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Tiefflug über Anatolien

Der Überlandbus von Ankara bis Konya braucht rund sechs Stunden. Für die Strecke empfiehlt sich, ausreichende Lektüre mitzunehmen, denn der Blick aus dem Busfenster bietet wenig Abwechselung. Eine versteppte Hochebene, verkarste Hügel, seit Jahrhunderten abgeholzt und nie wieder aufgeforstet. Wenn man Glück hat, taucht am Rande der ausgetrockneten Salzseen, die die Straße durchquert, eine kleine Kamelkarawane auf - Überbleibsel einer Zeit, die daran erinnert, daß Konya einmal am Schnittpunkt jahrtausende alter Karawanenwege von Ost nach West lag.

Wenn es nach dem Willen hochrangiger Nato-Planer geht, werden diese letzten Relikte einer antiken Kultur in wenigen Jahren den ohrenbetäubenden Einbruch der Moderne erleben. Just an der alten Karawanenstrecke plant die Nato, einen Truppenübungsplatz einzurichten, der in seinen schieren Ausmaßen alle europäischen Dimensionen weit übertreffen soll. Ein Areal annähernd von der größe des Königreichs Belgien ('Spiegel‘) soll an der Strecke Ankara-Konya abgezäunt und unter anderem für Tiefstflüge zur Verfügung gestellt werden.

Doch so menschenleer, wie es auf den ersten Blick scheint, ist die anatolische Steppe keineswegs. Abseits der großen Straße, den Blicken der Durchreisenden weitgehend verborgen, liegen etliche Dörfer, die durch die Pläne der Nato-Militärs in ihrer Existenz bedroht sind. Die Dörfer müßten von der Landkarte verschwinden, die Menschen Hunderte von Kilometern entfernt neu angesiedelt werden. Unter welchen Bedingungen dies geschehen soll, weiß gegenwärtig noch niemand.

Obwohl das Thema in der türkischen Öffentlichkeit bislang noch kaum eine Rolle spielt, ist für die Militärs längst nicht alles gelaufen. Das aktuelle Desinteresse kann sich sehr schnell ändern. Nach bekanntwerden der Pläne vor rund zwei Jahren hatten die Sprecher der betroffenen Bevölkerung bereits heftig protestiert. Seitdem liegt die weitere Entwicklung hinter einem Schleier militärischer Geheimhaltung.

Kein Geheimnis dagegen ist die Haltung der türkischen Regierung. Sie hat ein großes Interesse an dem Projekt, sowohl aus Devisengründen als auch um das Gewicht der Türkei innerhalb der Nato zu stärken. Bekannt ist auch, das die Bundesregierung die Türkei anstelle von Kanada für den Truppenübungsplatz favorisiert. Die Begründung der Hardthöhe - das sei einfach nicht so weit weg - ist dabei nur die halbe Wahrheit. Innerhalb der Nato-internen Ausgleichs- und Unterstützungszahlungen zählt die BRD zu den Protektoren der Türkei. Die Hunderte von Millionen Mark, die in den Ausbau und die Infrastruktur eines solchen Nato-Übungsgebietes investiert werden müßten, könnte die Bundeswehr im Falle der Türkei vorteilhafter abrechnen als im Verhältnis zu Kanada. Bis Ende dieses Jahres soll nun im Bündnis eine endgültige Entscheidung gefällt werden.

Doch so einfach dürfte das in der Türkei nicht werden. Seit Tschernobyl und den Giftmüllaffären des letzten Jahres ist die türkische Bevölkerung gegenüber Projekten sensibilisiert, mit denen ihnen der Dreck und das Risiko des militärisch-industriellen Komplexes der Industrienationen aufgedrückt werden soll. Für die angeschlagene Regierung Özal wird es nicht einfach, das Projekt der Bevölkerung als Fortschritt zu verkaufen.

Jürgen Gottschlich

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