WOHNEN IM EIGENEN BAUCH

■ Geschichte aus der „Beruhigungs„-Zelle

Die Flure, gestreckte Schluchten, sind gefüllt mit dem Echo genagelter Schuhe. Wächter schlagen mit dem Schlüsselgehenk gegen die Waden. Klirrende Geräusche zur Sicherung der Identität. Die Anstalt ist ein verwitterter Bau. Frühes Mittelalter. Ludwig ist eben angekommen. Er verlangt, daß man ihn zum Direktor bringt. Er will protestieren gegen die Verschleppung in das vierte Gefängnis innerhalb weniger Monate. Die Wächter glauben wohl, er führe Selbstgespräche oder sei eine Art Gepäckstück, in dem plötzlich ein Wecker zu klingeln beginnt. Ludwig wird in einen düsteren Raum gesperrt. Ein Tisch, eine Bank. Luftschächte unter der gewölbten Decke. Dort lauert mit rot glimmendem Auge eine Videokamera. Einige Male schlägt Ludwig gegen die Tür. Aber sein Zorn ist bloß das Ornament der eigenen Ohnmacht. Gar nichts geschieht. Was sollte auch geschehen? Der Gefangene stützt den Kopf in die Hände. Die Tür platzt auf. Wächter stürzen herein, fallen auf Ludwig, werfen ihn zu Boden, schleifen ihn fort. Ein Knie trifft seine Rippen. Ein Knüppel beharrt im dumpfen Rhythmus auf seiner linken Schulter. Ludwig bleibt lautlos. Wie unbeteiligt hört er die sich gegenseitig befeuernden Zurufe. Übergeschnappte, kehlige Töne. Der Blick schrammt über das schmutzige Gelb der Steinplatten. In eines vielgliedrigen Tieres Mitte trampelt Ludwig in das neue Verließ.

Ein Käfig. Drei Schritt im Quadrat. Ludwig ist nackt. Die Arme aufwärts gereckt, reicht er mit den Fingerkuppen knapp an den Plafond. An der Schaumstoffmatratze im Eck kleben gekräuselte Haare. Eine fingerdicke Filzmatte gibt es auch. Stäbe begrenzen eine Seite des Raumes. Neonlicht hinter Panzerglas. Ludwig steckt in einem steinernen Kasten, der wiederum selbst in einem Steinkasten steckt. Ein Wächter erscheint vor den Stäben. Er wirft einen Slip aus Papier in den Käufg. Viel zu groß. Wie eine Wolke legt er sich um des mageren Mannes Mitte.

„Was ist passiert?“, will der Wächter wissen. Ludwig schweigt, packt sich auf die Matratze, zieht die Filzmatte über sich. Bald wird er gelernt haben, aus dem widerspenstigen Material die perfekte Röhre zu wickeln eine, die ihn gänzlich verbirgt.

Der Aufenthalt heißt „Beruhigungszelle“. Alle Stunde erkunden die Wächter, was der Deliquent treiben mag. Der wendet die Taktik der Käfer an, die, sind sie ertappt, die Beinchen unter den Panzer krümmen und reglos verharren.

Die Wächter wollen wissen, ob Ludwig noch lebt. Vom Käfer erhalten sie kein Signal. Die Beauftragten der Beruhigung schlagen gegen das Gitter, sie rufen und pfeifen. Sie rasseln um das Gemäuer, klopfen gegen die Wand. Im Stundenrhythmus flutet nachts das Licht. Womöglich hat Ludwig einen Schock erlitten? Oder das Gehör verloren? Beides ist denkbar. Die Wächter spähen angestrengt durch die Schießscharte. Der Gefangene atmet unsichtbar.

Der Arzt kommt am Morgen mit zwei stämmigen Sanitätern, die in Wahrheit weiß verkleidete Wächter sind.

„Wir tun dir nichts“, sagen die Weißkittel. Sie knien auf Ludwigs Armen, biegen ihn herum, verdrehen die Handgelenke. Der Arzt ordnet an, daß Ludwig den Käfig zu verlassen habe.

Aber die Fronten sind vertauscht. Ludwig liegt gut. Wo er ist, ist er unerreichbar. Angelangt auf dem Grund des Schreckens. Wie im Märchen von der Frau Holle. Man stürzt in den Brunnen und erwacht auf einer Blumenwiese. An der Oberfläche bleiben Zwangsarbeit und andere Zwänge. Ludwig ist ganz bei sich. Nichts gibt es, das ihm zu nehmen wäre. Das Essen läßt er in der Schießscharte stehn. Wo der Wahnsinn beginnt, ist objektiv nicht feststellbar. So ist es immer. Ludwig überlegt. Daß er nicht spricht, nicht ißt, nicht mehr weiter will, das spiegelt die Endgültigkeit seiner Lage. Er könnte sprechen - wenn er wollte. Ist aber nicht gerade dies die Verrücktheit, daß er nicht will? Und redet er sich nicht nur ein, um sich selbst über seinen Zustand zu täuschen, er wäre frei, anders zu entscheiden? Es ist wie es ist. Ludwig bleibt ein Käfer.

Er wohnt, wie Jesus im Herzen der Kommunionskinder, im eigenen, knurrenden Bauch. Am nächsten Tag sagt eine salbungsvolle Stimme, die mitsamt den Wächtern vor den Stäben steht, sie sei der Sozialarbeiter. Ludwig liegt mit geschlossenen Augen zur Wand. Jetzt wird der Filz von den Wächtern weggezogen. Er habe sich, so die Stimme, die von des Matratzenliegers Nacktheit prallt, keinen guten Einstand verschafft. Er wolle doch sicher „eine vernünftige Zelle“? Also möge er aufstehn. Ludwig ist nicht Lazarus. Er hat einen Schock erlitten und womöglich das Gehör verloren.

„Entzugserscheinungen“ sagt ein Wächter, „mit einer Spritze ist der schnell wieder oben.“ Ein anderer Experte ist für kaltes Wasser. Die Stimme schweigt. Selten steigt Ludwig aus der Röhre. Erst nachts wagt er sich hervor, wandert drei Schritte und drei Schritte hin und her. Röhre und Raum.

Nachts kichern die Wächter. Vor ihrem Wahnsinn fürchtet sich Ludwig. Sie haben Bier getrunken, man kann es riechen, und Leberwurstbrote gegessen. Die Wächter hätten gern eine Reaktion. Sie werfen einen Stuhl gegen das Gitter. Dann segeln angebissene Brotkanten durch die Schießscharte, treffen die Röhre. Ludwig liegt still. Jemand flüstert? „Vielleicht lebt der gar nicht mehr...?“ Jetzt bewegen sie sich leise. Geachtet werden die Toten. Das ist ein Dilemma.

Sechs Tage hatte Ludwig kein Wasser, keine Zahnbürste. Bakterien zersetzen den Schweiß auf der Haut. Er dünstet in Fett und Filz. „Wie ein Waldesel“, sagen die Wächter. Ludwig denkt an Boys und lächelt innendrin. Tee steht abends in der Schießscharte. Ein brauner Plastiknapf mit breit ausgebogenem Rand. Es empfiehlt sich, zu schlappern. Auf dem pappig-süßen Getränk schwimmt innerhalb weniger Minuten eine Schicht feinster Fusseln. Der Filz befindet sich im Zustand permanenter Auflösung. Wolken grauer Fasern schlieren über den Boden, wenn Ludwig pustet. Meist ist es dunkel, und Ludwigs Atem stößt gegen die Welt. Er kratzt den Kopf. Unter den Nägeln klebt Epidermis und Talg und Dreck. Der Papierslip ist verschlissen. Manchmal nachts eine traumlose Erektion. Lust und Ekel. Selten wird die Kloake gespült, ein Loch in einem gemauerten Sockel. Seit Ludwig, der nicht mehr essen mag, die sonntäglichen Klöße hineinstieß, verläuft das Wasser nur zögernd. In der Nacht wird der Käfig überflutet. Jemand steigt auf die Spülung, die nur von außen betägtigt werden kann, und geht nicht ab davon. Die Wächter, der stündlichen Kontrollen müde, wollen eine Entscheidung erzwingen. Über den Rand der steinernen Schüssel schwappt die Brühe mit vergammelten Leberstücken und Salathäcksel. Der Schaumstoff saugt gierig das Wasser auf. Ludwig tastet nach einem trockenen Platz, findet keinen. Bis zum Morgen liegt er in der Nässe. Dann öffnen die Wächter die Tür, stoßen ihn mit dem Fuß. Ludwig hat keinen Anteil an dem Geschehen. So wird er gefesselt und in die Irrenanstalt gebracht.

N.J., Amberg