Der Zug ist abgefahren

■ „Wallers letzter Gang“ von Christian Wagner

Nach vorne geht hier gar nichts mehr. Der Bahndamm im Allgäuischen ist mit Gestrüpp zugewachsen, die Schwellen sind längst abmontiert. Wir sind hinter der Endstation diese Bahnlinie existiert nicht mehr. Vielleicht gibt es jetzt statt dessen eine Buslinie. Wallers letzter Gang bekam den bayerischen Filmpreis und den Kritikerpreis auf der Berlinale. Mit Christian Wagner, einem cineastischen Autodidakten aus Immendorf/Allgäu, wurde ein Talent entdeckt und gleich belohnt: dafür, daß es ihm gelingt, das neue Ökologiebewußtsein mit ansatzweise kritischer Geschichtsaufarbeitung zu verbinden.

Christian Wagner filmt gegen die Zeit: Lang - immer auf dem Bahndamm entlang - ziehen sich seine Einstellungen, schleppend ist Wallers Gang, sein Gesicht von 50 Jahren Arbeit an der frischen Luft gegerbt, und Reden ist schon gar nicht seine Sache. Waller lebt in seiner eigenen Welt, der Welt aus Gleisanlagen und Weichenhäuschen, und während er läuft, geht sein Blick zurück in die Vergangenheit.

Schwarzweiß sind die Rückblenden auf ein karges Leben zwischen den Schienen, die ein Ausbrechen nicht zuließen: Jugend im Dritten Reich, die große Liebe in der Nachkriegszeit - danach kam nicht mehr viel neben den Gleisen. Waller ging seinen Weg, isolierte sich, wurde zum Kauz. Die Rückblenden von der Bahnlinie in die Vergangenheit sind technisch perfekt, die Sprünge zwischen jetzt und damals fallen kaum auf. Doch Wallers Lebensgeschichte liest sich wie eine Mischung aus hundert schon gesehenen Biographien dieser Zeit. Sie wird lakonisch erzählt im Rhythmus der Schwellen, aber sie ist dennoch symbolgeladen, denn Waller ist nicht einfach ein Streckengeher, sondern steht für eine Welt, die verschwindet.

Waller selbst hat etwas gegen das Fotografieren, weil ein Foto die Wirklichkeit nicht ersetzen könne. Wagner macht das genaue Gegenteil: Bedeutungsschwer setzt er die Welt Wallers und der Faller-Häuschen gegen den grausamen Fortschritt, der die Idylle zerstört. Schon jetzt hatte Wagner Schwierigkeiten, seine Drehorte zu finden und auch zu filmen, bevor sie verschwunden waren: wegrationalisiert wie Waller.

Aber war Waller wirklich glücklich mit seinem Eremitendasein? Am Ende entschwindet er im Nebel, mit ihm versinkt eine Welt, die der Film in Bildern festhält, aber natürlich nicht retten kann. Muß er auch nicht, aber er muß sich schon die Frage gefallen lassen, ob er mit seiner konventionellen kunsthandwerklichen Art nicht ebenso wenig zu retten ist wie Waller eben auch.

Lutz Ehrlich

Christian Wagner: Wallers letzter Gang, mit Rolf Illig, Sibylle Canonica, Herbert Knaup. BRD 1988, 100 Min.