheingung von Spannbeton, Autobahnkruez, Resopal und Eternit: „Das ist also der geometrische Ort, die Keimzelle, aus der sich alle Phasen und Stationen des Geschehens, der Charaktere, das gesamte theatralische Phänomen entfaltet“ (Zimmermann). Und: „Ein Auftrag der Stadt Köln liegt der Komposition zugrunde.“ Um diese Grundlage zu verstehen, ist wohl ein Blick auf das zu werfen, was die Veränderung dieser Stadt in den fünfziger Jahren ausmacht: diese Art Wiederaufbau des Zertrümmerten, solches Planungsdenken, jene Reetablierung alter Geister hinter Nierentischen und niedriggehaltenen Fassaden.

Die Struktur des Textes von 1775 war eine Zuflucht: Verschanzung vor aller näherliegenden Wirklichkeit. Keine Inszenierung ist genötigt, sie auch noch zu bestätigen. Wenn Zimmermanns Soldaten die Klippen, die in der Rezeptionsgeschichte aller großen Werke drohen, überwinden soll, dann wird das wohl nur duch die Lotsentätigkeit von Regisseuren möglich sein, welche die bauartbedingten Schwächen des Stückes erkennen und mit ihnen ins Freie zu manövrieren verstehen.

Frieder Reininghaus