„Tell von Auschwitz“ ist weg

Trotz Verurteilung zu lebenslanger Haft war Auschwitz-Mörder Weise auf freiem Fuß / Nach Ablehnung seiner Revision in Karlsruhe tauchte er unter  ■  Von Bettina Markmeyer

Düsseldorf (taz) - Von dem zu lebenslanger Haft verurteilten KZ-Mörder Gottfried Weise aus Solingen fehlt noch immer jede Spur. Weise war am vergangenen Donnerstag untergetaucht, nachdem ihm per Post das rechtskräftige Urteil vom Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe zugestellt worden war.

Der ehemalige KZ-Aufseher kam mit seiner Flucht der Wuppertaler Staatsanwaltschaft um Stunden zuvor. Diese hatte erst am Donnerstag nachmittag von dem Urteil des BGH erfahren und unverzüglich einen Haftbefehl ausstellen lassen. Die Polizei fand in Weises Haus nur noch dessen Schwiegertochter vor.

Obwohl Weise eine hohe Haftstrafe wegen Mordes zu erwarten hatte, befand er sich schon während des 15monatigen Prozesses gegen ihn auf freiem Fuß. Der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf hatte ihm am 5. Dezember 1985 gegen eine Kaution von 300.000 Mark, Meldeauflagen und den Entzug des Reisepasses Haftverschonung gewährt. Weise befand sich damals in Untersuchungshaft.

Nach Auskunft des BGH-Sprechers Zülch wurde die Entscheidung am vergangenen Mittwoch gleichzeitig an die Kölner Zentralstelle zur Ermittlung von NS-Verbrechen, den Verteidiger Weises und den Veruteilten selbst losgeschickt. Dieser Darstellung widersprach gestern ein Sprecher der Kölner NS-Zentralstelle. Erst durch ein zufälliges Telefonat habe man dort am letzten Freitag von dem rechtskräftigen Urteil gegen Fortsetzung auf Seite 2

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Weise erfahren. Daraufhin habe man sofort die Wuppertaler Staatsanwaltschaft, die für die Vollstreckung des Urteils zuständig sei unterrichtet. Inzwischen war Weise aber schon verschwunden. Zum Vorgehen des BGH „spare ich mir jeden Kommentar“, erboste sich gestern der Sprecher der Wuppertaler Staatsanwaltschaft Rosenbaum. Obwohl die BGH -Richter wußten, daß sich Weise auf freiem Fuß befand, hätten sie den Fall Weise behandelt wie „irgendeinen Kaninchen- oder Eierdieb.“

BGH-Sprecher Jülch versuchte hingegen, dem Oberlandesgericht Düsseldorf die Verantwortung für Weises Flucht zuzuschieben. Fliehen habe Weise nur deshalb können, weil er frei war.

Am 28.Januar dieses jahres wurde er vom Wuppertaler Schwurgericht wegen der Ermordung von fünf Häftlingen in Auschwitz zu lebenslanger Haft verurteilt. Auf die Be

schwerde des NS-Verbrechers setzte jedoch das OLG den Haftbefehl der Wuppertaler Staatsanwaltschaft wiederum bis zur endgültigen Entscheidung des BGH, vor dem Weise in Revision gegangen war, aus. Aus formalen Gründen hob der Bundesgerichtshof das Wuppertaler Urteil in zwei Fällen auf, bestätigte aber insgesamt die lebenslange Freiheitsstrafe gegen den 68jährigen, die damit rechtskräftig wurde.

Gottfried Weise, der als Aufseher im Effektenlager („Kanada“) in Auschwitz eingesetzt war, galt als der „Tell von Auschwitz“. Er machte sich einen Spaß daraus, Häftlingen Blechdosen auf den Kopf zu setzen und diese herunterzuschießen. Anschließend erschoß er seine Opfer. Das Wuppertaler Gericht befand ihn unter anderem für schuldig, zwei Kinder auf diese Weise umgebracht zu haben. Der Sprecher des nordrheinwestfälischen Justizministers Krumsiek, Wendorff, bezeichnete die Begünstigung von Weises Flucht durch Justizbehörden gestern als „einen unglaublichen Vorgang“. Mit Sicherheit handele es sich um

„eine Panne“. Frau Weise, die inzwischen mit ihrem Sohn nach Solingen zurückgekehrt ist, sagte indessen, ihr Mann befinde sich „irgendwo zwischen Solingen und Karlsruhe“, um über die Sache nachzudenken.