Leuchtfeuer des Kommunismus: Im Prinzip ist Albanien nach wie vor ein verschlossenes Land, aber ausländischen Touristen gegenüber gibt man sich dennoch immer gelassener

Christine Tsolodimos LEUCHTFEUER DES KOMMUNISMUS

Im Prinzip ist Albanien nach wie vor ein verschlossenes Land, aber ausländischen Touristen gegenüber gibt man sich dennoch immer gelassener.

Etwas ist anders an diesem Fußballspiel der ersten Liga. Nicht der Regen, der schon während der ersten Halbzeit aus dem Spielfeld eine Moorlandschaft macht, von der Kicker, Schiedsrichter und der Ball sich kaum noch abheben. Auch nicht das Ergebnis 5:0; so ist das eben, wenn der Tabellenerste gegen den Letzten spielt. Nein, es sind die Fans. Erst nach dem dritten Treffer kommen sie in Fahrt, klatschen rhythmisch zwei kurz, drei lang. Keine bunten Schals, keine quäkenden Hupen, Partizani-Stadion in der albanischen Hauptstadt Tirana, an einem Sonntag im Dezember.

Um diese Zeit kommt kein Ausländer zum Vergnügen nach Albanien. Natürlich wird es nicht so kalt wie etwa in der Bundesrepublik. Aber man friert mehr, weil die Häuser schlechter isoliert sind und das Heizöl knapper ist. Im Hotel „Tirana“, dem zweitvornehmsten der Hauptstadt, wohnen außer mir fast nur Albaner.

Immerhin, ein Team des kanadischen Fernsehens ist da, ein französischer Techniker und ein Italiener in den Siebzigern samt Kindern und Enkeln. Er hat im zweiten Weltkrieg mit den Albanern gegen die Deutschen gekämpft und ist „Gast des albanischen Volkes“. Ausländische Diplomaten und Manager residieren im Hotel „Dajti“, einem wuchtigen Bau aus der Mussolini-Ära. Albanien war von 1939 bis 1943 von den Italienern besetzt - Tirana sieht man das heute noch an.

Die Touristen - Kommunisten auf der Suche nach der reinen Lehre, Bildungsreisende oder auch Leute, die „einfach neugierig“ sind - ziehen die Monate Mai bis September vor. Erlaubt sind nur Gruppenreisen, trotzdem kommen jedes jahr um die 15.000 Personen, viele davon nicht zum ersten Mal. Eine bis drei Wochen dauern die Trips, viel zu kurz, um „Das letzte Geheimnis Europas“ - so heißt ein Albanien-Buch - zu entschlüsseln. Die meisten versuchen es mit Fragen: „Gibt es in Albanien auch Fernsehgeräte / Kindergärten / die Gleichberechtigung der Frau / Theater und Kino / Urlaub?“ Antwort: „Ja.“ Ist Albanien also ein Land wie die, die wir schon kennen - Italien, Griechenland, Jugoslawien? Antwort: „Nein.“ * * *

Viele Wege führen nach Albanien: Aus der Luft mit der Deutschen Lufthansa, der griechischen Olympic Airways oder einer anderen der insgesamt sieben Gesellschaften, die Tirana anfliegen. Per Autobus einmal über Nordgriechenland und zweimal über Jugoslawien.

Albanien ist der letzte stalinistische Staat der Erde, in Albanien ist Beten verboten, in Albanien gibt es keine Privatautos. Stimmt das alles? Im Prinzip ja: Überall im Land stehen Stalin-Standbilder herum; 1968 wurden sämtliche Religionen „abgeschafft„; Autos sind Ministern und Fabrikdirektoren vorbehalten, für die Mehrzahl der Genossen gibt es Linienbusse, Fahrräder und neuerdings Motorroller, auf die Gewitzte ein Blechdach montieren. * * *

Shkodra im Norden, ein Kindergarten: Vor der Tür steht ein Reisebus, durch die offenen Fenster dringen Gesang und das Klicken von Kameraverschlüssen. Da fährt ein zweiter Bus mit Touristen vor. Ein paar bleiben unentschlossen stehen, die anderen stiefeln hinein. In der Tür zum ersten Klassenzimmer stehen drei breite Rücken, drinnen piepst ein Stimmchen ein Gedicht. Auf der Treppe kollidieren zwei Fototaschen samt ihren Besitzern; die Schnellsten von Gruppe eins sind nämlich gleich nach oben gestürmt.

Die Kindergärtnerin im ersten Stock lächelt tapfer, als Gruppe zwei sich mit schußbereiten Kameras zur Tür hineinschiebt, und ruft einen Fünfjährigen auf. Er stapft zur Mitte, streicht seinen strahlendweißen Kittel glatt, reckt sich und schmettert ein Liedchen. Seine Altersgenossen scharren solange mit den Füßen, fassen mit der rechten Hand ans linke Ohr und drehen den Saum ihrer Kittel zu kleinen Röllchen. Die weiblichen Mitglieder von Reisegruppe zwei streicheln Köpfe und verteilen Bonbons.

So etwas passiert, wenn die staatliche Fremdenverkehrs -Organisation „Albturist“ mal wieder die Termine durcheinandergebracht hat. Andererseits kann es vorkommen, daß eine neunköpfige Gruppe einen 40sitzigen Bus und gleich zwei Fremdenführer zur Verfügung gestellt bekommt. Keine Albanien-Reise ohne „Albturist“: Bei „Albturist“ müssen fast alle Gruppen ihren Bus mieten, „Albturist“ bucht die Hotels, „Albturist“ entscheidet über das vom Reiseführer vorgelegte Programm und behält sich Änderungen in letzter Minute vor. Albanien-Interessierten bleibt nichts anderes übrig als diese Institution so zu nehmen, wie sie ist.

Ein Reiseland soll Albanien nicht werden; besonders den ungeliebten Nachbarn Jugoslawien nennen albanische Offizielle gern als Beispiel dafür, was der Tourismus in einem Land anrichten kann. Deshalb bleibt es vorerst bei den 18 Hotels, in denen Ausländer wohnen dürfen. Als Qualifikation für den begehrten Job als Fremdenführer reicht es, in der Sprache der Gäste über Politik, Wirtschaft, Geschichte und Kultur Albaniens referieren zu können. Ist die Gruppe abgereist, kehrt der Begleiter an seinen eigentlichen Arbeitsplatz zurück - in die Fabrik, in die Schule, auf das Ausgrabungsfeld. * * *

Grüne, sanft gewellte Hügel, soweit das Auge reicht, mittendrin eine alte Kirche - die Bleimoschee von Shkodra; ein verträumtes Städtchen an einem klaren, dunkelblauen See

-Pogradec; Orangenhaine bis hinunter ans Meer - bei Ksamil

-dazu der Blick auf die griechische Insel Korfu; die weißen Häuser von Berat in der Mittagssonne, vor den Türen alte Frauen, häkelnd oder strickend, in den Gassen spielen die Enkel Ball - all das bekommen die Reisegruppen zu sehen, außerdem Fabriken, landwirtschaftliche Kooperativen, Schulen.

Und Museen natürlich - es gibt viele in Albanien. Etwa das neue Hoxha-Museum in Tirana, errichtet zum 80.Geburtstag von Enver Hoxha, des ersten Staatschefs der Sozialistischen Volksrepublik. Fast vier Jahrzehnte, von 1946 bis zu seinem Tod 1985, war er im Amt. Der neue erste Mann heißt Ramiz Alia, aber Enver Hoxha ist immer noch allgegenwärtig.

„Sein“ Museum, das modernste und wohl auch teuerste Gebäude, das ich in Albanien gesehen habe, enthält nur Gegenstände, die unmittelbar mit Enver Hoxha zu tun haben; da sind seine über 60 Bücher, seine Notizblöcke, sein Füllfederhalter, sein schwarzer Anzug für festliche Anlässe, Videofilme, die ihn mit ausländischen Kollegen oder im Kreis seiner Familie zeigen - 2.000 Menschen, so berichtet eine Führerin stolz, defilieren Tag für Tag an den Reliquien vorbei - Schulklassen aus dem ganzen Land, alte Leute, Liebespärchen, Betriebsausflügler. Interessiert beugen sie sich über die Vitrinen, bleiben vor den Monitoren stehen die vereinzelten Ausländer sind meist schneller fertig mit ihrem Rundgang. * * *

Natürlich bekommen ausländische Besucher in Albanien nicht alles gezeigt, und natürlich gibt es Dinge, die sie am besten taktvoll übersehen. Zum Beispiel die rotznasigen Kinder in der Industriestadt Elbasan und anderswo, die wie ein Wespenschwarm aus winkligen Gassen kommen: „You give me watch!“ oder „Gum, gum! Tsichla! Stylo!“ Die Rotznasen quengeln unermüdlich und in verschiedenen Sprachen - bis das Opfer beginnt, Kaugummis (gum, tsichla) oder Kugelschreiber (stylo) zu verteilen. Leider wird der Wespenschwarm explosionsartig größer, sobald die erste Wespe das Verlangte in der Hand hält. Als rettender Engel erscheint meist ein erwachsener Albaner. Kaum hat er sein Machtwort gesprochen, stieben die Rotznasen in alle Himmelsrichtungen davon. * * *

Wie halten es die Albaner mit dem Sozialismus? Jedenfalls anders als die Sowjetunion, anders als in China, anders als Jugoslawien. Wie genau, darüber gibt es Dutzende dicker Bücher. Fest steht, daß der albanische Weg zum Sozialismus viel Arbeit macht: 48 Stunden pro Woche, verteilt auf sechs Werktage. Die Fabriken produzieren ununterbrochen in drei Schichten rund um die Uhr. Schüler und Studenten helfen in den Sommerferien bei der Ernte, legen Sümpfe trocken oder schleppen Eisenbahnschwellen. Was anderswo KP heißt, nennt sich in Albanien PAA - Partei der Arbeit Albaniens. Nur etwa zwei von hundert Albanern sind Mitglieder - der Weg zum Parteibuch dauert Jahre und ist mit Arbeit gepflastert. * * *

Mitten auf dem größten Platz von Tirana steht eine Bronzestatue: Ein Reiter mit Helm, Kettenhemd und buschigem Bart, den Blick entschlossen in die Ferne gerichtet. Das ist Gjergj Kastriota Skanderbeg, albanischer Nationalheld. Nach ihm ist der Skanderbeg-Platz benannt, und erst seit 1988 muß er ihn sich mit Enver Hoxha - in wehendem Mantel und auch aus Bronze - teilen. Im 15.Jahrhundert hat Skanderbeg sein Land 25 Jahre lang gegen die Türken verteidigt. Dann kamen sie doch und blieben gleich bis 1912. Unabhängig ist Albanien offiziell seit 1919.

Daß sie jetzt einen eigenen Staat hatten, werden die meisten Albaner gar nicht mitbekommen haben. Neun von zehn waren Analphabeten und schufteten für Hungerlöhne im Dienst der wenigen Großgrundbesitzer, die das Land unter sich aufgeteilt hatten, Ärzte gab es nur für die Privilegierten; die Lebenserwartung lag vor dem zweiten Weltkrieg im Schnitt bei 38 Jahren.

In den 43 Jahren seit Gründung der Volksrepublik haben die Albaner viel geschafft: Sie leben so lange wie die anderen Europäer, sie haben genug zu essen, und von dem, was sie produzieren, bleibt sogar für den Export noch etwas übrig: Elektrischer Strom, Chromerz, Kupferdraht, Stoffe, Obst und Gemüse. Das Land, so groß wie Baden-Württemberg, leistet sich in jeder Stadt mindestens ein Theaterensemble, läßt im Jahr 14 Spielfilme drehen, finanziert Sinfonieorchester, unterhält Folkloregruppen und spendiert jungen Künstlern Arbeitsstipendien. * * *

Wer nicht gerade auf dem rechten oder linken Auge blind ist, hat auf der Reise durch Albanien immer jeweils zwei aufeinanderfolgende Gedanken im Kopf. Der eine fängt mit „ja...“ an, der andere mit „aber...“. Ja, in der Landwirtschaft ist vieles von vorgestern: Wie die Frauen auf den Feldern arbeiten, eine neben der anderen, tiefgebückt, furchenziehend. Die Karren auf den Landstraßen mit einem Esel oder einem Büffel davor. Wie mit Sensen das Heu gemäht wird - Maschinen sind noch nicht genug da.

Aber: Die Landarbeiter sind Staatsangestellte, haben einen Tag in der Woche frei und die zwei Wochen Jahresurlaub, die jedem zustehen. Sie arbeiten lange, aber nicht hektisch. Für ein Schwätzchen zwischendurch ist immer Zeit.

Ja, malerische Altstädte müssen Betonkästen Platz machen, die aussehen wie aus der Hamburger Trabantenstadt Steilshoop oder dem Märkischen Viertel in Berlin geklaut - viele sind nicht einmal verputzt. Aber: Wohnungen werden gebraucht, weil nirgendwo in Europa so viele Kinder geboren werden wie in Albanien - das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt bei 26 Jahren. Und ein paar Altstädte sind nicht nur stehengeblieben, sondern werden sogar liebevoll restauriert

-in Berat, in Kurja, in Gjirokaster.

Ja, Albanien ist nach wie vor ein „verschlossenes“ Land. Aber: Das wird langsam anders, auch wenn „Öffnung“ noch ein Reizwort ist. Jedenfalls hat das Land heute zu über 100 Staaten diplomatische Beziehungen; dazu gehört seit anderthalb Jahren auch die Bundesrepublik. Wer häufiger kommt, sieht, wie das Land sich verändert: Die Leuchtschrift an der Fassade des Hotels von Berat - mal zeigt sie die Uhrzeit an und mal die Temperatur - war beim letzten Mal noch nicht da, die fast neuen Autobusse in Tirana auch noch nicht - manchmal steht „sortie“ an der Tür oder „Einstieg nur mit Fahrausweis“. Es gibt Teenager in Albanien, die anderswo in Europa nicht auffallen, und die geschminkten Frauen werden mehr.

Ausländern gegenüber gibt sich Albanien immer gelassener. Der Kontrolleur, der an der Grenze langhaarigen Männern mit Bart einen Rundumschnitt nebst Rasur verpassen ließ und Frauen im kniekurzen Rock zum Umziehen schickte, ist längst abgeschafft. „Religiöse Propaganda“ wie die Bibel und „Pornographie“ wie den 'Stern‘ darf man zwar immer noch nicht mit nach Albanien nehmen, aber Koffer und Taschen werden nur noch flüchtig untersucht. Und wer bereit ist, sich von ein paar Seiten zu trennen, darf seine Illustrierte wieder einstecken. Sollte er auch - nach einem Kiosk mit „Internationaler Presse“ sucht der Tourist in Albanien vergeblich. * * *

Abgesehen davon wird alles getan, damit Ausländer sich wohlfühlen in Albanien. Einheimische Reisebegleiter und Fremdenführer begrüßen sie überall - an der Grenze, in Museen, bei Rundgängen durch Fabriken - als „Freunde Albaniens“, im Restaurant bedient der Kellner sie zuerst, und die Warteschlange am Postschalter läßt den Fremden vorgehen, auch wenn er das gar nicht will. In Albanien ist der Tag um zehn zu Ende, kein Lokal hat mehr offen, kein Kino zeigt mehr einen Film. Den Gästen zuliebe wird eine Ausnahme gemacht: In den Hotels gibt es nach dem Abendessen Live-Musik, gespielt von Amateuren, für die der Auftritt ein Freizeitspaß ist.

Kaum haben die ersten Touristen die „Bar“ betreten, geht es los: Mit „Oh, Champs Elysees“ für die Franzosen, mit Syrtaki für die Griechen, mit ein bißchen was von allem für die Deutschen, und, auf besonderen Wunsch, mit albanischen Volksliedern. Es lohnt sich, diesen Wunsch einmal zu äußern. Ich bin allerdings nur ein paarmal in die Bars gegangen außer Begleitern, Kellnern und natürlich den Musikern sind dort nämlich keine Albaner zu sehen.

Ankunft auf dem Athener Flughafen nach einer Woche Albanien, Fahrt mit dem Taxi in die Innenstadt. Auf sechs Spuren drängeln sich mehr Autos, als es in ganz Tirana gibt. Der Fahrer ereifert sich über Skandale und Katastrophen, kaum zu glauben, was in nur sieben Tagen auf dem Globus passiert ist. Irgendwann fällt dem Mann auf, daß ich nicht mitreden kann: „Sag mal, wo warst du eigentlich?“ „In Tirana“, sage ich. „Ach so“, sagt der Taxifahrer. „Das ist natürlich etwas anderes.“