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Zwangsopfer

 ■ S T A N D B I L D

(Frauen, die nicht vergessen - Zeiten freiwilligen Zwangs, ARD, Mittwoch, 15.30 Uhr) Cäcilie Müller war 14 Jahre alt, als sie bei Siemens eine Lehre als Stenotypistin anfing. Im März 1945, als sich die Chefetagen bei Siemens schon verdächtig leerten, wurden die Siemensianer dazu abkomandiert, Maschinen und Transportwege zu demontieren oder zu zerstören - sie war die einzige „Schreibmaus“. Wenig später waren die Russen da. Frau Müller steht in der SFB -Reihe der Frauen, die nicht vergessen wollen. Schmerzvolles Erinnern soll gezeigt werden. Und tatsächlich, selten habe ich eine öffentlich-rechtliche Kamera derart in den emotionalen Eingeweiden eines Menschen wühlen sehen. „Der russische Adjudant raunte wie ein Kater: Fraauuu.“ Bei der Schilderung ihrer Vergewaltigung - „Einer hielt mich immer fest, während die anderen über mich herfielen“ bricht Cäcilie Müller in Tränen aus. Hilflos heult die alte Frau in die Kamera: stammelt Erinnerungsfetzen und braucht eigentlich nur eines: ein Taschentuch und jemanden, der sie tröstet. Minutenlang taxiert die Kamera die halb-blinde Frau. Ein Film von Frauen über Frauen.

Was will uns Sophie Kontanyi, Autorin des Films sagen? Daß die Russen viele Frauen vergewaltigt haben - oder wie furchtbar es ist, vergewaltigt zu werden? Sie wolle deutsche Geschichte erzählen. Statt dessen erzählt sie Geschichten. Über Frau Müller, den Kriegsverbrecher-Konzern, jüdische Zwangsarbeiter, christliche Antifaschisten etc. Die Themen werden ebenso hartnäckig gestreift, wie die Fassade von Siemens in Berlin. Dazu Stimmen aus dem Off: Zwei jüdische Frauen berichten über ihre Zwangsarbeit. Im Gegensatz zu der „Verlagerungswerkstatt“ in Ravensbrück sei die „Judenabteilung“ im Hauptgebäude in Berlin ein exklusiver Salon gewesen. In Ravensbrück wurden Drahtröllchen hergestellt. Sie hatten zwei Versuche. Wem der Draht brach, wurde beseitigt. Als sich Hannah Sohst nach dem Krieg ihre zweijährige Zwangsarbeit schriftlich bestätigen lassen wollte, bekam sie die lapidare Antwort: „Wir haben keine Zwangsarbeiter beschäftigt.“

Laut den Recherchen von Sophie Kontanyi „beschäftigte“ siemens 40.000 Zwangsarbeiter. Warum hat man hier nicht nachgehakt, das Innenleben des Konzerns entblößt, statt, das von Frau Müller? Warum können Frauen nicht mal aus der „Frauenreihe“ tanzen? Haben die Frauen des SFB sowenig journalistischen Impetus, oder durfte man dem Industrie -Giganten nicht auf die Füße treten? Statt dessen läuft Frau Müller vor dem Siemensgebäude auf und ab. Unter der Sache mit den jüdischen Zwangsarbeitern konnte sich nichts vorstellen, „wir kamen da ja nicht hin“. Frau Müller war immerhin schon 18 Jahre alt, als sie sich bereit erklärte, Führers kostbare Industrie vor dem Russen zu retten. Nein. Frau Müller ist ja schließlich auch ein Opfer. Die Vergewaltigung hat sie nie verkraftet.

Nach dem Krieg hat sie bei Siemens kündigen müssen, weil ihr Rücken kaputt war und sich fortan mit Bügeln ihren Lebensunterhalt verdient. Um die Rücken der Zwansarbeiterinnen sollte es in der Frauenreihe über deutsche Frauenschicksale ja auch gar nicht gehen. Genauso wenig wie um den Konzern, der die kaputten Rücken auf dem Gewissen hat. Nicht zuletzt offenbaren die hilflose Kameraführung und konfuse Dramaturgie das Unvermögen der SFB -Frauen, einzusehen, daß die vielen Frau Müllers gleichzeitig Opfer und Täter dieser Zeit waren. Bedenkt man, mit welchem Einfühlungsvermögen und kluger Diskretion Lauretta Walz mit diesem Thema umgeht, fragt man sich, ob diese Filmemacherin den Programm-Frauen zu eindeutig, oder ihr der SFB zu halbseiden ist.

Bettina Bausmann

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