Chinas neue Studentenbewegung ist stärker als 1986

Seit dem Tode Hu Yaobangs macht sich die angestaute Empörung der Studenten Luft / Forderungskatalog für Freiheit und bessere Bedingungen für die Intelligenz / Seit mehreren Tagen greifen die Aktionen auch auf andere Städte über / Zum ersten Mal ist die Bewegung der Studenten organisiert  ■  Aus Peking Th.Reichenbach

Seit dem Tod des ehemaligen Generalsekretärs der chinesischen KP, Hu Yaobang (73), gehen die Pekinger StudentInnen wieder auf die Straße, um ihrer lang aufgestauten Empörung Luft zu machen. Ursprünglich lagen Protestaktionen für den 70.Jahrestag der 4.-Mai-Bewegung in der Luft. Die Demonstrationen und Streiks der Pekinger Studenten gegen eine verhaßte Regierung, für Demokratie und Freiheit, standen am 4.Mai 1919 am Anfang der „Neudemokratischen Revolution“.

Siebzig Jahre danach wollten Pekings Studenten an diese Tradition wieder anknüpfen. Die Gedenkfeierlichkeiten für Hu Yaobang gerieten unterdessen zum Auslöser für eine Studentenbewegung, die die Protestwelle von 1986 an Qualität und Brisanz noch übertrifft: Hu Yaobangs Tod erinnerte an die uneingelösten Reformen.

Unter der chinesischen Intelligenz genoß Hu hohes Ansehen, weil er sich entschlossen für eine weitergehende Reformpolitik stark gemacht hatte und sich als einer der wenigen in der Führungsriege der KP für die Intellektuellen einsetzte. Besonders sein Engagement für die Rehabilitierung der Opfer der Kulturrevolution brachte ihm Sympathien ein. Da er während der Studentenproteste im Jahre 1986 mangelnde Entschlossenheit im Kampf gegen die „bourgeoise Liberalisierung“ gezeigt habe, wurde er schließlich im Januar 1987 entlassen.

Die verfilzte und korrupte Regierungspolitik findet bei den Intellektuellen kaum noch Unterstützung. Die lange angekündigten politischen Reformen - Trennung von Partei und Staat, Abbau und Vereinfachung der Bürokratie und des Parteiapparates - sind im Sande verlaufen und am Widerstand der auf ihren Privilegien beharrenden Kader gescheitert. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise verordnete die Regierung jüngst, den Gürtel enger zu schnallen; Einheit und Geschlossenheit wurden gefordert, während sich die gesellschaftlichen Widersprüche immer weiter verschärfen.

Die Partei läßt der Opposition nicht den geringsten Spielraum. Petitionen zur Freilassung politischer Gefangener oder Appelle zur Einforderung der Menschenrechte werden sofort kriminalisiert. An eine gesellschaftliche Debatte über Perestroika ist nicht zu denken. Die Medien werden vollständig von der KP kontrolliert; ohne deren Beteiligung darf sich im politischen Bereich nichts bewegen.

Die Intelligenz ist noch immer das Stiefkind der Nation, das Bildungswesen in völlig desolatem Zustand, Berufsperspektiven und Gehälter sind gering. Die Forderungen der Studenten zielen auf politische Demokratisierung, die Öffnung der Gesellschaft, auf Weiterentwicklung statt Stillstand. Im Vergleich zu 1986 sind die Proteste in den Forderungen präziser, in der Stoßrichtung geeinter - und vor allem: Zum ersten Mal hat sich die Bewegung organisiert.

An den Universitäten werden unabhängige Studentenvertretungen gewählt, die bisherigen von der Partei eingesetzten Ausschüsse nicht mehr anerkannt. Die Aktionen werden nicht mehr anonym vorbereitet, sondern unter Veröffentlichung der Namen der Kontaktpersonen, die damit ein hohes Risiko eingehen.

Zwar rechnet niemand mit einer schnellen Durchsetzung der Forderungen, aber China ist auf dem Weg, eine geeinte Opposition mit eigenen Organisationen herauszubilden, während die Partei Stück für Stück die Kontrolle über alle gesellschaftlichen Bereiche verliert.

Chronik

15.4., abends: Die Nachricht vom Tod Hu Yaobangs verbreitet sich.

16.4.: An den Unis erscheinen die ersten Wandzeitungen zu Hu Yaobangs politischem Wirken. Gedenkfeiern werden organisiert.

17.4.: Erste Studentendemonstration spät am Abend. 3.000 Studenten halten auf dem Tiananmen-Platz bis in den Morgen aus. Wandzeitungen politisieren sich sehr schnell; wichtigste Forderung: Demokratie.

18.4.: Friedlicher Sitzprotest vor der „Halle des Volkes“ am Tiananmen-Platz, am Nachmittag treffen Demonstrationszüge von über zehn Hochschulen Pekings ein, am frühen Abend befinden sich mehrere 10.000 Menschen auf dem Platz.

Abends werden die von allen Studenten gemeinsam getragenen „Sieben-Punkte-Forderungen“ an einen Regierungsvertreter übergeben. Wandzeitungen rufen zu Massendemonstrationen für die nächsten Tage auf. An den Unis werden öffentlich Sprecherräte gebildet.

19.4.: Weiter Massenversammlung auf dem Tiananmen-Platz. In den Medien werden die Studenten diffamiert und mit Strafen bedroht. Nach Mitternacht kesseln Polizeieinheiten den Teil der Demonstranten ein, die sich am Sitzprotest vor dem Regierungssitz beteiligen. Unprovoziert verletzt die Polizei in einem brutalen Knüppel- und Hundeeinsatz mehrere Dutzend Demonstranten und einen ausländischen Journalisten. Medien sprechen vom „Druck der Straße“ und erklären, Studenten hätten die Polizisten angegriffen.

20.4.: Die Wandzeitungen protestieren gegen die Gewalt durch die Polizei und lösen eine neue Welle der Empörung aus. An der Peking-Uni wird der Streik ausgerufen. Vormittags sollen 200 Studenten vor dem Regierungssitz verhaftet worden sein; dies wird von der Regierung aber nicht bestätigt.

Nachmittags Demo der Studenten der Peking-Uni, an der Technischen Universität werden die Studenten auf dem Campus eingesperrt. Größere Demonstrationen gehen in Regenfluten unter, auf dem Tiananmen-Platz sind höchstens noch 2.000 Leute. Heftige Angriffe gegen die Studenten durch die Medien.

Beschluß eines gemeinsamen Demonstrationszuges aller Hochschulen zu den offiziellen Trauerfeiern am 22.4..

Seit dem 18.4. auch in anderen Städten wie Tianjin und Shanghai Aktionen der Studenten.

Der Forderungskatalog

1.: Neubewertung der Rolle Hu Yaobangs für den Reformprozeß.

2.: Rehabilitierung der Intellektuellen, die in den beiden Kampagnen „Gegen geistige Verschmutzung“ und „Gegen die bourgeoise Liberalisierung“ verurteilt worden sind.

3.: Pressefreiheit.

4.: Einkünfte aller Führungskader offenlegen, gegen Korruption und Amtsmißbrauch.

5.: Mehr Geld für das Erziehungswesen. Stellung der Intellektuellen verbessern.

6.: Aufhebung der restriktiven „zehn Paragraphen gegen Demonstrationen“.

7.: Wahrheitsgemäße Berichterstattung über die Proteste in den Medien.