Keine Angst vorm Super-GAU

■ „Die Erschaffung des Repräsentanten für Planet 8“ - eine Oper von Doris Lessing und Philip Glass in Kiel

In Kiel geht das Land unter Wasser - und wenn der Morgen grau ist, geschieht es fast unmerklich. Lange dauert die Fahrt aus dem sonnigen Süden, und so stellen sich die literarischen Bilder von Doris Lessing beim unkonzentrierten Blick aus dem Zugfenster ein. Sah nicht Professor Watkins, der in den Anweisungen für einen Abstieg zur Hölle von seinem Ausbruch ins Land Fantasy berichtet, „Lichtgestalten“ aus den Wassern steigen? Ich fange schon an, auf den Marsch -Wiesen nach so was Ausschau zu halten.

Aber dann kommt die Ernüchterung (und erst einmal Kaffee zur Pressekonferenz mit Doris Lessing, dem Komponisten Philip Glass und dem Regisseur Harry Silverstein). Die siebzigjährige Autorin, die seit Jahren einen gängigen Roman nach dem anderen auf den Markt wirft, beginnt munter über die Anfänge der Zusammenarbeit mit dem ihr bis vor kurzem noch unbekannten Musiker zu plaudern. „Ich hatte keine Ahnung von seiner Musik. Philip schickte mir ein Band seiner Oper Satyagraha, die ich erst sehr schwierig fand, dann aber ganz einfach, da ich auf ganz andere Weise zu hören lernte. Ich sagte mir, daß ich meine europäischen Ohren ausschalten müsse. Immerhin kannte ich ja eine Menge indischer und afrikanischer Musik aus meiner Jugend.“ (Doris Lessing wurde 1919 als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers in Kermanschah geboren und wuchs in Rhodesien auf). „Phil kam zu mir nach London und sagte, daß wir zusammen eine Oper machen sollten. Wir diskutierten lange und kamen zu dem Ergebnis, daß dieses Thema am geeignetsten wäre. Denn in dieser Geschichte gibt es nicht viel Handlung.“

Tatsächlich ist das Libretto für Die Erschaffung des Repräsentanten für Planet 8 so einfach wie ergreifend (und aus ihrem Canopus-Zyklus abgezweigt): Die Menschen des „Planeten 8“, die unter dem Schutz des Sternes Canopus stehen, leben in Glück und Wohlstand; doch aus unerklärlichen Gründen bricht schnell und unerbittlich eine Eiszeit an, vernichtet Flora und Fauna, beraubt die Menschen ihrer Existenzgrundlagen. Sie fügen sich nach anfänglichem Widerstreben rasch in ihr Schicksal, gewinnen die Gewißheit, daß „ihr Geist und ihre Ideen imer weiterexistieren werden“. So sterben sie, gemeinsam und friedlich und verschmelzen im Tod zum kollektiven Repräsentanten für Planet 8, der weit in den Raum und die Zeit hinausleuchtet.

Das ist wahrlich eine frohe Botschaft in heutiger Zeit, in der die Angst dem nuklearen Inferno oder einer finalen ökologischen Katastrophe umgeht. Doris Lessing vermag sich diese ebenso bildhaft vorzustellen wie die Details, die sie beschreibt. „Es ist eine Tatsache“, erläuterte sie ihr literarisches Erfolgskonzept, „daß es um so besser wird, je mehr man sich eine Sache vorstellen kann, über die man schreibt; daß man weiß, was die Sonne tut oder wie es in einem Raum aussieht, den man sich vorstellt, was die Personen denken oder welche Kleidung sie tragen - all das. Wenn man für die Bühne schreibt, wozu ja auch die Oper gehört, muß man sehen, was sich dort abspielen soll.“

Philip Glass ist der kongeniale Autor für eine auf solcher Grundlage konstituierte Kunst. Er ist in die Jahre gekommen, der einstige Provokateur der europäischen Avantgarde. Alle Fragen prallen an ihm ab. Er monologisiert über die Gruppe vornehmlich amerikanischer Komponisten, als deren prominentesten Repräsentanten er sich begreift und die vor 25 Jahren die große Wende in die zeitgenössische Musik brachte. „Wir bedeuteten einen klaren Gegensatz zu Stockhausen, Berio, Boulez und Xenakis. Auf diese Komponistengeneration haben wir antagonistisch reagiert. Das Ergebnis war ein erheblich reduzierter musikalischer Stil. Wir waren der Überzeugung, daß weniger mehr ist. Ich war der einzige, der sich auf das Theater einließ, habe inzwischen sieben Opern komponiert, Filmmusik und Ballette. So wurde ich, und das ist der Hauptpunkt, ein wirklicher Theaterkomponist.“ Er sitzt da wie der träge gewordene Inhaber einer Pizzeria-Kette, der auf seine Konkurrenten spuckt, die geschmackvollere Produkte auf den Markt bringen. Aber er kann eben nur das eine: diese Art musikalisches Fast Food, die unverdrossen auch in europäische Opernhäuser transportiert wird. Als wären die innerstädtischen Fußgängerzonen nicht schon hinreichend mit Frittenbuden und Schnellküchen versorgt.

Und daneben die ehrbare Tante, an der die Entwicklungen der neueren Literatur vorübergingen - bis auf die milderen Science-fiction-Formen und die Botschaften einer neuen alten Esoterik. „The audience has liked this piece very much“, berichtet sie von der Uraufführung 1988 in Houston. Dort war das Stück erstmals gezeigt worden - in unmittelbarer Nachbarschaft des texanischen Weltraumzentrums. „Die Leute standen vor Begeisterung auf den Stühlen, aber die Hälfte der Kritiker verschmähte es. In London wurde das Stück dann im vergangenen November von der Kritik insgesamt verrissen. Das war schon eine interessante Erfahrung: Am Abend erlebt man ein irre begeistertes, vor allem junges Publikum - und am nächsten Morgen liest man die Kritiken und fragt sich, ob diese Leute überhaupt in der Vorstellung waren.“ Sie versteht es, Ressentiments zu schüren: „Es besteht eine tiefe Kluft zwischen dem Publikum und der Kritik. Die Kritiker sind weit hiter der Entwicklung zurück.“

Das avantgardistische Duo Lessing/Glass wird von Harry Silverstein, Regieassistent in Houston und Chicago, zum heißen Trio ergänzt. Ihm wurde nicht nur die Verantwortung für die reibungslose Bebilderung des Spektakels in Kiel übertragen, sondern auch die Aufgabe, das Unternehmen theoretisch zu überwölben. Er bescheinigt dieser Oper, eine „philosophische Lösung“ zu präsentieren - sie habe viele Leute dazu gebracht, über den Tod nachzudenken. „Und in dieser Musik, steckt die Energie eines Baumes. Von dem man denkt: es ist nur ein Stück Holz; aber dann bemerkt man doch, welche Energie drinsteckt.“ Gegenüber den Produzenten von Dallas und Denver-Clan betont das Trio den subventionswürdigen Kunstcharakter seiner Arbeit; gegenüber der europäischen Avantgarde wird die Beliebtheit beim Publikum und der kommerzielle Erfolg ins Feld geführt. (Die sozialdemokratische Regierung in Kiel muß von allen guten Geistern verlassen sein, daß sie dieser Inszenierung noch eine Sondersubvention von „weit mehr als einer Viertelmillion Mark“ zukommen ließ, wie sich der zuständige Herr vom Ministerium ausdrückte.)

Mit kalten Ohren sah ich also in Kiel ein Stück, das vom Anbruch der großen Kälte handelt, welche über die Menschen kommt, und das doch uns Heutige betulich wärmt mit dem Gedanken, daß es nach dem irdischen Jammertal ein lichtes Jenseits und ewiges Leben gäbe. Unverdrossen untermalen die Arpeggien in strahlendem Dur diese Botschaft - unablässige Wiederholungen und geringfügige Varianten des schönen Scheins in der Musik, dem optimistische Trompetensignale aufgesetzt werden: so, als gelte es, einen stalinistischen Parteitag oder das Amtsjubiläum von General Stroessner zu umrahmen.

Die Ausstattung der „Erschaffung des Repräsentanten“ besorgten in Kiel Eiko Ishioka und vor allem Minoru Terada Domberger, der bereits die japanische und die deutsche Hair-Produktion und Jesus Christ Superstar bebildert hat. Diesmal beglückte er mit Eisbergen aus Styropor und Eskimo-Mobiliar, das aber auch von altägyptischen Abbildungen inspiriert gewesen sein könnte. Auf Stil oder gar Form kommt es nicht an. Das Unternehmen Planet 8 präsentiert absichtsvoll ein Gemisch der unterschiedlichen Sphären, um den Anspruch von „Weltmusik“ und „Weltkunst“ zu Markte zu tragen.

Darin ist es ein Zeitzeichen der Postmoderne: beliebig im Detail und notorisch positiv gestimmt in der aufdringlichen Tendenz. Diese Oper ist programmatisch und anti -aufklärerisch und gegen die europäische Moderne gerichtet, ressentimentgeladen gegen intellektuelle Anstrengung und vor allem gegen den politischen Willen, den in der Lessing/Glass -Oper fraglos hingenommenen GAU zu verhindern.

Auch die Frage des Dr.Goebbels: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ wurde mit stehenden Ovationen beantwortet. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Beschönigung und Verklärung des jämmerlichen Verreckens, die Frau Lessing und Herr Glass und der smarte Herr Silverstein vorführen, zu beklatschen. Die Vorstellung auf die von dieser Oper propagierte Weise „Repräsentant“ zu werden, sollte sich die Menscheit aus den Köpfen schlagen, Es sind keineswegs „Lichtgestalten“, die uns solche „Kunst“ bescheren, sondern die Spatzen der Ära Reagan/Thatcher, die den Zynismus ihrer Herren von den Dächern pfeifen. Gepfiffen haben.

Frieder Reininghaus