: Der Ostwind trug dunkle Wolken heran
■ Die 'Moskau News‘ berichtet über die Spätfolgen der Reaktorkatastrophe in den Dörfern des Bezirks Naroditschi / Über die Hälfte der Kinder haben Schilddrüsenerkrankungen
Niemand dachte ernsthaft daran, nach der Katastrophe von Tschernobyl auch die Dörfer im Bezirk Naroditschi zu evakuieren. Sie liegen im Gebiet Schitomir, immerhin zwischen 50 bis 90 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt. Was sollte denn auf so eine beträchtliche Entfernung noch geschehen können - so glaubte man bei den zuständigen Behörden.
Aber es geschah dann doch: Der Ostwind trug von Tschernobyl dunkle Wolken heran, die radioaktive Teilchen herabregnen ließen. Als ich im vergangenen Herbst mit dem Geigerzähler den Hof der Kolschosbäuerin Pawlina Strutzkaja abtastete, fand ich nicht ein einziges Fleckchen, an dem die Gammastrahlung weniger als 0,2 Milliröntgen je Stunde betragen hatte. Um zu verstehen, wie gefährlich hoch hier die Werte sind: In Kiew mißt man 0,014 Milliröntgen.
Anatoli Melnik, der Erste Sekretär des Bezirkskomitees der KPdSU von Naroditschi, der gezwungenermaßen zum Experten in „angewandter Strahlenforschung“ wurde, weiß aber noch alarmierendere Einzelheiten aus diesem Gebiet zu berichten. Für ihn ist das Schlimmste, daß die in den Nahrungsmitteln noch immer enthaltenen Radionukleide sich zunehmend mehr in den menschlichen Organismen festsetzen. Natürlich, man bemüht sich, diesen Gefahren entgegenzutreten. So werden die am stärksten „verstrahlten“ Dörfer mit Molkerei- und Fleischerzeugnissen versorgt, die aus weit entfernten Regionen kommen. Doch damit ist die Gefahr nicht beseitigt: Da es diese „reinen“ Nahrungsmittel offenbar nicht in einer ausreichenden Menge gibt, helfen sich die Leute trotz eindringlicher Warnungen auf ihre Weise - sie trinken die Milch von hiesigen Kühen und essen Obst und Gemüse aus ihren Gärten, ohne sich um Strahlenwerte zu kümmern. Mit hörbarer Verbitterung stellt Anatoli Melnik die Frage: „Wer hat sich denn diese Einteilung des Bezirks in „saubere“ und „verseuchte“ Dörfer ausgedacht? Das kann nur ein Bürokrat getan haben, dessen Schreibtisch sehr weit von dieser Gegend steht. Denn der Wind treibt den radioaktiven Staub von Ort zu Ort, der Regen schwemmt ihn in die Bäche und in weidende Herden, aber auch Kraftfahrzeuge schleppen ihn weiter.“ (...)
Überzeugend ist ein Besuch der Viehzuchtkolchose Petrowski. Dort sah ich zum Beispiel ein Ferkel mit einem Auge, das eher an einen Frosch erinnerte. Ein erschütterndes Bild: Statt eines Auges hatte dieses Lebewesen dicke Gewebebildungen ohne Hornhaut und ohne Pupille. Pjotr Kudin, der Tierarzt, klärte mich auf: „Dies ist eine von vielen Mißgeburten, mit denen wir es hier immer wieder zu tun haben. Meist sterben sie schon kurze Zeit nach der Geburt. Dieses Tier aber blieb am Leben.“ Die Kolchose ist nicht besonders groß: 350 Kühe und 87 Schweine werden hier versorgt. In den fünf Jahren vor Tschernobyl wurden hier insgesamt drei Mißgeburten unter den Ferkeln registriert. Bei den Kälbern gab es überhaupt keine. Aber schon innerhalb des ersten Jahres nach dem Unglück mußte die Geburt von 64 mißgebildeten Tieren registriert werden. 37 Ferkel und 27 Kälber kamen entweder ohne Kopf oder ohne Extremitäten, ohne Augen oder ohne Rippen zur Welt. In den ersten neun Monaten des drauffolgenden Jahres 1988 gab es 76 Mißgeburten: 41 Ferkel und 35 Kälber.
Gleich nach der Katastrophe von Tschernobyl war in Kiew ein Institut zur Erforschung der Strahlenwirkung in der Landwirtschaft gegründet worden. Was sagen die Wissenschaftler dieser Einrichtung zu den Mißgeburten von Petrowski? Der Tierarzt Kudin gibt sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen: „An dem, was auf unserer Kolchose geschehen ist, haben sie kein besonderes Interesse gezeigt. Einige Kadaver der mißgebildeten Monster haben sie sich angesehen und dann erklärt, solche Mißgeburten könnten die verschiedensten Ursachen haben. Nun ich weiß selbst, daß Mißgeburten verschiedene Ursachen haben können. Aber wenn ich mir die Statistik und die Zeitvergleiche der Mißbildungen auf unserer Kolchose ansehe, habe ich doch gar keine andere Möglichkeit, als die Ursachen im Zusammenhang mit Tschernobyl zu sehen.
Und wie sieht die Statistik des Medizinischen Dienstes im Bezirk Naroditschi aus? Bei 35 Prozent der Einwohner wurden zwischen ein und zwei Mikrocurie Cäsium-137 festgestellt, bei mehr als vier Prozent zwischen fünf und zehn Mikrocurie. Mehr als die Hälfte der Kinder in diesem Bezirk weist Schilddrüsenerkrankungen auf, wobei Erkrankungen zweiten und dritten Grades keineswegs selten sind.
Dennoch: Leitende Mitarbeiter des offiziellen Gesundheitsdienstes der Ukraine beteuern immer wieder, es bestehe keinerlei Gefahr für die Bewohner jener Gebiete, die außerhalb der 30-Kilometer-Zone um das Kernkraftwerk liegen. Aber genaue Ergebnisse werden denen, die sich in Kiew untersuchen lassen, nicht mitgeteilt. So kommt es, daß vor allem Frauen erregt fragen: „Wenn keine Gefahr besteht, wie man es uns immer sagt - weshalb wird uns dann von einer Schwangerschaft abgeraten?“
„Das ist doch kein Geheimnis, daß unsere Mediziner in immer größerem Umfang chronische Erkrankungen unter der Bevölkerung feststellen“, meint der Bezirkskomitee-Sekretär Anatoli Melnik. „Und nach chirurgischen Eingriffen werden die Genesungszeiten immer länger. Auch die Zahl der Krebserkrankungen hat sich im Jahresdurchschnitt verdoppelt. Vor allem stellen wir das bei Lippen- und Mundkrebs fest.“ Kategorisch stellt Melnik fest: „Das, was gegenwärtig getan wird, reicht mit Sicherheit nicht aus.“ Nach seiner Meinung müßten alle Straßen, alle Höfe, wie überhaupt alle Flächen, auf denen gearbeitet wird, eine Asphaltdecke erhalten. Bisher sei das nicht einmal zu 25 Prozent geschehen. Viel zu langsam werden die Ortschaften auch auf Gasversorgung umgestellt. Noch herrscht Ofenheizung vor, obwohl die mit vielen Gefahren verbunden ist. Es wird empfohlen, Brennholz vorher abzuwaschen und die Asche keineswegs zum Düngen der Gärten verwenden. (...)
Die lokalen Behörden dürfen auch von sich aus nicht den Urlaub der Dorfbewohner verlängern. Es hat sich herausgestellt, daß sich der Organismus bei einem anderthalb - bis zweimonatigen Aufenthalt außerhalb der verseuchten Gegend sehr gut von den Folgen der Strahlungen zu befreien imstande ist. Doch diese Urlaubsverlängerung scheitert meist an bürokratischen Schwierigkeiten.
Wir reden heute so viel vom Rechtsstaat, aber offensichtlich sieht es in der Wirklichkeit noch längst nicht so aus, wie es sein müßte. Denn dann würden sich die Menschen aus dem Bezirk Naroditschi nicht ständig wie Bittsteller fühlen. Dann könnten sie nämlich fordern, wozu sie zweifellos auch ein Recht hätten, daß der ihnen zugefügte Schaden durch die zuständigen Dienststellen wenigstens dort wiedergutgemacht wird, wo es möglich ist.
Wladimir Kolinko (aus 'Moskau News‘ 4/89)
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