Nepal wirtschaftlich von Indien eingesperrt

Bedrohliche Engpässe / Nur noch die indische Botschaft hat zu essen / Totale Abhängigkeit vom Nachbarn im Süden / Neu Delhi verärgert über Nepals Waffenkäufe in China / Studenten und Bevölkerung machen in Kathmandu zusätzlichen Druck  ■  Aus Kathmandu Rolf Schmelzer

Sharmila Hara kennt nicht die komplexen Zusammenhänge und Hintergründe der Blockade. Aber sie weiß, daß sie sterben wird, wenn sie nicht bald das für sie lebenserhaltende Medikament „Dianil“ bekommt. Den ganzen Tag ist sie in den staubigen Straßen der alten Königsstadt Kathmandu von Apotheker zu Apotheker gelaufen. Ohne Erfolg. „Come again tomorrow!“, ist auch heute die immergleiche Antwort - seit nun schon über 30 Tagen.

In der fünften Woche des Wirtschaftsboykotts durch den großen Nachbarn im Süden steht die Wirtschaft des abgeschiedenen Himalaja-Königreichs Nepal vor dem Kollaps. Verärgert gab man sich nämlich in Neu Delhi darüber, daß die Nepali ihren Waffenbestand von sechs zerlegbaren 75 -Millimeter-Haubitzen, 18 verstaubte 120-Millimeter-Mörser, zwei Flugabwehr-Kanonen, vier Flugzeuge und ein halbes Dutzend „Chatak III“ und „Puma„-Helikopter durch Waffenkäufe beim indischen Rivalen China aufgemöbelt hatte. Der Waffendeal hatte einen Wert von umgerechnet rund 3,5 Millionen Mark und bestand aus AK-47-Sturmgewehren, Raketen und Luftabwehrkanonen. Die regionale Supermacht war dadurch zwar nicht bedroht - jedoch brüskiert. Das Königreich hatte versucht, sich aus der Bevormundung durch Indien zu lösen. Wie sich nun zeigt, ist schon der Versuch strafbar. Die katastrophalen Folgen der Wirtschaftsblockade ließen nicht lange auf sich warten, da Nepal fast die Hälfte seines gesamten Handels mit Indien betreibt. Kerosin, der wichtigste Stoff im inzwischen holzarmen Land und ausschließlich aus Indien importiert, wurde rationiert und nur noch auf Gutschein ausgegeben: zwei Liter pro Woche pro Haushalt. Mit Kerosin erwärmt der Durchschnitts-Nepali sein tägliches Linsen-Gemüsegericht. Lediglich ein Konvoi von sechs Lastwagen durfte bislang die indisch-nepalische Grenze passieren. Sein Ziel: die indische Botschaft in Kathmandu.

Das Stadtbild ist seitdem geprägt von kilometerlangen Schlangen geduldig Wartender, neben den Füßen stehen die leeren Blecheimer und Plastikflaschen für Kerosin.

120 von 150 Kleiderfabriken im ausgedehnten Kathmandu-Tal mußten wegen anhaltender Versorgungsengpässe die NäherInnen nach Hause schicken. Im First-Class-Hotel „Sheraton Everest“ stehen dem von der Mountain-Bike-Tour geschwächten Touristen und Trekker lediglich zwei bescheidene Menues zur Auswahl. Gewöhnlich gibt es 36. „Coca Cola“ hat schon lange die Mix und Abfüllstation dichtgemacht. Internationale Fluggesellschaften wie „Lufthansa“, „Thai International“ oder „Singapore Airlines“ müssen genügend Kerosin für den Rückflug schon bei der Landung an Bord ihrer Fluggeräte haben. Auf dem internationalen „Tribhuvan-Airport“ bekommen sie keinen Tropfen. Nicht einmal ein Taxi bekommt der soeben Gelandete. Treibstoff ist Mangelware. Lastwagen dürfen, von Indien kommend, nur mit leerem Tank nach Nepal einfahren. Im Hafen von Kalkutta liegen Frachter mit lebensnotwendigen Waren für Nepal. Sie kommen aus Thailand und Singapur. Ihre Ladung indes wird nicht gelöscht, weil gerade die Hafenarbeiter streiken. Zufall?

Die Abhängigkeit Nepals (18 Millionen Einwohner) von Indien (820 Millionen Einwohner) ist total. Seit die Inder die Lebensadern des kleinen Partners in der „South Asian Association of Regional Cooperation“ (SAARC) gekappt haben, läuft im Reich des Königs Birendra nichts mehr. Auf dem ersten Gipfeltreffen der SAARC am 7. und 8. Dezember 1985 vereinbarten die Mitgliedsstaaten Bangladesch, Nepal, Indien, Bhutan, Sri Lanka, Pakistan und die Malediven eine „Charta der regionalen Kooperation“.

Die gegenwärtige Wirtschaftsblockade eines Mitgliedsstaates entspricht weder Buchstaben noch Geist dieser Charta. Und: Die Sorgen der Mitglieder Bangladesch und Bhutan - wie Nepal Gefangene der Geographie - wachsen: Indische Truppen sind in zwei Mitgliedsstaaten der SAARC, Sri Lanka und den Malediven, stationiert. Während die blitzartige und professionelle Militäroperation auf den Malediven im vergangenen November von der Welt nahezu gar nicht registriert wurde, tat man dies unter den Nachbarn Indiens um so mehr.

Zusätzlicher Druck auf die Regierung kommt dabei von unten. Blutige Unruhen und Studenten-Proteste erschüttern seit Anfang des Monats die einzige Hindu-Monarchie. Dabei richten sich die Proteste unter anderem auch gegen die Bevormundung des Landes durch Indien, gegen die Schließung der Handelswege. „Wir wollen Unabhängigkeit und Demokratie!“ Auf diese knappe Formel bringt es Shekhar, der junge Zeitungsverkäufer im Touristenviertel Themal in Kathmandu. „Unabhängigkeit von Indien und Demokratie in Nepal“, ergänzt er. Und er sagt es einem deutschen Touristen, der sich bei ihm nach dem Grund für die plötzliche und ungewohnte Polizei -Präsenz vor seinem Hotel und in den Straßen erkundigt. In Zehnergruppen patrouillieren dort seit Montag, dem 3. April, auf Lastwagen und zu Fuß, paramilitärische Einheiten des insgesamt 15.000 Kräfte zählenden Polizeipotentials.

Tausende von Studenten gingen am Nachmittag des 3. April auf die Straßen Kathmandus - ihre Universitäten hatte König Birendra schließen lassen - und protestierten wütend. Dabei sollen acht Menschen, darunter ein Schweizer, ums Leben gekommen sein. Die Regierung bestreitet das. Am zweiten Tag der Studentenproteste meldet 'afp‘, daß sechs Polizisten und mehr als ein Dutzend Studenten verletzt worden seien. An diesem 4. April verbietet die Regierung alle öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen. Die Mehrzahl der Studenten wird mit Sonderbussen auf Regierungskosten in ihre weit übers Land verstreuten Städte und Dörfer gekarrt. In einem Land nahezu ohne Straßen und Kommunikationsmittel ist die Spitze des Protestes damit gekappt.

Der ungeduldige Protest richtet sich aber auch gegen die Massen von Touristen. 265.000 kamen im Jahr 1988, um die überwältigenden Kulturdenkmäler von Kathmandu, Bhaktapur und Patan zu bewundern oder um im Himalaja zu trekken. 15.000 kamen 1988 aus der Bundesrepublik.

Der Protest richtet sich aber auch - und das ist ungewöhnlich - gegen das Königshaus. Selbst aus dem gemeinen Volk wurde in Höfen und Straßen, in Tempeln und Gassen, landauf, landab Kritik am König laut, der für die Versorgungskrise mitverantwortlich gemacht wird. Auch das ist für Nepal ungewöhnlich. Noch besitzt König Birendra in der konstitutionellen Hindu-Monarchie absolute Autorität. Zwar gibt es ein Parlament, seit dem 15. Juni 1986 unter der Leitung des Ministerpräsidenten Marich Man Singh Shresta, dieses Parlament hat jedoch lediglich die Funktion eines Diskussionsforums. Politische Parteien sind verboten. Die jetzige Regierung, die Sekretäre des Königs und der König selbst, der als viertreichster Mann dieser Welt gehandelt wird, gelten allesamt als hoffnungslos korrupt.

In den Zeitungen, die der junge Shekhar in Themal feilbietet, steht davon nichts. Radio Nepal untersteht der Regierung und schweigt zu den Protesten. Die wichtigsten Oppositionsparteien des Landes, die „Nepal Congress Party“ und die „Communist Party of Nepal“ - beide wie alle übrigen seit Dezember 1960 verboten - begannen im Mai 1985 eine Kampagne zivilen Ungehorsams mit dem Ziel der Wiederherstellung demokratischer Rechte und der Wiederzulasung politischer Parteien. Ende 1987 erhob die Gefangenenhilfsorganisation „amnesty international“ schwere Vorwürfe gegen die Regierung Nepals. Journalisten, Gewerkschafter und Studenten würden inhaftiert und gefoltert, eine große Anzahl von Personen sei verschwunden.

Verschwunden sind die Touristen noch nicht aus den historischen Königsstädten und den Hotels. Es ist noch Hauptsaison im Himalaja. Die Vorräte - auch der großen Hotels - neigen sich jedoch dem Ende zu. Was in zwei Wochen sein wird, wie der inzwischen ausgerufene Generalstreik auf die Wirtschaft wirkt, ob der König über den Streit mit Indien stürzt, wagt hier zur Zeit kein Journalist, kein Diplomat vorherzusagen.