Trocken Brot und elendes Spiel

■ Die „Ruhroper“ von Max von der Grün und Günther Wiesemann in Dortmund

Die Trommeln wurden gerührt. Die Werbetrommeln. Der Komponist Günther Wiesemann aus Hattingen, von der Stadt Dortmund mit einer Operkomposition beauftragt, hatte zuvor etwas Kammermusik produziert und Texte von guter Gesinnung, aber mäßiger poetischer Qualität vertont; vor allem aber hatte er 1986 eine „Ruhrstadtsymphonie“ geschrieben und mit diesem Werk eingestimmt in den Propagandarummel jener regionalen Wirtschaftskreise, die einen Zusammenschluß der Städte von Dortmund bis Duisburg zu einer gigantischen und investitionsträchtigen „Ruhrstadt“ anstrebten. Vergeblich: eine totgeborene Idee. „Superhausen“ kommt im Land an Ruhr und Emscher auf ganz andere Weise (die taz berichtete). Für die „Ruhroper“ in Dortmund wurde nun auch wieder seit Monaten geworben: Hans Werner Henze wußte schon Anfang März, daß „die deutsche Musikwelt der Premiere von Günther Wiesemanns Theaterwerk Brot und Spiele mit großem Interesse entgegensieht“. Vorabberichte wurden im ganzen Land geordert; der Komponist verfolgte mich deshalb bis ins Schlafzimmer.

Und dann kam das Kulturereignis. Der Idee nach knüpft es an ein gescheitertes Projekt der zwanziger Jahre an: 1927 sollten Kurt Weill, Bertolt Brecht und ein Filmregisseur ein einmaliges und unverwechselbares „Ruhrepos“ schaffen, in Essen ein ästhetisch avantgardistisches und politisch links außen postiertes Signal setzen. Eine konzertierte Aktion staatstragender Kräfte brachte das Unternehmen aber bald zu Fall. Doch es geisterte weiter durch irgendwelche regionalen Köpfe und nahm jetzt, in sehr zurückgenommener Form, mit einem Libretto des Arbeiterschriftstellers Max von der Grün neue Gestalt an.

Sechzig Jahre liegen zwischen der ursprünglichen Idee und ihrer allseits reduzierten Verwirklichung: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Wirtschaftswunder, Niedergang des Kohlebergbaus und der Stahlschmieden, Anbruch des Medienzeitalters, Auflösung der Arbeiterklasse mitsamt ihren traditionellen Vereinsformen.

„Wir verkümmern“, sagt der arbeitslose junge Stukkateur Kurt Eving, der Held der Grünschen Geschichte: „Mutter, du warst stolz auf mich, denn ich habe die Prüfungen abgelegt, in Theorie mit zwei, in Praxis mit eins. Hast du dich schon einmal gefragt, Mutter, was das für eine Gesellschaft ist, die ihre jungen Leute auf die Halde wirft? Und du, Vater?“ Wahrscheinlich pflegen die jungen Arbeitslosen im Pott wirklich solcherart Diskurse - Max von der Grün muß es wissen, denn er wohnt ja mittendrin und hat sich die realistische Schilderung dieses Milieus zur Lebensaufgabe gemacht. Da taucht ein Arbeitsvermittler auf, der den guten Jungen Kurt in den Süden abwerben will - zum Panzerbau, versteht sich. Aber der klassenbewußte Held weiß, wie er sich verhalten muß: „Nein, danke. Ihre Freiheit ist nicht meine Freiheit.“ Und als der Multi-Unternehmer August Stein die stillgelegte Zeche aufkauft, in der Adam Eving dreißig Jahre lang malocht hat, um in deren pittoresker Kulisse eine Film- und Medienstadt einzurichten, da weiß er gleich Bescheid: „Sie schlagen aus dem Elend anderer Profit. Sie sind ein Spekulant.“ Der Chor fällt ein: „Er schafft Arbeitsplätze - Spekulant. Er schafft Kunst - Spekulant.“

Und so geht es weiter, eingerahmt von einer keuschen Liebesgeschichte: Vater Eving verunglückt am „Tag der offenen Tür“. Der Unfall treibt Kurt und alle anderen guten Menschen zum Streik und zur Besetzung von Filmstadt. Doch die Dortmunder Polizei wird der Rebellion rasch Herr. Das Opernhaus dankt den uniformierten Kollegen „für die freundliche Unterstützung“ - sie sind echt, diese Prügelknaben, die sogar ihre schweren Motorräder mit auf die Opernbühne bringen dürfen, aber noch nicht einmal zuschlagen müssen. Gudrun aber schlägt sich endgültig auf die Seite von Kurt - längst haben wir sie auch als aufmüpfige Tochter von Unternehmer Stein kennengelernt, dessen Herz tatsächlich aus Stein zu sein scheint. Dann aber versagt: damit wenigstens ein wenig so etwas wie Gerechtigkeit walte. Der Vorhang senkt sich. Darauf sind - etwas unbeholfen - die beiden Liebenden gemalt - und die Sprechblase: „Welch ein Land!“

Welch ein Stück! So gut wie alles daneben: das Pathos der Sprache und die Betulichkeit der Liebesgeschichte; der Schematismus des Konflikts, der neben dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital keine anderen individuellen, sozialen oder politischen Konflikte kennt; das Ausspielen von alten und neuen Industrien (wurden denn aus dem Ruhrstahl nur Kochtöpfe und Pflugscharen geschmiedet? Ist das Film- und Mediengewerbe denn per se des Teufels?). Die gemäßigt moderne Musik, die den Geschmack der Dormunder Arbeiteraristokratie nicht ernsthaft zu provozieren versprach, vermag keine profilierten Figuren zu skizzieren; Karikaturen sind's, wie der steuerabschreibende und besitzgierige Herr Stein, wie die hysterische Fabrikantengattin; oder Parolenträger, wie Kurt, Adam und Klara Eving.

Die Dortmunder Inszenierung und die Bühnenbilder verlängerten die Klischees des Textes ungebrochen. Das trocken Brot der gutgemeinten Statements zum Hauptproblem an der Ruhr wurde zum elenden Spiel: Dahin also sind die Reste von „Klassenbewußtsein“ gekommen - auf das Niveau des ökonomischen Rückzuggefechts, den diffusesten Antikapitalismus und eine von den Geldverhältnissen unberührt bleibende „Menschlichkeit“. Dieses Stück ist kein realistisches Protokoll der Lebensverhältnisse an einem zurückgebliebenen Ort auf dem Weg in die Kultur- und Freizeitgesellschaft - und ein Stolperstein noch weniger: Von derartigem Parolen-Gestelze geht keine Kraft des Einspruchs aus. Es erscheint als eine Pflichtübung aus dem Geist gewerkschaftsfunktionärlicher 1.-Mai-Reden. Schade um die Chance, ein „brisantes Thema zur Oper zu machen“ (so der Werbetext) - vertan. Ein Glück, daß sich Brecht wegen des Grün-Textes nicht im Grab rumdrehen kann - und Weill nicht wegen der Wiesemann-Musik.

Frieder Reininghaus